Sonntag, 7. Oktober 2007

Die Erweckung des Bodhi-Geistes

Durch den Bodhi-Geist entsteht der klare Entschluss, den anderen zu helfen und sie zu befreien, bevor wir selbst die große Befreiung erlangt haben. Wie hängt nun der Bodhi-Geist mit dem Bodhisattva-Handeln zusammen? Kann man beide trennen und allein auf den Geist setzen? Kann man umgekehrt nach der buddhistischen Lehre „nur so“ handeln, in den Tag hinein leben und den Geist vernachlässigen? Dies kann man in der Tat manchmal von Zen-Buddhisten hören!
Zur Erweckung des Bodhi-Geistes gibt es zwei Kapitel im Shobogenzo, und es wird unter Fachleuten angenommen, dass ein Kapitel die Dharma-Rede für Laien und eine für Mönche war. Da das Zweite umfangreicher ist und vor allem die wichtigen Aussagen zur Augenblicklichkeit des Universums enthält, wollen wir dieses zur Grundlage nehmen. Wir wollen außerdem den Begriff "Bodhi-Geist" verwenden, damit keine Unklarheiten zur Frage aufkommen, was mit dem Begriff „Geist“ gemeint ist, denn dieses Wort ist in der Tat sehr vielschichtig und wird häufig mit Bewusstsein oder Denken verwechselt. Im Bodhi-Geist schwingt mit, dass wir anderen helfen und nach der Wahrheit streben und nicht nur an die eigene Vervollkommnung und Erleuchtung denken und daran arbeiten. Dafür ist es auch wichtig, dass wir uns der Vergänglichkeit unseres Lebens bewusst sind, aber deswegen nicht niedergeschlagen und depressiv werden, sondern im Gegenteil im Gleichgewicht und in der Fülle des Augenblicks leben und handeln.
Daraus wird deutlich, wie wichtig dieses Kapitel "Die Erweckung des Bodhi-Geistes" (Kap. 70 Hotsu Bodaishin) ist. Im Buddhismus gibt es drei Arten des Geistes, der erste wird "der denkende Geist" (Citta) genannt und Dôgen macht deutlich:

"Ohne diesen denkenden Geist ist es unmöglich, den Bodhi-Geist zu erwecken."

Der Bodhi-Geist ist jedoch nicht mit diesem gleichzusetzen, sondern er geht darüber hinaus, denn durch den Bodhi-Geist geloben wir, anderen Menschen zu helfen und sie aus dem Leiden zu befreien. Er hat also eine sehr starke moralische Bedeutung, während dies beim denkenden Geist so nicht zutrifft. Beim Bodhi-Geist ist sogar über das Helfen hinaus maßgeblich, dass wir das eigene Ziel der Erleuchtung zurückstellen, um für die anderen tätig zu sein und zu handeln. In dem Kapitel "Der Bodhisattva des großen Mitgefühls" wird deutlich gemacht, dass ein solches Helfen ein ganz natürlicher und selbstverständlicher Vorgang ist und keinerlei berechnende Absichten enthält. Wer den Bodhi-Geist erweckt hat, ist "bereits Lehrer und Führer aller Lebewesen", selbst wenn er äußerlich eher unauffällig, bescheiden oder sogar ärmlich wirkt. Begriffe und Vorstellungen wie angeboren oder plötzlich entstanden, einer oder viele, künstlich geformt oder natürlich, innerhalb oder außerhalb des Körpers, subjektiv oder objektiv, mit oder ohne Ursache, können das Wesentliche des Bodhi-Geistes nicht treffen. Er ereignet sich auf unerklärbare Weise und hat eine wunderbare, um nicht zu sagen mystische Verbindung zu Gesprächen über die Wahrheit, also vor allem zwischen Meister und Schüler und zwischen Buddhas und den Vorfahren im Dharma. Dôgen sagt dazu:

"Der Bodhi-Geist wird uns nicht von den Buddhas und Bodhisattvas verliehen und er ist jenseits unserer eigenen Fähigkeiten."

Aber es wäre falsch, nicht mehr zu praktizieren, wenn der Bodhi-Geist erweckt worden ist, sondern im Gegenteil, die Praxis und das Bodhisattva-Handeln müssen unbedingt fortgesetzt werden. Dôgen spricht sogar davon, dass unzählige Weltzeitalter lang praktiziert wird, denn es geht darum, anderen Lebewesen zu helfen und die eigene Erleuchtung zurückzustellen oder beim Handeln und der Hilfe für andere zu vergessen. Wenn wir so handeln, sind wir in vollständigem Einklang mit dem Bodhi-Geist und erleben Bodhi mit Freude und Glück.
Beim Handeln gibt es die drei Arten: durch den Körper, durch Reden mit dem Mund und durch den Geist. Durch das Handeln im Bodhi-Geist wird den Lebewesen und Menschen wirklich geholfen, und es handelt sich dabei nicht um vordergründiges und oberflächliches Vergnügen in einer materialistischen Zeit, denn dies lenkt bekanntlich eher von dem Wesentlichen ab.
Dôgen zitiert an dieser Stelle den Bodhisattva Mahakashyapa:

"Den Geist erwecken und das Höchste verwirklichen:diese beiden sind ohne Trennung.Deren erste ist schwieriger (zu verwirklichen):Andere zu befreien, bevor man selbst Befreiung erlangt hat."

Die Erweckung des Bodhi-Geistes ist also der erste Schritt, um den Willen zu erwecken und entschlossen zu handeln, damit andere befreit werden und ihnen geholfen wird, bevor man für sich selbst Befreiung und Erleuchtung erlangt hat. Dôgen nennt dies "die erste Erweckung des Geistes". Damit eröffne sich eine neue Welt und eine neue Lebensphilosophie und man "begegnet zahllosen Buddhas" und ehrt sie. In einer modernen Sprache würden wir sagen, damit ist eine selbstverstärkende Entwicklung in Gang gekommen und der Weg des Helfens und des Bodhisattvas wird nachhaltig und mit sich beschleunigender Kraft beschritten. Damit öffnen sich völlig neue Bereiche für Geist und Handeln, die gut zueinander passen und auf spannendes Neuland führen. Dôgen sagt dazu, wenn ihr

"fortfahrt den Bodhi-Geist zu erwecken, fügt ihr dem Schnee noch den Frost hinzu."

Er meint damit sicher, dass der Schnee nicht wieder schmilzt und damit der Bodhi-Geist wieder verschwinden würde, sondern dass er sich kräftigt und stabilisiert, weil der Frost hinzukommt und dafür sorgt, dass der Schnee erhalten bleibt.
Dôgen stellt dann eine enge Beziehung zwischen der Erweckung des Bodhi-Geistes und dem vollkommenen Erwachen her, das das Höchste ist, weil man dann Buddha wird. Er schätzt es deutlich höher ein, diese große Verwirklichung zu erreichen, als den Bodhi-Geist zu erwecken. Er vergleicht das Erste mit dem großen Feuer am Ende eines Weltzeitalters und das Zweite mit dem Leuchten eines Leuchtkäfers. Aber er fügt hinzu, dass beides letztlich eine Einheit bildet und dass es daher außerordentlich wichtig ist, den Bodhi-Geist zu erwecken. Der Bodhi-Geist soll jedoch zuerst erweckt werden. Er sagt dazu, dass wir ständig daran denken sollten:

"Wie kann ich die Lebewesen dazu bringen, dass sie in die höchste Wahrheit eingehen,einen Körper des Buddha verwirklichen?"

Damit nimmt Dôgen auf das Lotus-Sûtra Bezug, wo in dem Kapitel "Die Lebensdauer des Tatagata" die gleichen Zeilen wiedergegeben werden. Wenn man den Lebewesen helfen will, ist es sehr wichtig, auch bei ihnen genau diesen Bodhi-Geist zu erwecken und damit die anderen dazu zu bewegen, dass sie ebenfalls den klaren Entschluss fassen, andere zu befreien, bevor sie selbst Erleuchtung erlangt haben. Auch hier wird darauf hingewiesen, dass ein egoistischer und berechnender Wille, durch dieses Handeln die Befreiung und Erleuchtung zu erlangen, genau so falsch sei wie bei der Zazenpraxis sich das Ziel zu setzen, ein Buddha zu werden. Gleiches gilt für das Bodhisattva-Handeln, um nur das eigene Karma zu verbessern und sich dadurch spirituelle Vorteile zu beschaffen. Es geht also immer darum, die wachsenden Kräfte und die wachsende Klarheit im Handeln den anderen zuzuwenden und zugute kommen zu lassen und keine egoistischen Ziele zu verfolgen.
Woher dieser Bodhi-Geist eigentlich kommt, kann man nicht mit Sicherheit sagen, denn er kommt nicht von uns selbst und auch nicht von anderen. Aber wenn der Bodhi-Geist erweckt worden ist,

"verwandelt sich die Erde zu Gold; wenn er sie umarmt, und der Ozean wird plötzlich zu süßem Tau, wenn er ihn umrührt."

Dann sind auch einfache Handlungen, z. B. einen Kieselstein aufzuheben, oder Sand zu schaufeln, eine Einheit mit diesem Bodhi-Geist. Genau dies meint Dôgen, wenn er davon spricht, dass sich die Erde zu Gold verwandelt. Demgegenüber sind weltliche Güter wie Ehrungen, Positionen, die eigene großartige materielle Körperlichkeit usw. von untergeordneter Bedeutung. Wenn der Bodhi-Geist erweckt wurde und das Bodhisattva-Handeln begonnen hat, werden sich viele Hilfen wie von selbst dabei einstellen und die Gegenstände und Sachen dieser Welt sowie die Umgebung und die Bedingungen werden in nicht gekannter Weise nützlich und hilfreich sein.
Dôgen geht dann in seiner Dharma-Rede vor den Mönchen auf das wichtige Thema der Augenblicklichkeit und der Sein-Zeit im Hier und Jetzt ein. Er spricht hier vor allem den Zusammenhang an, dass falsches Handeln durch diese Augenblicklichkeit vergehen kann, und dass je der Augenblick neu im Leben da ist und eine große Fülle und Lebendigkeit besitzt. Diese Augenblicklichkeit gilt nicht zuletzt auch für das gesprochene und geschriebene Wort, das helfen soll, bei dem anderen den Bodhi-Geist und den Willen zu erwecken, anderen zu helfen, ohne auf den eigenen Vorteil zu sehen.

Ein solcher Augenblick ist nach der altindischen Lehre außerordentlich kurz. In jedem Augenblick verwandeln sich die fünf Komponenten (Skanda) des Menschen und der Welt. Die Lehre des Augenblicks und dessen Entstehen und Vergehen ist zentraler Bestandteil der Lehre des Buddha-Dharma und dies sei der Schatz des wahren Dharma des Tatagata. Unser Verstand ist nicht in der Lage, einen so kurzen Augenblick mit all seinen Verzweigungen, Zusammenhängen und Tatsachen zu verstehen, und unsere Sinnesorgane können all dies im Augenblick ebenfalls nicht erkennen. Wie wir heute in der modernen Physik wissen, ist der menschliche Verstand ohnehin nur in der Lage , im sog. mittleren Bereich der Physik sinnvoll zu arbeiten, während das extrem Große, z. B. das Weltall und das extrem Kleine, z. B. die Elementarteilchen, nur mathematisch zu beschreiben sind. Dort kommen wir mit unserer Vorstellungskraft und dem denkenden Verstand nicht weiter, und wir müssen zu dem Hilfsmittel der nicht mehr anschaulichen Mathematik greifen.
Die Sein-Zeit schreitet dabei unaufhörlich voran, ob wir das wollen oder nicht, ob wir es verhindern wollen oder zulassen und ob wir es bedauern oder begrüßen. Unser Leben bewegt sich also schnell voran und der Körper und Geist werden

"auf diese Weise durch den Kreislauf von Leben und Tod gefegt."

Dôgen betont hier die Schnelligkeit, mit der das Leben durcheilt wird. Er zitiert Gautama Buddha mit einem Gleichnis, in dem derjenige Mensch als schnell bezeichnet wird, dem es gelingt, die Pfeile von vier Bogenschützen zu fangen, die gleichzeitig ihre Pfeile abschießen. Alle Pfeile müssen aufgefangen werden, bevor sie den Boden berühren. Aus der Bedrängnis dieser Schnelligkeit des Lebens und der Flüchtigkeit des Augenblicks können wir uns nach Dôgen befreien, wenn wir den Bodhi-Geist und den Willen erwecken, anderen zu helfen, bevor wir selbst uns befreit haben. Er sagt, dass der Bodhi-Geist von allen Buddhas und Vorfahren im Dharma "erweckt, bewahrt und behütet wurde".
Gerade für das Leben in einem Kloster war es ganz wesentlich, ob man den Bodhi-Geist erweckt hat oder nicht, und dies gehörte zu den Grundregeln der Zen-Klöster. Bevor wir also den Weg der Buddhas und großen Meister beschreiten, ist es von größter Wichtigkeit, den Bodhi-Geist zu erwecken, andere zu befreien, bevor wir selbst befreit sind.
Dôgen kritisiert Mönche seiner Zeit, die es vernachlässigen den Bodhi-Geist in aller Klarheit zu erwecken. Er bestreitet, dass dies wirkliche Mönche und Schüler des Buddha-Dharma sind. Er erwähnt dann die Bodhisattvas, die in die Welt der Menschen herabsteigen:

"Der Bodhi-Geist ist das Tor zur Dharma-Klarheit, denn er verhindert, dass man die drei Kostbarkeiten (Buddha, Dharma und Sangha) verachtet"

oder gröblich vernachlässigt. Dôgen zitiert dann Gautama Buddha, der sagte:

"Wie bewahren und beschützen die Bodhisattvas das eine Große, nämlich den Bodhi-Geist?"

und er fährt fort, dass dies dasselbe sei, wenn ein Einäugiger in großer Sorge sein einziges verbleibendes Auge schützt oder wenn eine Gruppe, die eine Wildnis durchqueren muss, sich um ihren Führer sorgt und ihn beschützt, denn sie braucht den Führer unbedingt, um der Gefahr zu entrinnen und wieder in Sicherheit zu kommen. Er sagt, dass man die höchste Wahrheit erlangt, wenn man den Bodhi-Geist auf diese Weise beschützt und dass man dann

"beständig glücklich, selbstständig und rein ist".

Dôgen legt dann noch einmal den Finger darauf, dass wir nach Erweckung des Bodhi-Geistes nicht zurückfallen und dass er auch einmal selbst befürchtet hatte, abzuirren und den Bodhi-Geist wieder zu verlieren. Dabei sei auch äußerst wichtig, einen wahren Lehrer zu finden und mit ihm zusammen den Weg des Buddha-Dharma zu gehen. Wenn man keinem wahren Lehrer begegnet ist, besteht die große Gefahr, dass man den Bodhi-Geist wieder verliert, sich von den drei Kostbarkeiten ablöst und sich träge den oberflächlichen Genüssen und Freuden hingibt. Er fügt noch hinzu, dass es in der Tat Dämonen mit hinterlistigen Ratschlägen gibt, die uns sagen, den Bodhi-Geist zu verlassen. Diese Dämonen nehmen sogar oft die Form und das Verhalten der Eltern, Freunde und Lehrer an, sodass man ihnen all zu leicht vertraut. Ein solches lasches Gerede der Dämonen müssen wir durchschauen und klar erkennen, wer unsere wirklichen Verwandten, Freunde und Lehrer sind. Vor diesen schlechten Gefährten und Freunden warnt Dôgen uns ganz besonders.
Schließlich zählt er die vier Arten von Dämonen auf und beschreibt sie kurz: Es sind die Dämonen der Hindernisse und Täuschungen, der einhundertacht Leidenschaften, der fünf Komponenten (Skanda) des Menschen und der Welt, die Dämonen des Todes, die das Bewusstsein, die Wärme und das Leben wegnehmen und schließlich auch die Dämonen des Himmels, die die Welt der Begierden beherrschen und an weltlichen Freuden und Erwartungen zum eigenen Vorteil kleben. Letztlich handelt es sich jedoch um einen einzigen Dämon, während die Unterteilung in die vier Arten nur dazu dient, die buddhistische Lehre klarer zu formulieren und besser an die Schüler zu übermitteln. Schließlich ermutigt uns Dôgen:

"Ihr solltet niemals Angst haben, durch die Dämonen vom Bodhi-Geist abzufallen und in die Irre zu gehen; dies bedeutet den Bodhi-Geist zu bewahren und zu beschützen".


Weitere Informationen: