Montag, 14. Januar 2013

Die Erleuchtung des Mönchs Shikan




Eine im Zen-Buddhismus bekannte Geschichte handelt von dem späteren Meister Shikan, der die Wahrheit des Buddhismus, also die Erleuchtung, unter dem Zen-Meister Dai-i in der goldenen Zeit des Zen-Buddhismus erlernte. Dai-i sagte zu seinem Schüler:

„Du bist von scharfem und brillantem (Verstand) und hast ein umfassendes Verständnis (der buddhistischen Lehre). Sag mir einen Satz über den Zustand, den du hattest, bevor deine Eltern geboren waren, ohne dass du aus irgendeinem Text oder Kommentar zitierst.“

Diese berühmte Zen-Frage kommt in mehreren Kōan-Gesprächen vor und wird auch noch heute einigen Schülern von ihren Meistern gestellt. Es handelt sich dabei nicht um eine intellektuelle Frage nach der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, sondern um die direkte Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick.

Insofern ist der Verweis auf die Eltern und besonders auf die Zeit vor deren Geburt fast als Falle für den Verstand anzusehen. Wenn man darauf eingeht, gerät man in intellektuell nicht aufzulösende Widersprüche und Spekulationen, aus denen es kein Entkommen gibt. Bei der Wirklichkeit ist es nämlich unwesentlich, ob es sich um die Vergangenheit oder irgendeinen anderen Zeitabschnitt der linearen Zeit handelt, sondern es geht allein um die unverstellte, direkte Erfahrung im gegenwärtigen Augenblick.

Wie Dōgen im Grundlagen-Kapitel der buddhistischen Lehre beschreibt, ereignet sich die Wirklichkeit von uns selbst, der Welt und dem Universum nur im gegenwärtigen Augenblick, wenn wir Gedanken und Emotionen überschreiten oder, wie Dōgen es ausdrückt, „fallen lassen“. Ganz falsch wäre es also bei obiger Frage zum Beispiel, sich bestimmte Gesichtszüge der Eltern vorzustellen, Bilder etwa durch archaisches, mythisches Versenken aus einer Art „Ursumpf“ hervorzuholen und dies vielleicht mit der Lehre der Wiedergeburt zu verbinden.

Der Schüler Shikan suchte in mehreren Anläufen nach einer passenden Antwort, die seinen Meister zufriedenstellen könnte, aber es gelang ihm nicht. Er strengte seinen Körper und Geist an, so sehr es ihm überhaupt möglich war, und er versuchte, sein umfangreiches Wissen aus den Schriften und buddhistischen Sūtras auszublenden, aber ohne jeden Erfolg.

Schmerzhaft empfand er seine eigene Unfähigkeit und litt unter seiner angeblichen Dummheit. Als Konsequenz verbrannte er alle seine Bücher und Kommentare, da sie sich für ihn als völlig nutzlos erwiesen hatten, und kam zu dem Schluss, dass „ein Reiskuchen, der in einem Bild gemalt ist, den Hunger nicht stillen kann.“ Diese Worte sind später eine berühmte Zen-Aussage geworden, die Dōgen im Shōbōgenzō eingehend untersucht.

Shikan legte den Schwur ab, dass er jeden Versuch, den Buddha-Dharma durch Denken zu ergründen, sofort und dauerhaft abbrechen würde. Mehrere Jahre lang diente er gewissenhaft als einfacher Mönch im Kloster, indem er niedere Arbeiten ausführte. Gegenüber seinem Meister bezeichnete er sich als „töricht und dumpf im Körper und Geist und als unfähig, die Wahrheit zu sagen.“ Schließlich bat er seinen Meister inständig darum, ihm dabei zu helfen, aus dieser für ihn aussichtslosen Situation herauszufinden.

Aber Meister Dai-i lehnte eine solche Hilfe entschieden ab:
„Ich hätte nichts dagegen, dir etwas (Hilfreiches) zu sagen, (aber wenn ich dies täte) würdest du vielleicht später Groll gegen mich hegen.“

Offensichtlich war er sich sicher, dass sein Schüler den notwendigen Schritt zur Wahrheit irgendwann ganz allein bewältigen würde und dass theoretische Erklärungen dies eher verhindern statt fördern würden. Die buddhistische Wahrheit müssen wir letztlich immer selbst finden, ein Lehrer kann uns das nicht abnehmen.

Nachdem Shikan viele Monate und Jahre den Mönchen gedient hatte, entschied er sich, das Kloster zu verlassen und auf den Spuren des großen Landesmeisters Daisho zu gehen. Er zog sich auf einen Berg zurück und lebte dort allein im Einklang mit der Natur und der buddhistischen Wahrheit. An dem Ort, an dem auch der legendäre Meister gelebt hatte, baute sich Shikan eine einfache Hütte mit einem Strohdach. Er pflanzte Bambus und – wie Dōgen es ausdrückt – „machte ihn zu seinem Freund“.

Seinen früheren Ehrgeiz, die buddhistische Lehre zu verstehen, hatte er aufgegeben, er wollte nicht mehr umfangreiche Sūtras und Kommentare studieren und nach der großen Erleuchtung streben. Stattdessen führte er ein wirklich einfaches Leben in der Natur und mit der Natur und sah die Jahreszeiten kommen und gehen. So freute er sich daran, dass sein Bambus wuchs und gedieh und kräftige Stangen bildete.

Eines Tages geschah etwas für ihn völlig Unerwartetes: Als er seinen Weg vor der Hütte fegte, löste sich ein kleiner Kieselstein vom Boden, traf auf das Rohr des Bambus und erzeugte dabei einen Ton wie ein „Bong“. Durch diesen unmittelbaren Ton, den er ohne jeden intellektuellen Anspruch hörte, war er direkt in der Wirklichkeit angekommen. „Bong“ – das war die Wahrheit der Natur: einfach, direkt und unkompliziert! Und die Wahrheit der Natur ist auch im Universum und in uns selbst. So einfach und wunderbar sind das Leben und das Universum.

Shikan nahm ein erfrischendes Bad, reinigte sich gründlich, entzündete ein Räucherstäbchen und machte in tiefer Dankbarkeit Niederwerfungen in die Richtung des Berges und Klosters seines Meisters Dai-i.

Schlagartig war ihm klar geworden, dass sein Meister ihm wie kein anderer geholfen hatte, nur durch die eigene Erfahrung zur Wirklichkeit zu gelangen, die sich ihm jetzt und völlig unerwartet eröffnet hatte. Sein Meister hatte ihm keine verbale Erklärung gegeben und seine Fragen nach der Erleuchtung nicht beantwortet, denn wahrscheinlich hätten solche vorgegebenen Antworten ihm für immer den Weg zum Erwachen versperrt. Er erkannte das tiefe Mitgefühl seines Meisters für seine damalige verzweifelte Situation und sagte: „Die Tiefe seiner Güte übersteigt die der Eltern.“ Dieser Satz stellt den Bezug zur ursprünglichen Frage des Meisters her.

Der Klang des Kieselsteins, der das Bambusrohr traf, vertrieb alle Vorstellungen und angestrebten Ziele. Die Wirklichkeit und Shikan selbst waren plötzlich eine Einheit. Dōgen beschreibt hier sein eigenes tiefes Verständnis der Erleuchtung, die nicht mit dem Willen und mit Gewalt erreicht werden kann, sondern sich jäh und unerwartet ereignet, wenn sich durch jahrelange Praxis und Bescheidenheit die notwendige Offenheit und Direktheit bei uns selbst entwickelt haben. Gerade die enge Beziehung zur Natur und die Offenheit dafür sind eine große Chance, zur Wirklichkeit und Wahrheit zu finden.

Nicht zuletzt wird dann die Ich-zentrierte Selbstinszenierung oder eigene narzisstische Überhöhung völlig ausgeschaltet. Gerade Menschen mit einem scharfen Verstand und einem hervorragenden Gedächtnis für die Lehren und Kommentare geraten in Gefahr, einer Selbstüberschätzung zu erliegen. Dadurch wird der direkte Zugang zur Wirklichkeit, die jenseits von analytischer Kompetenz und ausgefeiltem Reflexionsvermögen existiert, versperrt.

Das heißt nicht, dass Dōgen scharfsinniges Denken und präzises Erinnern ablehnt, sondern diese Fähigkeiten werden sozusagen dem unmittelbaren Erfahren der Wirklichkeit untergeordnet: Sie werden ohne Ich-Stolz eingesetzt und verhindern nicht den Zugang zur Buddha-Natur. Im Augenblick der Einheit mit der Wirklichkeit spielen gedankliche Analyse und Reflektieren ohnehin keine Rolle, da sie nur vor oder nach dem Augenblick des Geschehens wirksam werden können.