Samstag, 16. Oktober 2010

Die Bedeutung der Zazen-Praxis

Dōgen bezeichnet die Praxis des Zazen als „Zugang des Friedens und der Freude zum Dharma“; sie löse ganzheitlich die Hindernisse und Blockaden des Denkens und Fühlens auf. Körper und Geist sind in unserem gewöhnlichen, ungeschulten Denken dualistisch getrennt – was Dōgen ablehnt – und eng mit der Vorstellung und Fixierung auf ein weitgehend abgegrenztes Ich verbunden, das sich bedroht fühlt, auf sich selbst konzentriert ist und meist irgendetwas haben oder abwehren will. Ein solches Ich wird nicht zuletzt von Emotionen und Affekten getrieben, die dem Bewusstsein weitgehend verborgen bleiben. Nishijima Roshi spricht davon, dass eine Selbststeuerung unter diesen Bedingungen nicht möglich und der Mensch daher unfrei ist! Nach der Lehre Gautama Buddhas liegen die Ursachen für vieles Leiden in der Fixierung auf ein Ich als Subjekt und der Trennung von anderen Menschen und Dingen als Objekte. Diese Einschätzung wird auch durch die Psychotherapie bestätigt und hat bei der Analyse von Gefühlen eine große Bedeutung. Eine solche starke Zentrierung und Fixierung auf das eigene Ich wird häufig durch übertriebene Selbstgerechtigkeit, aber auch durch Angst vor psychischen Verletzungen erzeugt.

Gefühle wie Neid und Eifersucht werden laut der Psychologin Verena Kast in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiert und daher nicht bewusst zugegeben. Sie manifestieren sich infolgedessen meist als Abwertung oder sogar Kriminalisierung der anderen und sollen damit implizit als Aufwertung des eigenen Ich wirken. Das ist aber gerade keine dauerhafte Lösung des Problems. Der fast ausschließliche Bezug auf sich selbst tritt besonders gravierend bei Depressionen auf, wenn nur ein sehr eingeschränkter Kontakt zu anderen Menschen und zur Umwelt möglich ist. Auch diese Situation ist mit ganz starkem Leiden verbunden und führt meist dazu, dass der Alltag nicht mehr bewältigt werden kann.
In dem nun folgenden Satz fasst Dōgen zentrale Aussagen des Buddhismus zusammen.

„Wenn die Buddha-Tathāgatas, die alle die Eins-zu-eins-Übertragung (Transmission) des wunderbaren Dharma erhalten haben, den höchsten Zustand des vollkommenen Bodhi-Erwachens erfahren, sind sie im Besitz der feinen und kostbaren Methode, welche die höchste ist und keine (selbstsüchtige) Absicht hat.“

Alle Buddhas stehen demnach in einer nicht unterbrochenen Linie der Übertragung des wahren Buddha-Dharma, die hier als „Eins-zu-eins-Übertragung“ bezeichnet wird. Das heißt, dass jeweils ein authentischer Meister den wahren Buddha-Dharma an seinen Schüler weitergibt, der damit selbst authentischer Meister wird und die Befähigung zur Lehre erhält.

Das höchste Bodhi-Erwachen wird in Sanskrit als anuttara-samyak-sambodhi bezeichnet. Mit der feinen und kostbaren Methode des Bodhi-Erwachens ist die Zazen-Praxis gemeint. Dōgen fügt hinzu, dass diese Methode ohne selbstsüchtige Absicht angewendet wird. Wenn also die Erleuchtung oder das Erwachen zum eigenen Vorteil und mit Konzentration auf sich selbst angestrebt wird, entspricht dies nicht der im Shōbōgenzō dargestellten Zazen-Methode.

Dogen erläutert hierzu, dass beim Zazen „das (wahre) Selbst empfangen und benutzt wird“. Dieses Selbst unterscheidet sich vom egoistischen, abgegrenzten Ich, das etwas haben will oder etwas bekämpft, um sich selbst zu schützen, um materielle Vorteile zu erlangen oder Macht über andere zu gewinnen.