Samstag, 14. Juli 2007

Ein Gespräch zum Streben nach der Wahrheit (Bendôwa)

1. Buddhistische Lehre

Das erste Kapitel "Ein Gespräch über die Praxis des Zazen" (Bendowa) in dem großartigen Werk von Meister Dôgen: "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Shôbôgenzô) ist ein Dialog über die Wahrheit und vor allem über die Praxis des Zazen, die ganz wesentlich für den Weg des Buddha-Dharma zur Befreiung von geistigen und körperlichen Verkrampfungen und zum Erwachen ist.


Der große Buddha in Kamakura

Dieses Kapitel steht am Anfang des vierbändigen Werkes Shôbôgenzô, das aus 95 Kapiteln besteht und macht dessen große Bedeutung deutlich. Im Folgenden möchte ich dieses Kapitel auf der Grundlage der Interpretation von Nishijima Roshi erläutern
Die Praxis des Zazen ist nach Dôgen das

"Tor des Friedens und der Freude zum Dharma"

und löst Hindernisse und Blockaden des Denkens und Fühlens auf. Körper und Geist sind in unserem normalen, ungeschulten Bewusstsein eng mit der Vorstellung und Fixierung auf ein Ich verbunden, das sich bedroht fühlt und das auf sich selbst konzentriert ist. Nach der Lehre Gautama Buddhas ist dies aber die Ursache für vieles Leiden des Geistes und des Körpers oder wie wir heute sagen würden, der Psyche. Der Zen-Buddhismus lehrt uns in Theorie und Praxis, wie wir zur Wirklichkeit und Wahrheit selbst gelangen können und damit ein freies, friedliches Leben voller Freude führen können. Dabei ist die Zazen-Praxis oder wie es im Indischen heißt, das Samadhi, ein zentrales Moment und der Kern der Übungspraxis. Beim Zazen werden Gedanken, Bilder und Emotionen zum Verschwinden gebracht, so dass der normale Alltagsgeist überschritten wird und wir den wahren Geist vor allem von quälenden und einengenden Vorstellungen befreien.
Dôgen selbst hatte auf der Suche nach dem wahren Buddhismus, den er in Japan seinerzeit nicht finden konnte, in China schließlich seinen eigenen Meister (Tendô Nyojô) getroffen, bei dem er lernte, dass die vielfältigen theoretischen Probleme und Fragestellungen der buddhistischen Philosophie meist nicht weiterführen und dass das Zazen als Übungspraxis hinzukommen muss, damit man die buddhistische Lehre überhaupt "versteht". Dôgen verwendet gern für Zazen und den Zugang zum Buddha-Dharma die Formulierung

", Dass sich das Selbst empfängt und sich erfährt".

Das wahre „Selbst“, das sich durch diese Übungspraxis intuitiv und ganzheitlich eröffnet, hat den Bereich der Unterscheidung von Ich und Du, von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt und all den vielen Dualitäten und Bewertungen, welche die meisten Menschen in ihrem Leben vornehmen, verlassen und gelangt in das unmittelbare Handeln und Schauen in der Gegenwart. Dôgen verachtet und negiert allerdings keinesfalls allgemein die theoretische Lehre oder bestimmte Bilder und Vorstellungen. Er betont jedoch immer wieder, dass dies einseitig, unvollständig und nur ein Teil der Wirklichkeit und Wahrheit sei und dass das Handeln und die Praxis des Zazen hinzukommen müssen, damit wir überhaupt Zugang zum wahren Buddhismus haben und überhaupt ein Leben der Freude mit der Überwindung des Leidens führen können.
Dôgen schreibt, dass er nach der Rückkehr von China nach Japan die große Verpflichtung in seinem Leben erkannte, sich fortan der Lehre und Verbreitung des wahren Buddhismus zu widmen. Offensichtlich wusste er um die Einzigartigkeit der buddhistischen Wahrheit, die er selbst erfahren und studiert hatte und beschloss daher, neben den mündlichen Vorträgen umfangreiche Schriften zu verfassen, die zu den größten Schätzen der menschlichen Kultur überhaupt zählen. Wenn der ehrliche Wille zur Wahrheit durch falsche Lehrer und falsche Theorie fehlgeleitet werde, enstünden große Schäden beim Menschen, die oft nicht umkehrbar sind und Dôgen fügt hinzu, dass es dann besser sei, überhaupt nicht den Buddha-Dharma zu studieren und zu erlernen. Daher sei auch die authentische Weitergabe des Buddha-Dharma von einem wahren Meister zu seinem Nachfolger von so großer Bedeutung. Diese authentische Übermittlung der Lehre und Praxis lässt sich für jeden Meister bis auf Gautama Buddha selbst zurückführen und ist sorgfältig dokumentiert. In der Linie von Dôgen haben vor allem die Meister Nâgârjuna, Bodhidharma, Daikan Enô und Tendô Nyojô eine herausragende Bedeutung und sie werden häufig als "ewige Buddhas" bezeichnet. Dôgen betont, dass in dieser ununterbrochenen Kette von Nachfolgern immer die Zazen-Praxis authentisch übermittelt wurde, so dass sie bis zum heutigen Tag im Zen-Buddhismus erhalten und lebendig ist. Er formuliert die Zazenpraxis in seiner kräftigen Sprache eines Dichters:

"Mit einem Mal überschreiten Millionen von Dingen ihre herkömmliche Erfahrung und Erkenntnis. Wir sitzen aufrecht wie der König unter dem Bodhi-Baum (Gautama Buddha) und drehen und verkünden in einem Augenblick das große Dharma-Rad, das in seiner vollkommenen Ausgewogenheit nicht seines gleichen hat und die Millionen von Dingen verströmen das unübertroffene, unmittelbare und tiefe Prajna".

Der Mensch, der im Zazen sitzt, erfährt intuitiv und ganzheitlich, dass er Körper und Geist, also auch das kleine ängstliche oder aggressive Ich fallen lässt und die festgefahrenen Ansichten, Gedanken und Gefühle jäh abschüttelt. Dies ist nach dem großen lebenden Meister Nishijima die erste Erleuchtung und die Erfahrung, ein Buddha zu sein. Die erste Erleuchtung ist kein willentliches Tun und das Erreichen eines vorgestellten Zieles, weil dadurch das wahre Handeln des Zazen gerade unmöglich und verhindert würde. Von wesentlicher Bedeutung ist allerdings der feste und klare Wille zur Wahrheit und das tiefe Vertrauen, dass die Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt das Leiden überwindet und auflöst. Wenn der Wille zur Wahrheit den Menschen auf den Buddha-Weg geführt hat und er die Zazenpraxis ausführt, ereignet sich die erste Erleuchtung unmittelbar, und dann verschwinden die Gedanken des normalen Verstandes und die von Gier gesteuerten Emotionen und Ängste. Dann verflüchtigen sich Zwangsvorstellungen und Zwangsbilder.

2. Antworten zur Zazenpraxis auf diverse kritische Fragen

Dôgen behandelt im Folgenden die wichtigsten Fragen zum Zazen und zum Buddha-Dharma in Form eines Gespräches mit einem kundigen, aber durchaus kritischen Partner und grenzt Zazen als Streben nach der Wahrheit von falschen oder unklaren Lehrmeinungen ab. Er vertieft dabei die wahre Bedeutung und Kraft, die er nach langer ausdauernder Suche selbst in China durch seinen eigenen Meister Tendô Nyojô erlernt und erfahren hatte.
Er bezeichnet gegenüber seinem Gesprächspartner die Zazenpraxis als das wahre Tor zum Buddha-Dharma und macht auf die Frage, ob dies das einzige wahre Tor sei, ganz deutlich, dass alle Buddhas und Vorfahren im Dharma des westlichen Himmels (Indien) und des östlichen Landes (China) den Weg durch Zazen vollendet haben. Dies sei keineswegs müßiges Sitzen in Untätigkeit, und auch das Lesen der Sutren und Rezitieren von Buddhas Namen komme dem Zazen keineswegs gleich, denn dies sei das Samadhi der Buddhas, "in dem sich das Selbst empfängt und sich erfährt". Es sei wirklich eine Erfahrung und intuitive Erkenntnis jenseits des normalen Denkens des Alltags und kann in seiner Klarheit und Unmittelbarkeit fast als schmucklos bezeichnet werden. Romantische Verzierungen und Träumereien sind dem Zazen fremd. Einseitiger Verstand, Einbildungen, Vorstellungen und Erinnerungen sind etwas anderes als diese Übungspraxis, die niemals nach Ruhm und Gewinn strebt, sondern im Handeln selbst erfüllt und vollendet ist. Aber Zazen ist auch keine getrennte nur körperliche Übung, denn dann wäre wieder die Einheit von Körper und Geist zerstört und wir wären im puren Materialismus verfangen. Es wird ganz klar, dass die lebendige und authentische Übertragung vom Meister auf den Schüler von wesentlicher Kraft und Bedeutung für diese Praxis ist, die Körper und Geist gleichermaßen umfasst.
Man solle auch nicht versucht sein, das Zazen mit den anderen Schulen, die es damals in China und Japan gab, zu verwechseln, weil derartige Diskussionen zur Überlegenheit oder Unterlegenheit sowie die Unterscheidung zwischen Oberflächlichkeit und Tiefe im Dharma unsinnig sind. Worte, und seien sie auch noch so poetisch, können immer nur auf die große Wahrheit hinweisen, sie aber nicht ersetzen und sind dauernd in Gefahr, in Spitzfindigkeiten auszuarten oder romantische Träumereien, die vom Hier und Jetzt wegführen, zu erzeugen. Dôgen macht deutlich dass die Zazenpraxis uns Klarheit gibt, wann unser Geist sich in abstrakten Vorstellungen verloren hat und dann wirklich in die Gegenwart des Hier und Jetzt als Einheit von Körper und Geist zurückkommt. Dann wird auch die Trennung von Welt und Ich überwunden und wir finden zur umfassenden Einheit zurück. So könne man die große buddhistische Wahrheit empfangen, sie schauen und im Handeln benutzen. Aus der Erfahrung von Dôgen ist Zazen als Übung des Gleichgewichtes (Formulierung von Nishijima Roshi) von unschätzbarem Wert und darf auf keinen Fall auf dem Dharma-Weg übergangen werden, wenn man sich z. B. nur auf die übrigen Bereiche des achtfachen Weges zur Überwindung des Leidens konzentriert. Dabei darf man sich auch nicht an der Bezeichnung "Zen-Schule" festhalten, denn diese Bezeichnung wurde dem indischen Meister Bodhidharma erst in China gegeben, als er dort Zazenpraxis übte und die damaligen chinesischen Mönche und Laien noch wenig Verständnis dafür hatten.
Im weiteren Verlauf des Gespräches erläutert Dôgen, dass das Sitzen im Zazen nach seiner eigenen tiefen Erfahrung eine wesentliche Übung sei, die auch auf die anderen von Buddha genannten Tätigkeiten, wie Gehen, Stehen, Liegen, Arbeiten usw., kräftig ausstrahlt. Dôgen formuliert dies wie folgt:

"Zazen ist das Dharma-Tor des Friedens und der Freude" und dabei sollte man
"Körper und Geist fallen lassen".


Es sei eine völlig irrige Ansicht, dass Zazen nur von Anfängern und Fortgeschrittenen praktiziert werden sollte und dass Meister und "Vollendete" diese Praxis nicht benötigen. Dôgen macht im Gespräch unmissverständlich klar, dass Zazen für alle im Buddhismus wesentlich, notwendig und nicht zu ersetzten sei. Wenn wir Körper und Geist fallen lassen, uns nicht durch ehrgeizige Zielvorstellungen verkrampfen, was wir unbedingt erreichen wollen, sondern das Sitzen als Handeln selbst verwirklichen, dann werden wir von dieser wunderbaren Übung durchdrungen. Dies bezeichnet der lebende Meister Gudo Nishishima als erste Erleuchtung. Zazen ist dann unmittelbares, unverstelltes Handeln in der Gegenwart, das sich selbst vollständig genügt und von dem nichts weggenommen und dem nichts zugefügt werden kann. Die Zazenpraxis wird daher auch von Meistern immer weiter geübt und ist niemals in diesem Leben zu Ende.
Bereits in den Reden Gautama Buddhas heißt es häufig, dass man sich mit gekreuzten Beinen an einem ruhigen Ort im Samadhi niedersetzen solle. Daher sei die Zazenpraxis seit Buddha von einem Meister zum anderen in einer nicht unterbrochenen Kette übertragen worden, obwohl es diesen Begriff im alten Indien noch nicht gab, denn dieser wurde erst in China geprägt.
Die alte indische Vorstellung des Brahmanismus von einer ewigen konstanten Seelenessenz, die bei der Wiedergeburt von einem Körper zum anderen wandert, bis sie den Kreislauf dieser Welt vollendet hat und in das ewige Nirwana eingeht, sei ganz unrichtig. Dôgen grenzt die Zazenpraxis in aller Klarheit von dieser idealistischen Vorstellung ab und macht noch einmal deutlich, dass derartige Träume und Vorstellungen von der Wahrheit wegführen und überhaupt nicht in der Lage sind, das eigene Leiden zu überwinden. Im Hier und Jetzt gibt es eine unteilbare Einheit, in der Körper und Geist in sich selbst, mit der Welt und mit dem Universum eine untrennbare Einheit bilden. Daher ist die Vorstellung einer isolierten Seelenessenz im Buddhismus nicht haltbar und führe in die Irre. Auch die Vorstellung eines zukünftigen Lebens in einer neuen Inkarnation und das Eingehen in das Nirwana sei mit der buddhistischen Erfahrung der wahren Sein-Zeit im gegenwärtigen Augenblick nicht vereinbar und sei eine Produktion des Verstandes, die sich von der Wirklichkeit abgelöst habe.
Zazen kann jeder praktizieren, unabhängig davon, ob er gemäß der buddhistischen Lehre und nach den buddhistischen Geboten ein wirklich reines Leben führt oder nicht. Es sei also keinesfalls nur den Mönchen und Nonnen mit reinem Lebenswandel vorbehalten, steht also jedem offen und sollte auch von jedem praktiziert werden. Dabei sei es völlig unsinnig, zwischen Mann und Frau zu unterscheiden und auch viel beschäftigte Laien sind gut beraten, Zazen zu praktizieren, selbst wenn der Tagesablauf durch die Arbeit weitgehend ausgefüllt ist und scheinbar keine zeitliche Lücke besteht, um zu praktizieren. Dôgen spricht in diesem Zusammenhang den chinesischen Minister Hyo an, der regelmäßig Zazen praktizierte und neben seinen Amtsgeschäften in der Regierung als Zazen-Praktizierender weit im Lande bekannt und berühmt war. Wer das Streben und die Entschlossenheit zur Wahrheit mit der Übungspraxis des Zazen hat, werde trotz seiner weltlichen Aufgaben und Pflichten zweifellos Klarheit erlangen. Dabei sind bestimmte Theorien zum Niedergang des Buddhismus, die schon im alten Indien aber auch in China und Japan weit verbreitet waren, völlig unwesentlich, so dass die Aussage, man könne nicht Zazen praktizieren, weil man im Zeitalter des buddhistischen Niederganges lebe, ein Hirngespinst sei und an der Wirklichkeit vollständig vorbeigeht.
Eine scheinbare Erkenntnis, dass unser Geist ohne Anstrengung schon Buddha sei, muss ebenfalls als bloßes Wissen und Theorie durchschaut werden und kann damit niemals die Kraft der Übungspraxis in der Gegenwart des Hier und Jetzt erreichen. Das Wissen allein kann ohne die Einheit von Körper und Geist und das Handeln im Augenblick kaum die nötige Energie entwickeln, die erforderlich ist, um zur Wahrheit zu gelangen. Dieser Unterschied von Wissen und Reden einerseits und der ganzheitlichen Erfahrung im Handeln in der Einheit von Geist, Körper, Universum und Ich werde im Zen-Buddhismus immer wieder hervorgehoben und ist zweifellos ein ganz wesentlicher Beitrag für unsere westliche Kultur, in der die einseitige Theorie meist überschätzt wird und dann auch der Idealismus nur allzu leicht in Ideologien umschlägt. Dies führt u. a. zu den großen Katastrophen und furchtbaren Kriegen mit all ihren Brutalitäten und Unmenschlichkeiten. Nach vielen Jahren der Zazenpraxis kann, wie Dôgen im Gespräch erläutert, die zweite Erleuchtung als plötzlicher Durchbruch erfolgen, und dies wird in vielen Zen-Geschichten glaubhaft berichtet. Aber nach Dôgen ist ein derartiger Durchbruch ohne die Zazenpraxis, die bereits die erste Erleuchtung selbst ist, nicht möglich.
Manchmal kann ein derartiger Durchbruch sich ereignen, ohne dass der handelnde Mensch überhaupt davon weiß oder auch nur eine solche Absicht hatte. Dafür wird in den buddhistischen Geschichten zum Beispiel eine Prostituierte beschrieben, die die große Wahrheit erfuhr, nachdem sie zum Spaß das buddhistische Gewand der Kashaya angelegt hatte. Theoretisches Wissen und Gelehrsamkeit seien zwar nützlich, sind aber nicht ausreichend für diese Wahrheit. Sie steht also Klugen und Dummen gleichermaßen offen und ist nach Dôgen untrennbar mit der Übungspraxis des Zazen verbunden.

3. Begründung der schriftlichen Fassung des Shôbôgenzô

Am Ende dieses Kapitels begründet Dôgen, dass er es für notwendig hält, seine eigenen praktischen und theoretischen Erfahrungen niederzuschreiben und für die Schüler, die ehrlich nach der Wahrheit suchen, verfügbar zu machen. Es gäbe viele falsche und unfähige Lehrer, die bei den Schülern, die an sie glaubten, große Schäden anrichten, und die meist nicht wieder gut zu machen seien. Deshalb sei die wahre und reine Lehre so wichtig und deshalb habe er sich entschlossen, sie schriftlich niederzulegen. Dabei wolle er ohne Verzug an die Arbeit gehen. Wir verdanken Meister Dôgen in der Tat die großen Werke wie: “Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shôbôgenzô) und andere wesentliche Schriften seinem Entschluss, die buddhistische Lehre schriftlich auszuarbeiten.