Freitag, 10. August 2007

Die Dharmablume dreht die Blume des Dharma (Hokke-ten-hokke)


In diesem wichtigen Kapitel (Kap. 17) beschreibt Dôgen sein Verständnis des Lotus-Sûtra und geht aber damit weit über die bekannten Interpretationen hinaus. Das Lotus-Sûtra ist zweifellos eines der wichtigsten und am meisten gelesenen buddhistischen Schriften in Asien. Es ist auf hohem poetischen Niveau und entfaltet nicht zuletzt durch die Gleichnisse, z. B. vom brennenden Haus und verlorenen Sohn, die volle Kraft und Lebensbejahung des Buddhismus. Wörtlich könnte man es mit dem Sûtra der Lotus-Blume des wunderbaren Dharma bezeichnen. Es liegt daher nahe, das Lotus-Sûtra als die Offenbarung für die strahlende wunderbare Welt und das große Universum zu verstehen, in der wir leben.
Aber das Lotus-Sûtra ist auch oft als eine Art Märchenbuch missverstanden worden, das voller übernatürlicher Wunder und orientalischer Fantasien ist und ein naives und wundergläubiges Weltbild vermittelt. Dann wäre es nach Meister Nishijima lediglich ein eingeengtes Weltverständnis aus der Sicht der Ideen, Vorstellungen und Fantasien, würde also nur eine der vier buddhistischen Lebens-Philosophien umfassen. Nach Dôgen würde dann auch der Realismus des praktischen Handelns und vor allem die umfassende buddhistische Lebenspraxis und Lehre fehlen. Dem ist aber nicht so. Es soll noch erwähnt werden, dass Dôgen als ganz junger Mönch in ein buddhistisches Kloster der Tendai-Linie eintrat, die das Lotus-Sûtra als wichtigste Lehre begreift. Er hatte also hervorragende Kenntnisse von diesem Sûtra, war aber mit dem damaligen zu theoretischen Verständnis offensichtlich überhaupt nicht zufrieden.
Was ist nun der Kern dieses großen Werkes, das Dôgen in diesem Kapitel behandelt?
Der japanische Ausdruck ten von Hokke ten hokke bedeutet ´bewegen´ und ´drehen´, so dass das Lotus-Sûtra diese Bewegung, also das Handeln und Geschehen lassen als zentrale Aussage enthält und nicht das unbewegte unveränderliche Sein außerhalb der Zeit, das zumeist die Grundlage der westlichen Philosophie ist. Hô bedeutet „Wirklichkeit“ oder das „Gesetz des Universums“ und ke bedeutet „Blume“. Eine andere Übersetzung könnte wie folgt lauten:

„Die wunderbare Welt ist wie eine Blume und bewegt die wunderbare Welt, die selbst wie eine Blume ist“.

Damit ist auch treffend das buddhistische Weltbild und die buddhistische Lehre von Dôgen selbst gekennzeichnet: Wir leben in einer wunderbaren Welt, die uns immer klarer und schöner wird, je mehr wir im Gleichgewicht sind, und dieses Gleichgewicht ereignet sich in der Zazen-Praxis und im Handeln des täglichen Leben.
Dôgens zentrale Aussage: „Die Dharmablume der wunderbaren Welt dreht die Dharmablume der wunderbaren Welt“ erschließt sich zunächst logisch nicht so ohne weiteres, weil die doppelte Aussage ja eigentlich redundant erscheint. Sie geht also über den einfachen linearen Verstand hinaus und will offensichtlich eine höhere intuitive Wahrheit verbunden mit poetischer Ausstrahlung ansprechen. Dies zieht sich besonders durch dieses ganze Kapitel über die Dharmablume als Symbol der Welt und kennzeichnet darüber hinaus das gesamte Werk Dôgens.
Das Drehen der Dharmablume ereignet sich in der ursprünglichen Praxis des Bodhisattva-Weges und weicht auch nicht nur ganz wenig davon ab. Es ist die den Verstand und Intellekt überschreitende Weisheit der Buddhas und damit fest gegründet, aber nicht vollständig mit dem Denken auszuloten. Es ereignet sich im Samadhi und der Zazen-Praxis, ist schwer zu erfassen und schwer zu erreichen. Die Buddhas zusammen mit den Buddhas halten sich darin auf und existieren so wie die Dharmablume sich dreht. Gleichzeitig offenbaren sich die konkreten Dinge und Phänomene dieser Welt unmittelbar in der wunderbaren Dharmablume, denn sie verliert sich nicht in fantastische Illusionen und wirklichkeitsferne Träume, denn dies endet immer wieder in Enttäuschungen und Negativität. Im Gegensatz dazu enthüllt, offenbart und verwirklicht sich die Dharmablume, und es ereignet sich für den Menschen der Zugang zu ihr in der ganzen Welt und im ganzen Universum.
Dann werden „Objekte“ nicht im herkömmlichen Sinne als außerhalb von uns selbst gesehen und die umfassende Praxis der Dharmablume vollendet sich in ihrer eigenen Bewegung. Im tiefen Vertrauen auf das eine Fahrzeug des Buddhismus erfüllt sich die eine große Sache und sie offenbart sich in der ganzen Schönheit der Wirklichkeit:

"Die Buddhas allein zusammen mit den Buddhas können vollständig verwirklichen, dass alle Dharmas wirklich Form sind".

Mit der Blume des Dharmas existieren die Orte, an denen Buddha lehrte, gibt es den Raum, den großen Ozean und die große Erde und diese sind für die Menschen das eigene Land. Das Drehen der Dharmablume ist das Handeln, das nicht starr, unveränderlich und unbeweglich ist, sondern es ist die lebendige Wirklichkeit und der Schatz des wahren Dharma-Auges.
Dôgen gibt dann die Geschichte des Mönchs Hotatsu wieder, der in ganz jungen Jahren Mönch wurde und sich vollständig dem Lotus-Sûtra widmete. Er prahlte sogar damit, dass er das Lotus-Sûtra auswendig hersagen konnte und mehr als dreitausend Mal rezitiert hätte. Der große Meister Daikan Enô sagte ihm jedoch:

"Auch wenn du das Sûtra zehntausend Mal (rezitiert hast), wirst du nicht einmal in der Lage sein, (deine eigenen und andere) Fehler zu erkennen, wenn du es nicht wirklich verstanden hast."

Daraufhin wurde der Mönch Hotatsu nachdenklich und verunsichert. Meister Daikan Enô schlug dann vor, dass er anfangen solle, den Text auswendig herzusagen bis zu einer Stelle, an dem der Meister ihm die große umfassende Bedeutung des Sûtra erläutern wollte. Dies ist nämlich die umfassende Lehre und Weisheit von Gautama Buddha selbst und sie wird auf verschiedenen Wegen und mit tiefgründigen Gleichnissen angesprochen, aufgedeckt, erklärt, verwirklicht und es wird der Zugang zu ihr geöffnet. Dann sagte er zu dem Mönch:

„Du musst jetzt darauf vertrauen, dass Buddhas Weisheit einfach dein natürlicher Zustand des Geistes ist.“

Dann fuhr er mit folgendem Gedicht fort:

"Wenn der Geist voller Illusionen ist, dreht sich die Blume des Dharma.
Wenn der Geist in der Verwirklichung ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma.
Wenn wir nicht Klarheit über uns selbst haben, wird (das Sûtra) wegen seiner (großen) Bedeutung
(unser) Feind werden, ganz gleich wie häufig wir es rezitieren.
Ohne eine (selbstsüchtige) Absicht ist der Geist wahrhaftig.
Mit einer (selbstsüchtigen) Absicht wird der Geist falsch.
Wenn wir dieses mit und ohne (Absicht sogar) überschreiten, fahren wir ewig mit dem weißen Ochsengespann (der Buddha-Weisheit). "


Meister Daikan Enô erläutert dem Mönch das Wesen des Lotus-Sûtra dann weiter mit folgenden Worten:

„Die meisten Probleme entstehen durch Vorstellungen und Fantasien selbst, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen.“

Wenn man allein den Verstand und Intellekt bis zum Äußersten bemüht und damit immer weiter fortfährt, wird man sich vom wesentlichen Inhalt des Sûtra immer weiter entfernen. Gautama Buddha ließ seiner Zeit bei einer seiner berühmten Lehrreden ebenfalls zu, dass die Zuhörer, die mit seinem Vortrag nicht einverstanden und nicht offen waren, ihren Platz verließen und fortgingen. Es gibt nur das eine buddhistische Fahrzeug in der Gegenwart und dadurch kommt man zurück zur Wirklichkeit. Diese ist keine Vorstellung und kein Begriff, sondern der Schatz der Dharmablume selbst, der dir schon immer gehört. Das Sûtra der Blume des Dharma ist immer da, von Zeitalter zu Zeitalter, vom Morgen bis zum Abend, wir legen es niemals aus der Hand und es gibt überhaupt keine Zeit, in der wir es nicht lesen, denn es ist das Universum selbst.
In der obigen Geschichte hatte der Mönch Hotatsu plötzlich die große Erleuchtung und sprang vor Freude in die Höhe. Er verfasste spontan das folgende Gedicht:

“Dreitausend Rezitationen des Sûtra,
Vergessen durch ein Gespräch mit dem Meister.
Vor der Klärung des Wesens von (Buddhas) Erscheinen in der Welt:
Wie können wir verhindern, dass ein Leben des Unsinns zurückkehrt .
Ursprünglich sind wir Könige im Dharma.“


Mit diesem Gedicht erhielt der Mönch Hotatsu vom Meister die Bestätigung und Dharma-Übertragung und er gab ihm den Namen „Der Sûtra lesende Mönch“.
Nach dieser Begebenheit begann die Blume des Dharma sich immer mehr zu verbreiten, als Blume des Dharma, welche die Blume des Dharmas immer wieder dreht. Bis dahin hatte es diese große Wahrheit nicht gegeben. Es hat keinen Sinn, die anderen Fahrzeuge des Buddhismus immer wieder zu erforschen. Die Gegenwart ist die Wirklichkeit so wie sie ist: die Wahrheit der wirklichen Form, der wirklichen Natur, des wirklichen Körpers, der wirklichen Energie, der wirklichen Ursachen, der wirklichen Wirkungen und damit der sich drehenden Blume des Dharma. Wenn der Geist in Illusionen verstrickt ist, werden wir von der Blume des Dharmas gedreht. Aber ob die Blume des Dharma selbst dreht oder gedreht wird, sie ist das eine Buddha-Fahrzeug und die eine große wesentliche Sache. Wir müssen uns also keine Sorgen machen, dass der Geist voller Illusionen ist, denn das Handeln ist der Bodhisattva-Weg selbst, es ist das Handeln im Augenblick. Wir dienen damit den Buddhas und dies ist die ursprüngliche Praxis des Bodhisattva-Weges. Es ist die unmittelbare Augenblicklichkeit der sich drehenden Blume des Dharma.
Das wichtige Gleichnis des brennenden Hauses im Lotus-Sûtra kann man folgendermaßen zusammenfassen: Obgleich das Haus bereits an mehreren Stellen in Flammen steht, spielen die Kinder drinnen unbekümmert und sind so in ihr Spiel vertieft, dass sie die ihnen drohende Gefahr überhaupt nicht bemerken. Der Vater versucht sie nun zu überreden, aus dem Haus herauszulaufen, um sich vor den Flammen zu retten, aber sie hören überhaupt nicht zu und spielen weiter. Darauf verspricht er ihnen, dass draußen wunderschöne Kutschen mit Gespannen auf sie warten, die viel schöner sind als ihr Spiel im brennenden Haus. Dies überzeugt die Kinder und sie laufen aus dem Haus. Dann erkennen sie plötzlich, in welch großer Gefahr sie gewesen sind. Eine dieser Kutschen ist prächtig geschmückt und wird von friedlichen weißen Ochsen gezogen. Es ist klar, dass mit diesem Gleichnis die Rettung durch die Buddha-Lehre gemeint ist, um auf diese Weise dem brennenden Durcheinander des gewöhnlichen Lebens, der quälenden Ideen und des eigennützigen Materialismus zu entkommen. Diese weiße Kutsche ist aber nichts anderes als die sich drehende Blume des Dharma. Das brennende Haus als Gleichnis des Buddha-Dharma liegt jenseits des beengten Verstandes und jenseits des angesammelten Wissens. Es nützt auch nichts, wenn man das Lotus-Sûtra auswendig lernt aber nicht umfassend verstehen kann.
Was bedeutet nun die Aussage: "Wenn der Geist im Zustand der Wirklichkeit ist, drehen wir selbst die Blume des Dharma"? Dann wird offensichtlich die Energie, die uns selbst bewegt, erkannt und wir verwirklichen das Gesetz der Welt. Diese Verwirklichung bedeutet die Blume des Dharma zu drehen und dabei handeln wir im Alltag. Wenn wir selbst die Blume des Dharma drehen, sollten wir erkennen, dass es diese eine Sein-Zeit ist, in der Buddha lebt. In der Zeit, wenn die Blume des Dharma dreht, gibt es die geistige Verwirklichung als Blume des Dharma, und die Dharmablume existiert als geistige Verwirklichung von uns und der Welt. Dies gilt konkret bei den Dingen und Phänomenen und ideell im Geist, oder wie Dôgen sagt, innerhalb des konkreten Raumes. Das Unmittelbare im Hier und Jetzt und das allgemein Geistige bilden eine untrennbare Einheit und dies ist die Verwirklichung des Drehens der Dharmablume. Wenn wir uns selbst verändern und drehen, entfaltet die Bodhi-Weisheit ihre Kraft und dies ist die reine Welt. Wenn wir für einen guten Freund sorgen, sind wir ihm nahe, so wir er uns nahe ist, und dies ist das Drehen der Blume des Dharma. Dann ist Geist und Materie ohne Begrenzung und frei.
Dôgen stellt am Ende dieses Kapitels fest, dass viele Kommentare und Interpretationen geschrieben wurden, seitdem das Lotus-Sûtra übermittelt wurde. Kein Kommentar habe jedoch das Wesen der drehenden Blume des Dharma wirklich in der vollen Tiefe und in dem Umfang wie der große Meister und ewige Buddha Daikan Enô erfasst . Seitdem wir dies von ihm gehört haben, haben wir die Begegnung des ewigen Buddha mit dem ewigen Buddha erfahren und wir leben im ewigen Buddhaland. Dies ist für uns alle eine große Freude. Die Wirklichkeit ist die drehende Blume des Dharmas, sie existiert so wie sie ist und ist ein Schatz, ist das helle Licht, der Sitz der Wahrheit, die Dharmablume ist groß, weit und ewig. Sie ist auch der Geist mit Illusionen, den die Blume des Dharma dreht, und sie ist der Geist der Verwirklichung, der selbst die Blume des Dharma dreht. Dies alles ist wirklich genau so die Dharmablume, welche die Blume des Dharma dreht.
Dôgen schließt mit folgendem Gedicht:

„Wenn der Geist im Zustand der Illusion ist, dreht sich die Blume des Dharma.
Wenn der Geist im Zustand der Verwirklichung ist, drehen wir (selbst) die Blume des Dharma. Wenn die vollkommene Verwirklichung diesem gleichen kann,
dreht die Dharmablume die Blume des Dharma.“


Die Blume des Dharma offenbart sich selbst also in voller Frische und strahlend im Zustand jenseits des angelernten Wissens und jenseits des eingeengten Verstehens. Wir sollten dies bewahren und fest darauf vertrauen. Die Blume des Dharma ist zu fein, zu wunderbar und zu umfassend für das eingeengte lineare Denken.