Samstag, 3. Mai 2008

Was ist in unserer Sprache verborgen?

In diesem kurzen, aber inhaltsreichen Kapitel (Kap. 51, Mitsugo) untersucht Meister Dogen die Beziehung der Sprache zur wahren buddhistischen Lehre, also der Schatzkammer des wahren Dharma-Auges.
Nishijima Roshi klärt Fragen zum Shôbôgenzô

Dogen selbst ist zweifellos ein großer Künstler der Sprache und seine Texte sind von hoher spiritueller und dichterischer Qualität. Es wird berichtet, dass er schon als Kind chinesische Gedichte schrieb und eine besondere Liebe und Verbindung zur Sprache hatte. Es ist bekannt, dass er neue Wortschöpfungen in die japanische Sprache der damaligen Zeit einführte, um buddhistische Lehrinhalte auszudrücken, die mit den Begriffen des damaligen Japanisch nicht zu beschreiben waren. Seine Schriften sind für Philosophen des Ostens und des Westens von großer Bedeutung. Für neue philosophische Inhalte benötigt man eine besondere Sprache, um sie aussagekräftig und philosophisch treffend zu formulieren.

Dogen betont häufig, dass wesentliche Bereiche des Buddha-Dharma mit dem unterscheidenden Verstand und der Sprache nicht vollständig erfasst werden können. Er fordert uns auf, die Möglichkeiten der Sprache auszuschöpfen und beim Buddha-Dharma darüber hinauszugehen. Daraus darf der Schluss gezogen werden, dass er die Sprache als Teil des Buddha-Weges sehr schätzte und auf keinen Fall ablehnte. Ganz im Gegenteil sind Worte, Sätze und Lehrreden für ihn unabdingbar, um den Buddha-Weg zu gehen und an dessen Anfang den Bodhi-Geist zu erwecken. Andererseits beschreibt er viele Begebenheiten, bei denen der Buddha-Dharma übermittelt wurde, ohne dass Worte benutzt wurden, zum Beispiel durch Gesten, die Art und Weise sich zu bewegen und nicht zuletzt wortlos zu handeln.
Im höchsten Zustand des Erwachens ist die Sprache für Dogen ein wesentliches "geschicktes Mittel", um im lebendigen Kontakt zwischen den Menschen die buddhistische Lehre zu übermitteln. Dies gilt zwischen Lehrern und Schülern, aber auch zwischen den Meistern untereinander, die dadurch „jenseits der Erleuchtung“ weitere Klarheit gewinnen.
Für die Lernenden oder Menschen, die ganz außerhalb der Buddhalehre stehen, erweckt die Sprache der Meister sicher den Anschein, dass sie wie eine Geheimsprache für andere nicht verstehbar ist. Man könnte sagen, dass der Meister eine verborgene Sprache verwendet, die für den anderen nicht oder nur teilweise zu entschlüsseln ist.

Weil die Sprache und das unterscheidende Denken Grenzen der Leistungsfähigkeit haben, kann man sagen, dass es wesentliche Inhalte der buddhistischen Lehre gibt, die für die Sprache nicht erreichbar und damit verborgen sind. Dogen ermutigt uns jedoch, die Möglichkeiten der Sprache auszuschöpfen und bis an ihre Grenzen zu gehen. Wenn wir sie erreicht haben, sollten wir verstummen und die Sprache überschreiten. Das gewöhnliche Denken und Reden der Menschen schöpft nach Dogen deren Möglichkeiten jedoch nicht aus. Er betont, dass die Theoretiker, Sprachwissenschaftler des Buddhismus, Kommentatoren und sogar Dichter, die den Buddha-Dharma nicht kennen, keine Möglichkeit haben, zum Kern der Lehre vorzudringen. Weder überragende Intelligenz allein noch außergewöhnliche sprachliche Fähigkeiten sind demnach in der Lage, den Buddha-Dharma zu ´verstehen´ und in Worte zu fassen. Für diese Menschen ist die Buddha-Lehre in der Tat ein verborgener Schatz, den sie nicht mit ihren Fähigkeiten heben können.

Was mit Worten jedoch nicht ausgesagt werden kann, hat für die lebendige Übertragung der buddhistischen Lehre eine große Bedeutung. Aber es ist keine Geheimlehre, die zum Beispiel durch ein Ritual der Einweihung übermittelt und dann sofort verstanden werden kann. Das Leben lässt sich mit der Sprache nur im bestimmten Umfang erfassen, beschreiben und kommunizieren. Die Sprache wächst und verändert sich mit dem Menschen. Wir sollten nicht meinen, dass wir mit unserem subjektiven Denken endgültige Aussagen und Weisheiten erfassen können. Das Wunderbare der Wirklichkeit überschreitet das Denken und Reden. Dogen rät uns, dies in Bescheidenheit und Klarheit anzuerkennen.

Er beschreibt in verschiedenen Beispielen und Koan-Gesprächen, dass es eine wirklich umfassende Verständigung und ein wahres Verstehen zwischen den Menschen geben kann, die intuitiv im Augenblick stattfinden. Ein solches intuitives Verstehen erfordert nach Dogen die Übungspraxis des Zazen. Dabei konzentriert man sich mit dem Geist nicht auf ein Thema oder eine Frage, sondern sitzt gerade ohne Denken und Wahrnehmung mit entleertem Bewusstsein. Nishijima Roshi zählt daher die Zazen-Praxis nicht zu den Methoden der Meditation, bei der sich der Geist in voller Konzentration auf etwas Bestimmtes bezieht, z. B. auf eine Frage oder ein Bild. Zazen ist "das Denken aus dem Nicht-Denken" und diese Praxis ist zwar bewusst, aber kein unterscheidendes Denken und kein Wahrnehmen. Fesselnde Emotionen verlieren beim Zazen ihre Bedeutung und lösen sich auf, wenn sich in der Praxis das Gleichgewicht und die erste Erleuchtung ereignen.
Dogen beginnt das Kapitel mit folgender Aussage:

"Wenn die große Wahrheit, die alle Buddhas bewahrt und beherzigt haben, sich mit dem ganzen Universum verwirklicht, bedeutet dies, dass die Worte "du bist so und ich bin so" und "du musst sie gut bewahren und behüten" unmittelbar im Jetzt erfahren werden“.

Die Sprache ist hierbei ein Fingerzeig auf etwas, das über die Sprache hinausgeht. Gleichwohl gibt es eine tiefe Verständigung und Übereinstimmung zwischen bestimmten Menschen, die miteinander sprechen. Das obige zweite Zitat stammt von Bodhidharma und betrifft seinen Nachfolger Taiso Eka. Der Meister bestätigte damit seinem Schüler, dass er die Essenz und den wahren Kern der Buddha-Lehre erfasst habe und diesen großen Schatz hüten und bewahren solle.
Dogen berichtet in der folgenden Koan-Geschichte, dass ein hoher Beamter des Staates dem großen Meister Ungo ein Geschenk überbrachte und ihn bei dieser Gelegenheit fragte:

"Es heißt, der Weltgeehrte (Buddha) hätte eine verborgene Sprache gehabt, aber für Mahakashyapa gab es (dabei) nichts Verborgenes. Was ist die verborgene Sprache des Weltgeehrten?“

(Als Antwort) rief der große Meister aus: "Beamter!" und dieser antwortete mit "Ja".
Dann fragte der große Meister: "Verstehst du dies oder nicht?" und der hohe Beamte antwortete: "Ich verstehe es nicht." Darauf sagte der Meister:

"Wenn du dies nicht verstehst, ist das die verborgene Sprache des Weltgeehrten und wenn du dies verstehst, ist es (wie bei) Mahakashyapa, für den es (dabei) nichts Verborgenes gab.“

Dogen schätzte den großen Meister Ungo sehr und verdeutlicht, dass es sich bei diesem Koan-Gespräch um zentrale Aussagen zur Sprache und zum wirklich oder scheinbar Verborgenen handelt. Er betont, dass der Meister in der authentischen Nachfolge der großen Buddhas und Meister stand und er die große Wahrheit des Buddha-Dharma verwirklicht hatte. Er bittet uns, dieses Gespräch sehr genau und konkret zu untersuchen, zu verstehen und nicht in allgemeine und abstrakte Überlegungen abzuschweifen. Wegen der authentischen Übertragungslinie wurde die Wirklichkeit und Wahrheit der buddhistischen Lehre genau und unverzerrt an Meister Ungo übermittelt und ist in dieses Koan-Gespräch eingeflossen.

Wenn wir den Zusammenhang von Sprache und Verborgenem untersuchen wollen, ist dieses Koan also ein hervorragender Einstieg. Gautama Buddha besaß die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, die hier als verborgene Sprache bezeichnet wird. Sein authentischer Nachfolger verstand dies, sodass sie ihm nicht verborgen war.
Nach Dogen sollten wir nicht versuchen, das Verborgene des Buddha-Dharma überstürzt und in einem Schritt verstehen und entschlüsseln zu wollen. Wir sollten uns dagegen immer wieder und in allen Einzelheiten damit beschäftigen und es gründlich untersuchen: "So als ob ihr einen harten Gegenstand durchschneiden müsst.“

Hinter dem einfachen Anruf "Beamter!" und dessen unmittelbarer Reaktion mit der Antwort "Ja" verbergen sich tiefgründige Zusammenhänge, die anhand dieser Koan-Geschichte angesprochen und aufgedeckt werden sollen.

Der Beamte war sicher ein intelligenter Mensch, der die damals sehr schwierige Ausbildung in der chinesischen Verwaltung durchlaufen hatte und sich in vielfältigen harten Prüfungen bewähren musste. Er hatte eine sehr hohe Position im Staat erreicht und war sicher stolz darauf. Er identifizierte sich vollständig mit seiner erfolgreichen Berufsrolle. Er war sicher im mündlichen und schriftlichen Ausdruck ungewöhnlich geschult, und hatte besonders große Fähigkeiten im sprachlichen Ausdruck. Als er mit seiner Berufsposition „Beamter“ angesprochen wurde, antwortete er automatisch mit "Ja", ohne sich viel dabei zu denken. Aber ist der Berufstitel das Wichtigste des Menschen und ist er überhaupt aussagefähig, wenn es um wirklich Wesentliches geht?

Der Beamte hatte sich offensichtlich nicht gefragt, wer der Meister als Mensch und Buddhist ist und wer er selbst wirklich sei. In diesem Koan-Gespräch wird deutlich, dass der kluge Beamte am Äußerlichen der Bezeichnung in der Beamtenhierarchie klebte und im Verhältnis zum Meister eher einer Berufs-Marionette glich. Daher waren ihm die Sprache und Bedeutung des Meisters und Buddha-Dharma verborgen und er konnte sie nicht verstehen. Das bedeutet keineswegs, dass er rhetorisch ungeschult war und kein breites Wissen auf bestimmten Gebieten besaß. Was der Meisters als „Verstehen“ bezeichnet, betrifft nicht den denkenden Verstand des anderen, sondern bedeutet ein umfassendes intuitives Erfassen. Wer dies besitzt für den ist wie bei Mahakashyapa nichts verborgen.

Das wirkliche „Verstehen“ im Sinne des Buddhismus wird durch einen wahren Lehrer vermittelt. Ohne ihn wird es nicht einmal klar, was wir überhaupt verstanden haben und was nicht. Dann wissen wir nicht einmal selbst, was uns verborgen ist. Es kann nicht ausgelotet werden, welche tiefgründigen Fragen unter der gewöhnlichen Sprache der Menschen verdeckt sind. Manche verstehen wichtige Zusammenhänge auch dann nicht, wenn nichts verborgen ist und alles klar und offen vor ihnen liegt.
Dogen beschreibt dies wie folgt:

"Deshalb haben wir die verborgene Sprache (Buddhas) niemals als eine uns unbekannte Sprache erlernt. Genau in dem Augenblick, wenn wir den Buddha-Dharma (mit dem Verstand) nicht verstehen, ist dies ein wichtiger Teil der verborgenen Sprache. Diese Sprache ist zweifellos die Eigenart des Weltgeehrten und sie ist die ihm eigene Sprache."

Dogen bezieht sich hier auf den Augenblick je in der Gegenwart, in dem intuitives Verständnis möglich ist. Dies ist die Sprache Gautama Buddhas und der großen Meister, wenn sie den Buddha-Dharma lehren.
Es greift zu kurz, wenn man sagt, dass das Hochhalten der Blume von Gautama Buddha bei der Dharma-Übertragung zu Mahakashyapa die verborgene Sprache sei, weil dies ohne Worte zum Wesentlichen des Buddha-Dharma geschah. Es ist nach Dogen ganz falsch zu sagen, dass Buddhas Lehre "in der Form der Sprache und Worte oberflächlich sei", weil es sich nur um Buchstaben, Worte und Sätze handelt. Es ist auch nicht richtig zu sagen, dass durch das wortlose Hochhalten der Blume der Buddha-Dharma seinen Anfang genommen habe, und dies sei viel wesentlicher als die Sprache. Mahakashyapa habe das Ganze sogar vorhergesehen, weil er die verborgene Sprache Buddhas kannte.

Dogen verwehrt sich in aller Klarheit dagegen, dass man die Worte von Gautama Buddha und der großen Meister als oberflächlich und unwesentlich abqualifiziert und die wortlose Geste im Gegensatz dazu viel höher einschätzt.
Dogen sagt:

"Ein solcher Mensch weiß zwar, dass der Weltgeehrte sich in seinen Reden der Buchstaben und Namen bedient, er weiß aber nicht, dass der Weltgeehrte Buchstaben und Namen weit übersteigt. Er muss sich noch von den Gefühlen der gewöhnlichen Menschen befreien. Die Befreiung, die Dharmalehre selbst und die Lehre, die aus Worten besteht, drehen das Dharmarad und durchdringen den Körper und den Geist aller Buddhas und Vorfahren im Dharma."

Die hohe Bedeutung der Sprache wird dadurch unterstrichen, dass Gautama Buddha die Dharma-Übertragung danach mit Worten ausdrückte und bestätigte. Das wortlose Hochhalten der Blume und die folgende sprachliche Formulierung sind von gleichem Rang und gleich hoher Bedeutung. Es ist daher unmöglich, die Sprache als minderwertiger gegenüber der Geste einzuschätzen.
Der Weltgeehrte sagte nämlich danach :

"Ich besitze die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und den wunderbaren Geist des Nirwana, ich gebe sie an Mahakashyapa weiter."

Dogen folgert, dass Gautama Buddha die Sprache keineswegs als minderwertig einstufte, denn sonst hätte er die Blume ein zweites Mal hochhalten können, ohne die Dharma-Übertragung mit Worten auszudrücken. Aber diese Sprache vermittelt eine tiefgründige Bedeutung, die je im Augenblick Wirklichkeit und Wahrheit ist und von gewöhnlichen Menschen nicht verstanden und in ihrer Tiefgründigkeit nicht ausgelotet werden kann.

Dogen lehnt die Vorstellung gewöhnlicher Menschen ab, dass diese verborgene Sprache ein Geheimwissen sei, das allein den erwachten Mönchen und Laien zugänglich sei. Diese hätten dann das alles umfassendes Wissen als Geheimlehre und es gäbe für sie überhaupt nichts Verborgenes mehr, weil sie alles durchschauen. Das kann aber nicht richtig sein, denn nach Dogen ist der Geist unfassbar, und je weiter wir auf dem Weg des Buddha-Dharma vorangegangen ist, desto mehr wird uns klar, dass wir die tiefgründige Wirklichkeit und Wahrheit von uns selbst und vom Universum nicht mit dem Verstand und der Sprache umfassend verstehen können. Dogen sagt hierzu:

"In dem Augenblick, wenn ihr einem Menschen begegnet, hört ihr die Sprache des Verborgenen und ihr sprecht die Sprache des Verborgenen. Wenn ihr euch selbst erkennt, erkennt ihr das verborgene Handeln. Wie viel mehr können die Buddhas und Vorfahren im Dharma in den verborgenen Sinn der verborgenen Sprache, die wir hier beschrieben haben, eindringen?"

Sprechen und Handeln gehen Hand in Hand, schließen sich nicht aus. Sie lassen sich auch nicht gegeneinander aufrechnen, welches wertvoller sei und welches minderwertiger. Der Buddha-Dharma kann sich beim Menschen und im Universum verwirklichen, wenn Sprechen und Handeln im Gleichgewicht sind, also beim Erwachen oder bei der Erleuchtung.

"Das verborgene Handeln überschreitet unser eigenes Wissen und das der anderen, nur das in uns Verborgene kann es erkennen und die jeweils anderen Wesen in ihrer Verborgenheit verstehen es nicht."

Dogen sagt weiter,
"dass jeder Ort wo die Menschen belehrt werden und jeder Augenblick, in dem (Menschen) die Lehre hören und annehmen immer die Offenbarung dieses Verborgenen ist. Was ist der gegenwärtige Augenblick? Weil er unfassbar ist, verbirgt er sich vor euch, vor den anderen, vor den Buddhas und Vorfahren im Dharma und vor fremden Wesen. "

Auf dem Weg des Buddhismus klären wir durch die Lehre, das Handeln und die Erfahrung das vorhandene Verborgene in uns selbst, in den Buddhas und in den Vorfahren. "Damit klären und durchdringen sie das Verborgene Selbst. "
Am Ende des Kapitels zitiert Dogen den Lehrer seines eigenen Meisters Tendo Nyojo mit folgendem Gedicht:

"Der Weltgeehrte spricht eine verborgene Sprache,
für Mahakashyapa gibt es nichts Verborgenes,
ein Regen, herunterfallende Blüten in der Nacht,
die ganze Stadt ist erfüllt vom Wohlgeruch fließenden Wassers."


Besonders die beiden letzten Zeilen sprechen mit ihrer poetischen Wortwahl direkt das Verborgene jenseits der gewöhnlichen Sprache an, denn sie vermitteln den Geist des wahren Dharma-Auges. Dogen sagt:

"Ihr solltet eure Augen und Ohren mit großer Intuition und Klarheit benutzen. Wo sonst könnt ihr die Einheit von Körper und Geist verwirklichen?"