Samstag, 28. Juli 2007

Das verwirklichte Universum ( Genjô -kôan)


Die wörtliche Übersetzung der japanischen Bezeichnung von Genjô-kôan (Kap. 3) bedeutet das „verwirklichte Gesetz der Welt oder des Universums“, also die Buddha-Lehre oder der Dharma. Durch die Verwirklichung kommt es zu einer Einheit zwischen diesem Gesetz und dem wahren Leben in dieser Welt, so dass die ganze Wirklichkeit voll zum Zuge kommt. Dieses Kapitel gehört zweifellos zu den wichtigsten des Shôbôgenzô und stand daher in der kürzeren Fassung von 75 Kapiteln ganz am Anfang.
Auf dem Buddha-Weg ist es wichtig, dass wir uns der Vielfalt der Welt und der Lehre des Dharma anvertrauen und nicht durch unnötigen Aktionismus versuchen, die Erleuchtung und Verwirklichung der Wahrheit mit Gewalt und zum eigenen egoistischen Vorteil zu erreichen. Die Täuschungen, die im ersten Satz des folgenden Zitates aus dem Shôbôgenzô angesprochen werden, sollten wir so klar wie möglich erkennen und nicht innerhalb der Täuschungen diese selbst weiter verstärken und fortsetzen. Dadurch würden wir uns immer weiter vom Dharma, also von dem wahren Gesetz der Welt, entfernen.
Selbst mit äußerst geschärften Sinnen, also mit dem ganzen Selbst von Körper und Geist, ist es unmöglich, die Wirklichkeit und Wahrheit dieser Welt ganz zu erkennen. Eine darauf aufgebaute Erfahrung würde auch immer nur eine begrenzte Sicht offenbaren und wäre blind für andere Seiten.
Wir wollen jetzt den ersten zentralen Absatz des Kapitels “Das verwirklichte Universum“ im Shôbôgenzô von Dôgen genauer untersuchen. Ich wende dabei die von Nishijima Roshi entwickelte Interpretation des Inhalts an, denn sonst enden wir schnell in unvernünftigen Widersprüchen, die Dôgen selbst entschieden ablehnte. Er sagte in aller Deutlichkeit, dass die Lehre des Buddhismus gerade im Zen niemals unlogisch und gegen die Vernunft ist! Wer das behauptet, habe den Zen-Buddhismus überhaupt nicht verstanden.
Der erste Absatz dieses Kapitels lautet wie folgt:

“Wenn alle Dharmas als Buddha-Dharma(-Lehre verstanden werden), dann gibt es Illusion und Verwirklichung, gibt es Praxis und Handeln, gibt es Leben und Tod und gibt es Buddhas und gewöhnliche Menschen.

Wenn die unzähligen Dharmas alle nicht vom Selbst sind (also ohne Subjekt und nur materiell verstanden werden), gibt es keine Illusion und keine Verwirklichung, keine Buddhas und keine gewöhnlichen Menschen und kein Leben und keinen Tod.

Die Wahrheit Buddhas übersteigt ursprünglich Überfluss und Knappheit (also Bewertungen) und daher gibt es (wirklich) Leben und Tod, gibt es Illusion und Verwirklichung und gibt es gewöhnliche Menschen und Buddhas.

Und obgleich dies so ist, ist es nur, dass die Blüten fallen, obwohl geliebt, und das Unkraut wuchert, obwohl ungeliebt.“

Was will uns Meister Dôgen mit diesen überaus wichtigen aber nicht gerade einfach zu verstehenden Sätzen sagen? Zweifellos gehören sie nämlich zum Kern der buddhistischen Lehre überhaupt.
Beim genauen Lesen dieser vier Sätze können wir erkennen, dass jeweils vier verschiedene Sichtweisen oder besser Lebensphilosophien dargestellt werden. Im ersten Satz wird ausgedrückt, dass zwischen Illusion und Verwirklichung, zwischen Praxis und Handeln, zwischen Leben und Tod und zwischen Buddhas und gewöhnlichen Menschen unterschieden wird, wenn die Welt und das Leben auf der Grundlage einer idealistischen Methode des Denkens verstanden werden. Zu diesem Denken und diesen Ideen gehören dann auch die Theorie und Lehre des Buddha-Dharma. Dem Ganzen liegt meist die Vorstellung eines getrennten denkenden Ich zu Grunde.
Im zweiten Satz wird dagegen eine ganz andere Grundlage und Methode des Denkens gewählt. Es handelt sich hier um den vollkommen materialistischen Standpunkt, der wörtlich durch die Formulierung, gekennzeichnet ist: "Wenn die unzähligen Dharma alle nicht vom Selbst sind", also kein subjektives Denken besteht, dann gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen Illusion und Verwirklichung, Buddhas und gewöhnlichen Menschen oder Leben und Tod. Mit anderen Worten können dann die Bedeutungen dieser Begriffe und Gedanken gar nicht erkannt und verstanden werden, denn aus materialistischer Sicht kann man z.B. nicht von Illusion oder Verwirklichung, von Buddhas und normalen Menschen usw. sprechen. Die materielle Sicht kennt nur das Wahrgenommene und keine spirituellen Inhalte. Dies ist auch meist das Lebensverständnis der heutigen Naturwissenschaft
Der erste und zweite Satz geben demnach genau die Weltanschauung und Sichtweise des Idealismus und Materialismus wieder und beide fallen in die Gruppe intellektueller verstandesmäßiger Philosophien. Sie sind bekannte Beispiele philosophischer Systeme, die durch Denken und Worte ausgedrückt und verstanden werden. Diese verstandesmäßigen Weltanschauungen und Philosophien sind aber etwas grundsätzlich anderes als die praktischen und wahren Dimensionen der Wirklichkeit des obigen dritten und vierten Satzes des Kapitels „Das verwirklichte Universum“ (Genjô kôan) von Meister Dôgen. Im dritten Satz wird die Buddha-Wahrheit beschrieben und die Lebenspraxis dargestellt, die über Theorie, Denken und Bewertungen hinausgeht.
Im vierten Satz sagt uns Dôgen, dass wir nicht in einer idealen Welt wie in einem Paradies leben, sondern dass wir es mit fallenden Blüten und wucherndem Unkraut zu tun haben, aber dass wir uns davon nicht entmutigen lassen sollen, da wir im Besitz der Buddha-Wahrheit und der Übungspraxis sind.
Dann geht Dôgen auf das für ihn so wichtige Handeln des Menschen ein und sagt, dass wir bei egoistischen subjektiven Zielen, die dem Eigennutz dienen, uns selbst in Täuschungen und Illusionen verfangen. Wenn dagegen die zehntausend Dharmas dieser Welt uns aktiv zum Tun und Handeln bringen, wir also ohne Gier nach Ruhm oder Profit so handeln, wie es von der Situation her sein muss, ist das Erwachen. Dies sind auch Kernaussagen zur richtigen Zazen-Praxis, die nicht mit der Gier nach Erleuchtung belastet und verzerrt werden dürfen.
Dann wird der Dharma-Weg wie folgt erläutert:

"Buddhas Wahrheit zu erkennen bedeutet, uns selbst zu erkennen. Uns selbst zu erkennen bedeutet, uns zu vergessen. Uns zu vergessen bedeutet, von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden. Von den vielen, vielen Dharmas erfahren zu werden bedeutet, unseren eigenen Körper und Geist und den Körper und Geist der äußeren Welt fallen zu lassen".

Wir müssen uns also auf dem Buddha-Weg von bisherigen vorgefassten und eingefahrenen Gedanken, Vorstellungen und Gefühlen befreien, um offen für eine neue Entwicklung und Wahrheit zu sein. Dabei ist es notwendig, sich der Vielfalt der Welt zu öffnen und sie zu erfahren. Es ist weiterhin notwendig, sich von dem subjektiven Körper und Geist, also dem Ich, zu befreien und wie Dôgen dies sagt, „Körper und Geist fallen zu lassen“. Wir müssen auch die sog. objektive Welt des Äußeren und des Körpers sowie den eigenen ruhelosen Geist „fallen lassen“. Im Sinne von Nishijima Roshi bedeutet dies nichts anderes, als sich von der Lebensphilosophie und der Lebenswelt des einseitigen Idealismus oder Materialismus zu trennen und sich ebenfalls von den damit verbundenen beengten Vorstellungen und Gedankenkonstrukten zu befreien. Wir sollten uns auch nicht in der einseitigen Welt der sinnlichen Wahrnehmungen und in deren vordergründigen Genüssen verlieren.
Die meisten Menschen haben sicher eine mehr oder minder feste bewusste Vorstellung von einem unveränderlichen eigenen Ich, das sich zwar im Laufe des Lebens in gewissem Umfang verändert und vielleicht auch weiter entwickelt, das aber doch einen konstanten Kern besitzt. Gautama Buddha hat immer wieder in aller Klarheit auf diesen Irrtum und diese uns lieb gewordene Illusion hingewiesen. Dôgen erläutert diesen Zusammenhang durch ein Gleichnis: Wenn man in einem Boot sitzt und auf dem Meer fährt und dabei nur das Ufer und das Land beobachtet, denkt man, dass man selbst, also das Ich, still steht und sich das Land also die Außenwelt bewegt. Wenn man jedoch nach unten schaut, die Bootskante und direkt das durchfahrene Wasser ansieht, stellt man fest, dass man sich selbst bewegt, und das Land und die Küste ruhig und unbeweglich daliegen. Ähnlich sei es ein grundsätzliches Missverständnis, dass der Körper und Geist, also das Ich, dauerhaft und unvergänglich sind und sich nur die Umgebung verändert oder verändern muss. Wenn wir dagegen die Illusion eines statischen und „dinghaften“ Ich verlassen und das Handeln im Augenblick in den Mittelpunkt stellen, können wir unmittelbar in der Wirklichkeit und Wahrheit leben. Diese buddhistische Lehre ist vielleicht zunächst verblüffend, entwickelt jedoch im praktischen Leben eine ganz neue Kraft.
In einem weiteren Gleichnis erläutert Dôgen die Eigenstständigkeit der verschiedenen Dinge, Phänomene und Zustände in dieser Welt: Wenn das Feuerholz zu Asche verbrannt ist, sind Feuerholz und Asche zwei völlig verschiedene Situationen, die im Hier und Jetzt je ganz unabhängig voneinander da sind, obgleich wir sie durch unseren Denkvorgang meist unbemerkt und automatisch verbinden. Diese Verbindung ist aber in der Wirklichkeit so gar nicht vorhanden. In der Wirklichkeit kann sich die Asche niemals wieder zurück in das Feuerholz zurück verwandeln, das Feuerholz und die Asche haben damit je ihren eigenen Platz in der Welt und im Dharma. Ähnlich ist es beim Menschen: Das Leben und der Tod sind je eigenständig und nach dem Tod kann sich das Leben nicht wieder zurück verwandeln. In der wahren Sichtweise des ganz kurzen Augenblicks in der Gegenwart gibt es damit kein Entstehen und Vergehen, sondern die Umstände existieren je für sich und offenbaren dann den Dharma und die Wahrheit.
In einem solchen Zustand der Wahrheit oder Erleuchtung verwendet Dôgen das im Buddhismus häufig verwendete Bild des Mondes:
"Ein Mensch, der Erleuchtung erlangt, ist wie ein Mond, der sich im Wasser spiegelt und verweilt: Der Mond wird nicht nass und das Wasser wird nicht zerteilt. Obgleich das Licht (des Mondes) weit und groß ist, verweilt es in einer (kleinen) Fläche von einem Fuß oder einigen Zentimetern (der Breite und Länge). Der ganze Mond und der ganze Himmel spiegeln sich in einem Tautropfen auf einem Grashalm und in einem einzigen Wassertropfen".
Dieses poetische Bild des sich spiegelnden und verweilenden Mondes macht deutlich, dass es in der Wirklichkeit keine gegenseitige Behinderung, Einengung oder Verkrampfung gibt. Dabei sollten wir vom jetzigen Augenblick ausgehen und gleichzeitig darüber nachsinnen, wie lang oder wie kurz ein Augenblick wohl ist. Weiterhin können wir fragen, wie eng oder wie breit wohl der Himmel und der Mond sind.
Am Beispiel der Fische im Wasser und der Vögel in der Luft erläutert Dôgen dann, dass jedes Lebewesen seinen eigenen Platz, seinen Lebensraum, seine Verwirklichung und seine Wahrheit in der Welt hat. Wenn ein Fisch das Wasser verlässt, muss er sterben und wenn ein Vogel vom Himmel auf die Erde herunterfällt, stirbt er ebenfalls. Wenn der Fisch und der Vogel in ihrem angestammten Element bleiben, haben sie ihren richtigen Platz in der Welt und im Dharma.
Schon Gautama Buddha wies darauf hin, wie vielfältig die jeweiligen Sichtweisen und Verständnismöglichkeiten der Welt sind: Der Ozean ist für die Fische ein Palast, für die Götter eine Perlenkette. Der Buddha-Weg bedeutet, dass wir aus dem Staub und Dunst des sog. normalen Lebens hinaustreten, so dass es dann keine räumlichen oder psychischen Grenzen und Hindernisse mehr gibt. Dôgen sagt weiter:
"So können wir das Wasser als Leben verstehen und den Himmel als Leben verstehen. Vögel sind Leben und Fische sind Leben. Es mag wohl sein, dass Leben Vögel und Fische sind. Wenn wir so unseren Platz finden, ist dieses Handeln ohne jeden Zweifel die Welt und das Universum selbst“.
Weiter heißt es:
Wenn ein Mensch in diesem Zustand Buddhas Wahrheit praktiziert und erfährt, erlangt er ein Dharma und durchdringt ein Dharma und er begegnet dem Handeln und vollzieht das Handeln. Dabei ist es nicht nötig, dass wir ein ausgeprägtes Bewusstsein von dem Allem haben und das Ganze mit dem Verstand erkennen.“
Am Ende dieses wichtigen Kapitels gibt Dôgen eine Kôan-Geschichte wieder: Ein Meister fächelt sich zur Kühlung Luft zu, als ein Mönch vorbei kommt und eine intelligente Bemerkung anbringen will: Er sagt, die Luft habe die allgemeine Eigenschaft, überall anwesend zu sein. Dem Meister ist sofort klar, dass der Mönch in abstrakten allgemeinen Gedankengängen verhaftet und nicht offen für das praktische und konkrete Hier und Jetzt ist. Auf die folgende Frage des Mönchs, warum sich der Meister denn die Luft zufächelt, antwortet dieser daher feinsinnig, dass es in der Tat keinen Ort in der Welt gäbe, an dem keine Luft vorhanden sei. Dies ist also inhaltlich genau dieselbe Aussage, die der Mönch an ihn gerichtet hat. In der Kôan-Geschichte wird dem Mönch durch diese eigentlich logisch überflüssige Wiederholung dann jedoch schlagartig klar, dass allgemeine theoretische Kenntnisse und angelernte sog. Weisheiten etwas ganz anderes als die Wirklichkeit selbst sind, die man unmittelbar erlebt und erfährt. Wenn einem zu heiß ist, kann man sich durch den Fächer direkt Kühlung verschaffen und erfährt unmittelbar die kühlende Luft und das ist genau die Wirklichkeit. Daher setzt der Meister auch die Unterhaltung mit dem Mönch nicht fort, sondern fächelt sich einfach weiter die kühlende Luft zu. Nicht zuletzt durch dieses Handeln gelingt es, dass der Mönch von allgemeinen und abstrakten Ideen wegkommt und unmittelbar zur Wirklichkeit des Hier und Jetzt durchbricht. So fiel es dem Mönch durch das Handeln des Meisters wie Schuppen von den Augen und sein Körper und Geist erfuhren sicher eine ganz neue frische Kraft.
Dies ist das verwirklichte Universum.