Freitag, 15. Juni 2018

Magie des Augenblicks im ZEN und westliche Philosophie: Ein Gegensatz?



Gegenwärtig trainiere ich häufiger Bogenschießen: Ein großartiges Beispiel für die buddhistische Praxis, das Wunder des Augenblicks, das eigene Gleichgewicht, sowie Veränderung und Dynamik. Also Einüben in der Kunst des Zen als Weg des Bogens, des traditionell mit höchstem Können verleimte Bambus aus Japan. Es gibt dabei vier wichtige Zustände:

Man hat sich aufgestellt, hält den Bogen in einer Hand, hat den Pfeil in die Sehne eingenockt, schaut auf das Ziel und hält Bogen, Sehne und Pfeil in einer leichter Vorspannung.

Der Bogen ist angehoben, gespannt, in Spannung und Dehnung des Rückens und der Armen. Dies wird auch als Ankern bezeichnet

Das Wunder des Augenblicks, Gleichgewicht in höchster Spannung: Der Pfeil löst sich und schlägt in die Zielscheibe ein.

Man steht entspannt, bleibt ruhig und „hält nach“.

Das ist sicher eine Beschreibung wichtiger Zustände. Aber was fehlt? Haben wir mit diesen Zuständen den Prozess, den Flow, die Veränderung und Dynamik und das wahre eigene Erleben wirklich voll erfasst und beschrieben? Sicher nicht. Denn zwischen den Zuständen ereignen sich ja gerade Veränderungen und Wandlungen von Körper, Geist und Psyche. Diese darf man nicht verbergen und weggelassen. Die Magie des Augenblicks ist damit unlösbar verbunden!

Menschen sind keine Zustände von Gegenständen und Sachen. Von entscheidender Bedeutung sind gerade der Bewegungsablauf und fortlaufender Prozess. Sie bauen die für den Schuss notwendige Spannung auf, bei gleichzeitiger ruhiger Konzentration und Achtsamkeit. Es geht weiter zum entscheidenden Augenblick, zum Ereignis, auf den alles ankommt, der Schuss, die Magie des Augenblicks. Dann kommt das Loslassen des Pfeils, das Release: Wow, das ist es !

Die Bewegung zum Lösen des Pfeils muss im Augenblick der höchsten Spannung, ruhig und zügig erfolgen. Jede Verkrampfung sei es aus Angst, das Ziel zu verfehlen, oder sei es aus Überheblichkeit einer falschen Sicherheit und damit ohne klare Achtsamkeit, sind falsch und führen in der Wirkung gerade zu schlechten Schüssen.

Das Ziel kann mit einem verkrampften Geist gerade nicht "wie von selbst" getroffen werden: Wir treffen das Ziel in der Harmonie von Körper, Psyche und Geist, diese Harmonie ereignet sich im Augenblick im Augenblick. Danach fliegt der Pfeil auf seiner Bahn zum Ziel. Fliege ich dann mit dem Pfeil zum Ziel? Was ist das Ich im harmonischen klaren Augenblick? Man beobachtet diesen Flug, der umso besser zum Ziel führt, wenn bei ihm in klarer Aufmerksamkeit kein falscher Ehrgeiz zu Verkrampfungen führt. Dann würde das kleine Ich mächtig stören und sich bei jedem "Fehlschuss" ärgern!  Dann ist die Magie weg. Aber ganz im Gegenteil, gelungene Schüsse geben Freude, Lockerheit und geradezu eine spirituelle Klarheit des Hier und Jetzt. Genau darin liegt auch die Bedeutung des intuitiven und spirituellen Bogenschießens. Gute Augenblicke und Schüsse setzen sich durch den Tag als freudiges länger anhaltendes Ereignis weiter fort.

Den gesamten Ablauf des Bogenschießens können wir wie bei Buddha, Nagarjuna und Dogen als Prozess verstehen, der die drei Phasen hat: Entstehen, Andauern und Vergehen. Dabei hat Entstehen einen bestimmten Vorlauf und zur Ruhe-Kommen einen Nachlauf. Und alles hängt als lebender Prozess zusammen. Aber das Beste: Gelungene Schüsse, die Magie des Augenblicks, erzeugen eine fast unbegreifliche Freude, die noch länger anhält, manchmal einen halben oder ganzen Tag. Und sie lösen miese Stimmungen, Frustrationen und Enttäuschungen durch Dritte auf.

Es wird klar, dass der fortlaufende Prozess sich jeweils aus sich selbst entwickelt, sich mit der Übung immer mehr verfeinert und immer weniger willentlich gesteuert werden muss. Das trainiert die über den Verstand hinausgehende Intuition.

Bis es wie bei Herrigel heißt: „Es hat geschossen“. Das Entscheidende ist der Augenblick und der dynamische Ablauf, also der Prozess von Mensch, Bogen, Sehne, Pfeil, Ziel usw.. Nach dem Ablauf dieser Dreiheit Entstehen, Dasein und Vergehen, die beim japanischen Bogenschießen zwischen 6 und 20 Sekunden dauert, kann ein neuer Prozess für einen zweiten Schuss ablaufen.

Diesen Ablauf können wir als Dharma der Dynamik auffassen, da er die drei Phasen Entstehen, Andauern und Vergehen umfasst. Der große indische Meister Nagarjuna beschreibt dieses Phänomen im siebten Kapitel des Mittleren Weges, MMK, das leider häufig missverstanden wird. Beim Bogenschießen wird klar: Entstehen, Dasein, Augenblick und Vergehen können nicht getrennt werden, sie wirken aufeinander. Oder ganzheitlich: Gemeinsames vernetztes Entstehen in Wechselwirkung (pratitya samutpada).

Ich finde es erstaunlich, dass Buddha, Nagarjuna und Dogen jeder auf seine Weise diese grundlegenden Regeln des Lebens und seiner Entwicklungen so klar erkannt und präzise analysiert haben.

Philosophische Anmerkung zum griechischen Denken: Heidegger hat sich wohl in seinen späten Jahren mit Zen und Tao beschäftigt und nach Reinhard May in seine Philosophie integriert: "Heideggers verborgenen Quellen". Für Heidegger ergibt sich m. E. das Ereignis als Zeit und Sein, also die Ganzheit von Sein-Ereignis-Zeit. Das Sein ist bei ihm nach meiner Einschätzung nicht wie meist in der klassischen westlichen Philosophie von der Zeit unabhängig, also ewig und unveränderlich. Im Gegenteil: Es gibt dann Sein in der Gegenwart und damit im Augenblick der Zeit. Die traditionelle Metaphysik des Seins, aus dem Seienden entwickelt, könne man nach Heidegger auf sich beruhen lassen, (Vortrag "Zeit und Sein" 1962). Und weiter zu seinem zentralen Begriff des Ereignisses: "Mit dem Ereignis wird überhaupt nicht mehr griechisch gedacht (May, S. 63).

Heidegger sagt m. E. nichts anderes, als dass er die bisherige Philosophie auf der Basis des griechischen Denkens mit der Bedeutung des Ereignisses weitgehend verlassen habe. Er fügt hinzu, nach May allerdings verschlüsselt formuliert, dass er im Kontakt mit der ostasiatischer Philosophie des Tao und Zen neu ansetzt und diese in seine Philosophie integriert, vermutlich weil er sie für ergiebig und zukunftsweisend hält. Das finde ich wirklich spannend: Und zwar auch und gerade für die zentrale philosophische Frage nach dem Sein.

Er nennt seinen eigenen Denkweg die "tiefverborgenen Verwandschaft" (mit Tao und Zen).

Buddha und Nagarjuna könnten dem m. E. weitgehend zustimmen und Dogen würde zudem das Handeln im Augenblick betonen. Die westliche Philosophie könnte nach Derridá auch so aus ihrer Euro-Zentrierung herauskommen. Eine solche Wechselwirkung ist auch das Ziel meiner eigenen Arbeit: Die östliche Philosophie hält große Schätze für die eigene Befreiung und Emanzipation bereit, praktisch und theoretisch.