Sonntag, 21. August 2011

Dharma und Zazen in einem Land geringer Ethik

Ein Skeptiker sagt zu Dōgen, dass Japan doch ein kulturell sehr rückständiges Land sei, sodass es dort schwierig ist, die wahre Lehre des Buddhismus zu verbreiten. Weiterhin sei die Moral im damaligen Japan deutlich niedriger als in den menschlich und kulturell hoch stehenden Ländern wie China und Indien. Wie könne daher in Japan überhaupt sinnvoll der unverfälschte Dharma und die Zazen-Praxis gelehrt werden?


Auch im Westen müssen wir uns ehrlich fragen, ob das ethische Niveau nicht viel zu niedrig ist, um den Buddhismus zu lehren. Ist die materielle Gier bei uns nicht viel zu weit verbreitet?

Dōgen teilt zunächst die Einschätzung über seine Landsleute:
„Selbst wenn wir (den Menschen in Japan) den richtigen und gradlinigen Dharma lehren, werden sie Nektar in Gift umwandeln.“
Das ist eine starke Formulierung: „Nektar in Gift umwandeln“! Ruhm und Vorteil seien in Japan das große Ziel der meisten Menschen; Täuschungen und das „Anhangen“ des Geistes durch Gier seien kaum auszuschließen. Aber die Zazen-Praxis ist davon völlig unabhängig und könne von jedem geübt werden. Dafür sei weltliches Wissen und große kulturelle Qualität nicht erforderlich.

Es gibt dazu die berühmten Beispiele aus der Zeit Gautama Buddhas, dass ein geistig beschränkter Mönch durch einen ganz einfachen Vorgang das Erwachen erlebte und dass eine Prostituierte durch das Anlegen des buddhistischen Gewandes, der Kashaya, ebenfalls aus ihren Täuschungen herausfand. Intelligenz und gesellschaftlicher Stand sind für den Buddhismus nicht wesentlich. Maßgeblich sei vielmehr, dass man in der Stille und Ruhe Zazen praktiziert und das richtige Vertrauen in die Übungspraxis hat:

„Obgleich unser Land keine Nation der Güte und Weisheit ist und die Menschen geistig dumpf sind, sollt ihr auf keinen Fall denken, dass es für uns unmöglich ist, den Buddha-Dharma zu erlernen. Darüber hinaus besitzen alle Menschen den wahren Samen der Prajnya-Weisheit im Überfluss. Es ist wohl einfach so, dass wenige von uns (in Japan) den wirklichen Zustand (des Dharma) direkt erfahren haben. Wir sind daher (noch) nicht vorbereitet, ihn zu empfangen und zu nutzen.“

Dōgen schreibt an mehreren Stellen im Shōbōgenzō, dass Japan kulturell nicht zu den führenden Nationen der damaligen Welt gehört, und zählt Indien und China zu jenen überlegenen Kulturbereichen. Aber er lässt das Argument überhaupt nicht gelten, dass Japanerinnen und Japaner deshalb keinen Zugang zum wahren Dharma haben könnten. Nishijima Roshi fasst dieses Zitat sogar als Ermutigung für Japan auf, gerade nicht zu resignieren und auf dem Weg der Buddha-Wahrheit weiterzugehen.

Eine mögliche Hauptursache für die buddhistische Rückständigkeit Japans sieht Dōgen darin, dass es nur wenigen vergönnt war, einen direkten Kontakt zu einem wahren Lehrer und damit zum wahren Buddha-Dharma zu haben. Dies ist nach Dōgen aber die Voraussetzung dafür, den Buddha-Dharma in der Praxis zu erlernen. Deshalb seien viele Japanerinnen und Japaner einfach noch nicht vorbereitet für die wahre buddhistische Lehre. Er war jedoch ganz sicher, dass wirklich alle Menschen die intuitive Fähigkeit zum ganzheitlichen Gleichgewicht und zur Erleuchtung haben.