Donnerstag, 6. Dezember 2007

Die Kunst, eine Bambus-Flöte zu spielen

Die japanische Bambusflöte des Zen hat die Bezeichnung "Shakuhachi" und besteht aus einem Bambusrohr mittlerer Dicke, deren Nodien durchstoßen worden sind, sodass ein durchgehendes Rohr aus Bambus entsteht.

Das Mundstück ist eine einfache geschärfte Blaskante, die in der richtigen Weise und mit der richtigen Lippenspannung angeblasen wird, damit der Ton entsteht. Die japanische Zen-Flöte hat fünf Löcher, vier auf der Oberseite und eine unten für den Daumen, beruht also grundsätzlich auf einem System von fünf Tönen, also der Pentatonik. Viele alte Musikstücke und Lieder früherer Kulturen haben diese Pentatonik als musikalische Grundlage. Dies gilt zum Beispiel auch für die Indios in Südamerika und ihre Musik. Deren Flöte (Kena) hat sogar gewisse Ähnlichkeiten mit der japanischen Shakuhachi. Daraus wird auch die alte Verwandtschaft der amerikanischen Indianer mit ostasiatischen Völkern nicht zuletzt aus Japan deutlich.
Der Name „Shakuhachi“ bezeichnet eine Länge der Flöte von 1,8 japanischem Fuß, das entspricht etwa 54 cm. Die heutigen Shakuhachi-Flöten sind allerdings länger, meine eigene hat z. B. eine Länge von knapp 2,4 Fuß, dies entspricht etwa 72 cm.
Die abgebildete Flöte wurde von Ikkei Hanada, meinem damaligen Shakuhachi-Lehrer gebaut, er hat auch die Noten geschrieben.

Eine solche buddhistische Zen-Flöte zu spielen nennt man in Japan auch den "Bambusweg". Dieses Flötenspiel ist also eine buddhistische Kunst wie etwa das Bogenschießen, das Blumenstecken, der Schwertkampf usw. Obwohl oder gerade weil die Bambusflöte eigentlich ein sehr urtümliches, um nicht zu sagen, achaisches Instrument ist, hat sie eine außerordentlich große Vielfalt und Breite von Ausdrucksmöglichkeiten, je nach dem wie man sie anbläst. Man kann die Tonhöhe dadurch stufenlos verändern, dass man die recht großen Löcher nur teilweise mit dem Finger abdeckt oder indem man die Flöte aus verschiedenem Winkel anbläst, sie also im Verhältnis zum Mund nach oben oder nach unten zieht. Außerdem hat man natürlich alle Möglichkeiten, durch den Atem zu steuern und zu gestalten, so wie man auch vielfältige Melodien singen kann.
Die Herkunft der Shakuhachi liegt teilweise im Dunkeln der Geschichte.

Man kann aber davon ausgehen, dass sie etwa seit dem siebten Jahrhundert in China benutzt wurde und dann über Korea nach Japan gelangte. Es gibt vermutlich zwei zu unterscheidende Epochen: die erste unmittelbar in den folgenden Jahrhunderten nach dem Eintreffen in Japan und die zweite etwa nach dem 16. Jahrhundert, als in Japan das Spiel der Shakuhachi zu höchster Blüte entwickelt wurde. Jede Bambusflöte unterscheidet sich teilweise von der anderen, denn es handelt sich ja um den natürlich gewachsenen Bambus, der im Wuchs zwar durchaus ähnlich, aber niemals ganz gleich ist. Heute wird die Shakuhachi meist aus dem unteren Teil des Bambus gebaut, der den festen Wurzelstock enthält. Die Wurzeln werden dabei abgeschnitten, der Wurzelstock wird durchbohrt und dies gibt der Flöte eine feste, fast kernige Ton-Grundlage, die besonders in den tiefen Lagen wirksam ist.

Das Spiel der Shakuhachi-Flöte ist eng mit der Lebensphilosophie des Buddhismus verknüpft und es bedarf lebenslanger Übung, um zu der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit zu gelangen, die den Weg des Buddhismus selbst ausmacht. Es gibt verschiedene Traditionen des Shakuhachi-Spiels, die einerseits den spirituellen, buddhistischen Bereich anspricht, und zum anderen konzertant in der Kammermusik ausgeprägt ist, dort z. B. zusammen mit dem Saiteninstrument der Koto. In diesem Fall müssen die Flöten in der Tonhöhe vereinheitlicht werden, damit ein tonlich harmonisches Zusammenspiel mit anderen Instrumenten ermöglicht wird. Ich habe seiner Zeit die buddhistische Tradition des „Myo An“ (Hell-Dunkel) von dem japanischen Shakuhachi-Meister Hanada erlernt, der nunmehr in Deutschland lebt. Jetzt habe ich zusammen mit meinem Bruder bei Fritz Nagel Unterricht.

Wie Herrigel in seinem Buch, „Die Kunst des Bogenschießens“, beschreibt, hatte er nach mehreren Jahren des Unterrichts und des Lernens erleben können, dass "es geschossen hat." Sein Bogenmeister verneigte sich darauf, weil sich das "Etwas" ereignet hatte, das mehr ist als das Subjekt, also hier der Mensch und mehr ist als das Objekt, hier der Bogen, der Pfeil und die Sehne. Dann verbindet sich das Handeln weit darüber hinaus gehend auf natürliche Weise mit diesem Etwas, sodass sich ein Schuss natürlich wie von selbst löst. Man kann auch sagen, dass sich „ein Schuss ereignet“. Im Augenblick der höchsten Spannung muss alles locker vor sich gehen, sodass der Schuss "wie eine reife Frucht fällt“.

Den von Herrigel beschriebene Weg des Bogenschießens gibt es in gleicher Eindringlichkeit auch bei den anderen verschiedenen buddhistischen Übungen und Künsten: Es ist zunächst ein vorsichtiges Herantasten an die Aufgabe oder die damit verbundenen Dinge, ein stetes Üben, bei dem das Ich und das Selbst immer mehr in den Hintergrund treten und das Handeln und Tun sich sozusagen vom Subjekt und Objekt ablöst und sich, wie Nishijima Roshi betont, die Wirklichkeit selbst öffnet . Im Handeln gibt es dann kein intellektuelles Erinnern an das Vergangene und keine Erwartung für die Zukunft, denn beides würde nur vom Denken und Verstand erzeugt werden, sondern das Handeln findet je im Augenblick ganzheitlich und intuitiv statt. Nach Dôgen ist dies genau die Sein-Zeit, die er in dem grundlegenden Kapitel Uji in seinem Werk "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Kap. 11 des Shôbôgenzô) beschreibt.

Wie bei der Zazen-Praxis verhindert eine willentliche bewusste Anstrengung mit dem Ziel, das perfekte Flötenspiel zu erreichen, genau das Wesentliche des Shakuhachi-Weges. Dôgen führt immer wieder aus, dass eine willentliche bewusste Anstrengung, die Erleuchtung zu erlangen, ganz genau verhindert, dass sich das Erwachen oder die Erleuchtung bei der richtigen Sitzhaltung des Zazen „ereignen“ kann. Die buddhistische Praxis ist ein intuitives wunderbares Ganzes, bei dem nicht der Verstand vorherrscht und auch nicht die Emotionen dominieren.
Warum ist das Spielen der Shakuhachi ein praktisches Beispiel für die buddhistische Lehre und das buddhistische Handeln und Leben selbst? Wie können sich die naturhaften Töne dieser Bambusflöte mit der buddhistischen Lehre verbinden?

Wir nehmen einen Ton mit unseren Ohren als sinnliche Wahrnehmung auf und öffnen uns beim Spielen und beim Zuhören ganz der Gegenwart des Hier und Jetzt. Wenn die Gedanken des Menschen abschweifen, wird dies z. B. dem Spieler irgendwann bewusst, weil er merkt, dass die Töne an Lebendigkeit, Schönheit und Spiritualität verlieren. Die Shakuhachi ist ein sehr empfindliches Ding, das wie ein „Lebewesen handelt“, sodass gewaltsames Blasen und auch abschweifende Gedanken nicht selten oft dazu führen, dass der Ton ganz wegbleibt. Es erfordert zunächst sehr viel Geduld, um als Anfänger überhaupt irgend welche Töne zu erzeugen und es gibt Schüler, die drei Monate und mehr benötigen, damit sich überhaupt zum ersten Mal ein Ton vorstellt. Dann bedarf es vieler Jahre, in denen man stetig und ausdauernd übt, bis eine gewisse Leichtigkeit und Natürlichkeit beim Spielen entsteht und die Töne zunehmend naturhaft werden und sich eine Einheit von Mensch, Flöte, Luft, Ton, Spieler, Raum Zuhörer usw. einstellt. Es ist in der Tat dann überhaupt nicht mehr sinnvoll, von einem Subjekt, also dem Spieler, und einem Objekt, nämlich der Flöte, zu sprechen. Die aus der Lunge ausströmende Luft wird vor allem durch die Muskulatur des Bauches gestaltet und gesteuert und weniger durch die Muskulatur der Brust. Die Lippen müssen eine bestimmte Spannung haben und zugleich locker sein, damit es einen vollen natürlichen Ton gibt. Wenn man beim Spielen oder Zuhören in den ganzen Augenblick der Gegenwart eintaucht, verwirklichen sich wunderbare Töne, die mit Worten nur unzureichend beschrieben werden können und die mit dem Verstand nur spärlich zu fassen sind. Dann gilt: "Es bläst, es klingt, es hört."

Es ist nicht das Ziel in der Shakuhachi-Tradition von Myo An virtuos und technisch beeindruckend zu spielen oder gar besondere Effekte und Tricks zu erzeugen. Den Ton der Flöte hört man oder spielt man genau in der Gegenwart einer weit offenen Intuition. Man muss sich also ganz für diese Gegenwart aufmachen, störende Gedanken und drückende Gefühle müssen verschwinden, damit man sich dem Ton und seiner Schönheit öffnen kann und damit die Töne Leben bekommen. Der Spieler hat dann die vielen Jahre und Stunden des Übens vergessen. Er vergisst auch sein Ich und hat sein Denken fallen gelassen und aufgelöst. Er lebt ganz in der Gegenwart und dadurch ist er in der Wirklichkeit und Wahrheit ankommen, wie es Meister Dôgen in seinem großartigen Kapitel der Sein-Zeit sagt.

Es gibt eine intuitive Verbindung im Lauf des Spielens und der Melodie mit dem jeweils Vorigen, das vorher lebendige Gegenwart gewesen ist. Dies ist aber kein intellektuelles Erinnern, es ist auch kein konkreter Gedanke, sondern es ist eine intuitive lebendige Spur aus dem vorherigen in der Gegenwart. Gäbe es eine solche intuitive Verbindung nicht, würde man überhaupt keine Melodie erkennen und könnte nur Geräusche hören. Der zukünftige Verlauf beim Spielen oder Hören ist ebenfalls nicht im Denken verankert, sondern ein intuitives Verbinden mit dem, was kommen wird. Ohne diese Intuition des Gesamten im gegenwärtigen Augenblick kann es keine Musik und kein Flötenspiel geben. Das Denken beim Spiel der Bambusflöte muss wie die Vergangenheit und Zukunft vergessen werden, genauso wie die Trennung von Subjekt und Objekt, vom Medium der Luft oder gar von den physikalischen Zusammenhängen. Sonst kann man sich der ganzen Ton-Fülle der Gegenwart nicht öffnen oder entfalten und das „Etwas“ kann nicht erscheinen, weil es durch das intellektuelle Denken oder durch wühlende Emotionen gestört oder unmöglich wird. Das gleiche gilt bei Eitelkeit und Imponiergehabe.

Der große Nutzen des Bambusweges ergibt sich dadurch, dass man eine sehr konkrete Rückmeldung erhält, ob diese Freiheit des Augenblicks, die notwendig ist für das natürliche und freie Spiel, vorhanden ist oder nicht. Man erhält ganz schnell eine Meldung, ob die Töne "in Ordnung" sind oder nicht. Die Shakuhachi ist gewissermaßen ein sensibles Messgerät für die Wirklichkeit im Augenblick aber auch für die durch Denken und Emotionen erzeugte Verzerrung und Verkrampfung des Spielenden. Gerade weil diese Bambusflöte so ursprünglich und einfach ist, kann sie eine solche klare Rückmeldung für uns leisten. Bei eher technischen Instrumenten, wie zum Beispiel dem Klavier oder einer elektronischen Orgel, ist dies wenig oder überhaupt nicht möglich, sodass deren Eignung für den buddhistischen Weg um vieles geringer ist.

Obgleich man beim wahren Shakuhachi-Spiel nicht mit dem Verstand denkt, ist das Bewusstsein nicht ausgeschaltet. Es ist ein Achtsamkeit der Klarheit und Offenheit, und der Spieler handelt in der Gegenwart und lässt das Spielen geschehen. Dann ist das Spiel jedes Stückes jeweils eigenständig im Hier und Jetzt und erhält seine Lebendigkeit gewissermaßen aus sich selbst. Jede Besonderheit eines Tones in der Gegenwart erzeugt Spuren bei den kommenden Tönen, ohne dass dies als bewusster Gedanke vorhanden wäre. So sind Vergangenheit und Zukunft eingeschmolzen in der Gegenwart und dies alles geht jenseits von Denken und Emotionen vor sich.

Bei der Musik kann man den Augenblick des Tones nicht festhalten. Diese Musik fließt natürlich dahin und gerade die Offenheit der Gegenwart beim Spielen und Hören gibt uns eine tiefe Befriedigung und Freude und macht uns frei. Sorgen, Ängste und Verletzungen aus der Vergangenheit sind vergessen und wir sind gewissermaßen in eine wunderbare Glocke des Tones eingehüllt. Aber diese Glocke schließt uns nicht ab und engt uns nicht ein, sondern sie öffnet uns in den Raum hinein und "stößt durch den Himmel", wie Meister Dôgen dies wohl ausdrücken würde. Dann sind wir ganz im Hier und Jetzt oder wie es im Shôbôgenzô heißt: "Geist hier und jetzt ist Buddha." Dies ist wie das Leben selbst, wenn man es mit Gewalt festhalten will, gibt es keine lebendigen Töne und keine Musik!