Freitag, 24. August 2007

Der Geist kann mit dem Verstand nicht erfasst werden (Shin fukatoku)




Im Shôbôgenzô gibt es zwei Kapitel mit derselben Bezeichnung: "Der Geist kann nicht erfasst werden" (Kap. 18 u. 19, Shin fukatoku). Beide Kapitel haben so ziemlich den gleichen Inhalt, wobei eines etwas ausführlicher formuliert ist. Dieses möchte ich hier als Grundlage verwenden.
Nach dem gesunden Menschenverstand denken wir, dass es doch selbstverständlich sei, dass jeder Mensch einen Geist besitzt. Dabei haben wir die mehr oder minder klare Vorstellung von einer Art geistigen Kernsubstanz, die in jedem Menschen vorhanden ist. Häufig wird der eigene Geist auch mit dem eigenen Ich gleichgesetzt. Wenn wir uns jedoch genauer fragen, was der Geist des Menschen eigentlich wirklich ist, kommen wir schnell in Schwierigkeiten. Der deutsche idealistische Philosoph Hegel spricht sogar von einem „Weltgeist“, der also noch über den einzelnen Menschen und das Individuum hinausgeht. Was der Geist nun konkret ist, wird dabei allerdings nicht so klar. Auch die Philosophen Kant, Fichte und Schelling setzen einen Geist bei ihren Betrachtungen voraus und bauen ihre philosophischen Systeme entsprechend auf. Dôgen gibt sich mit einer solchen Annahme allerdings nicht zufrieden.
Häufig wird auch das Denken des Menschen mit dem Geist gleichgesetzt, zumindest haben wir sicher meist den Eindruck, dass wir durch das Denken den Geist erkennen und genauer beschreiben können. In der buddhistischen Lehre wird dagegen ganz klar zwischen dem Denken und dem Geist unterschieden. Der Geist geht weit über das Denken hinaus und häufig wird von der Einheit von Körper und Geist gesprochen. Gleichzeitig wird die unterscheidende Abgrenzung gegenüber dem Universum abgelehnt: Geist und Welt bilden eine unauflösbare Einheit. Dôgen stellt daher die Frage, ob der Geist überhaupt wirklich begriffen und erfasst werden kann, er kommt zu dem klaren Schluss dass der Geist nicht vollständig erfasst werden kann.
Meister Dôgen hat wie gesagt zwei Kapitel über den Geist in sein großes Werk, das Shôbôgenzô, aufgenommen, und die belegt auch, wie wichtig und zentral ihm dieses Thema ist. Dôgen bestreitet in aller Entschiedenheit, dass man den Geist überhaupt durch Denken, Theorien und Philosophien beschreiben kann, sondern für ihn steht das Handeln je im gegenwärtigen Augenblick und dem Hier und Jetzt im Mittelpunkt. Er beschreibt, dass dann man dann sozusagen intuitiv erfährt, was der Geist ist. Aber der Geist ist nicht wie ein konkretes Ding zu verstehen, das man identifizieren, erfassen oder anschauen kann. Der Geist ist also kein Objekt oder Subjekt des Denkens und hierin unterscheidet sich die buddhistische Lehre grundsätzlich von der westlichen Philosophie. In der Lehre der vier Lebensphilosohpien von Nishijima Roshi gehört der Geist also nicht zur ersten Ebene des Idealismus und der Ideen sondern zur vierten der umfassenden buddhistischen Praxis und Wahrheit.
Es gibt in der buddhistischen Lehre eine berühmte Geschichte zwischen einem etwas eitlen Gelehrten und einer einfachen Frau, die am Wegesrand Reiskuchen verkauft. Diese Geschichte hat die wesentliche Aussage des Diamantsutra als Grundlage:

"Der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, der gegenwärtige Geist kann nicht erfasst werden und der zukünftige Geist kann nicht erfasst werden".

Um zu erlernen was dieser Satz bedeutet und was es heißt, dass der Geist nicht fassbar ist, seien theoretische Studien nicht ausreichend, da die Lehre des Buddhadharma unauflösbar mit der Praxis und der authentischen Übertragung durch einen wahren Meister verbunden ist.
Dieser Zusammenhang wird durch die obige Geschichte der alten Verkäuferin für Reiskuchen erläutert. Wie gesagt gab es den sehr berühmten Gelehrten, der weit im Lande als der Beste von etwa achthundert wissenschaftlichen Kollegen der damaligen Zeit bekannt war und selbst umfangreiche Kommentare zum Diamantsutra verfasst hatte. Er rühmte sich, dass er jeden einzelnen Satz und jedes einzelne Wort dieses Sutra kannte und vollständig verstanden hatte. Als er erfuhr, dass es im Süden einen großen Meister gäbe, der auch die Wahrheit des Diamantsutra wirklich erfasst hatte, machte er sich auf den Weg, um sich mit ihm zu messen und es sei hinzugefügt, dass alles dafür spricht, dass er sich mit seinem intellektuellen Können sehr wichtig nahm und sich sehr bedeutsam fand. Auf dem Wege begegnete er nun der alten Frau, die auf seine Frage, wer sie eigentlich ist, sagte:

"Ich bin eine alte Frau, die Reiskuchen verkauft".
Der Meister fragte dann:
"Willst du mir einige Reiskuchen verkaufen? "
Die alte Frau stellte aber zunächst die Gegenfrage:
"Weshalb will der Meister einige Reiskuchen kaufen?"
Dieser sagte nicht ohne Stolz:
"Ich möchte Reiskuchen kaufen, um meinen Geist zu stärken".
Der Meister erklärte ihr dann weiter , dass er der „König des Diamant-Sutra“ sei und dass er die entsprechenden Kommentare bei sich hat. Schließlich sagte die alte Frau nach einigem Überlegen:


"Ich hörte einmal, dass im Diamantsutra folgendes geschrieben steht: Der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, der gegenwärtige Geist kann nicht erfasst werden und der zukünftige Geist kann nicht erfasst werden. Welchen Geist will der Meister mit meinem Reiskuchen stärken? "


Sie fügte dann hinzu, dass sie ihm nur dann den Reiskuchen verkaufen wolle, wenn er die Frage beantworten könne.
Nach der alten Geschichte wusste der Gelehrte nicht, was er überhaupt sagen sollte, so dass es ihm tatsächlich die Sprache verschlug. Er bekam daher auch nicht den Reiskuchen von der alten Frau und empfand das Ganze als bittere Niederlage. Allerdings setzte er dann seine Reise zu dem großen Meister fort, wurde sein Schüler und erhielt schließlich die Dharma-Übertragung und Bestätigung als buddhistischer Meister, weil er seine bisherige rein theoretische Sicht überwunden hatte und die Praxis von Körper und Geist erlernte und damit Zugang zum wahren Inhalt des Diamantsutra gefunden hatte.
Was bedeutet nun die Aussage, dass der Geist nicht erfasst werden kann? Dôgen lehnt zunächst die Vorstellung ab, dass es überhaupt keinen Geist gäbe und dass man ihn allein deswegen nicht erfassen könne. Er lehnt auch den Gedanken ab, dass der Geist jedem einzelnen Menschen auf natürliche Weise schon immer innewohnt und daher nicht erfasst werden könne. Diese beiden Meinungen entspringen theoretischem Denken des Verstandes und kommen dem Buddha-Dharma überhaupt nicht nahe. Aber es sei auch nicht klar bei der obigen Geschichte, ob die alte Frau, die häufig von den Schülern so hoch gelobt wird, wirklich in der Wahrheit des Buddha-Dharma gewesen ist. Dann hätte nämlich der Gelehrte sie unbedingt befragen müssen, so dass sie ihrerseits zeigen musste, wie sie diese Aussage des Diamantsutra versteht. Das war aber nicht geschehen und Dôgen sagt, dass eine solche Frage auch nur jemand stellen kann, der

"das strahlende Licht und die klare Erscheinung eines ewigen Buddha hat".

Dabei müsse es zu einem buddhistischen Handeln des

Aufgreifens und wieder Loslassens“

kommen und man dürfe sich weder auf die eine noch auf die andere Idee und Antwort versteifen und daran festhalten.
Wie in dem Kapitel „Sein-Zeit des Hier und Jetzt“ behandelt wird, gibt es im Buddhismus eine unauflösbare Einheit der Wirklichkeit und Wahrheit einerseits mit der Zeit andererseits. Geist und Zeit sind daher ohne jeden Abstand und ohne jede Unterscheidung, so dass "kein Haar dazwischen passt". Unterscheidendes Denken basiert immer auf der Verstandestätigkeit, und kann daher nur die gedankliche und theoretische Teilsicht der Wirklichkeit und Wahrheit vermitteln. Die Gedanken und Ideen des Menschen sind damit auch nur ein kleiner Teil des Geistes und dürfen nicht mit ihm verwechselt werden. So kommen wir mit Dôgen zu einer ersten wesentlichen Aussage: Der Geist umfasst das ganze Leben und Sterben und Kommen und Gehen, ist also das Handeln und das Leben selbst. Diese totale Wirklichkeit kann nicht erfasst werden, sondern es gibt nur einen intuitiven Zugang je in der Gegenwart im Hier und Jetzt im tätigen Handeln. Damit verschiebt sich die Frage, ob man den Geist erfassen kann oder nicht dahin, dass die umfassende Wirklichkeit des Hier und Jetzt nicht begriffen und schon gar nicht mit dem Verstand gedacht werden kann.
Diese Wirklichkeit umfasst auch die Lehre des Buddhismus, und außerdem die konkreten Gegebenheiten und Dinge wie Mauern, Zäune, Ziegel und Kieselsteine. Dann ist diese Wirklichkeit also ganz konkret, vielfältig und Teil unseres Alltags. Der Geist offenbart sich also in der Wirklichkeit, der buddhistischen Praxis und im Alltag, ist aber nichts Dauerhaftes oder Statisches und bleibt nicht irgendwo konstant im Zeitablauf.
Das Denken über den Geist kann also verglichen werden mit dem Abbild des Reiskuchens, und dieses Bild kann man bekanntlich nicht essen, es ist sozusagen nur ein vereinfachtes Modell der Wirklichkeit und daher von bestimmtem Nutzen, weil man dieses „Modell“ ja nicht essen kann, um seinen Hunger zu stillen und sich zu ernähren. Bei der obigen Geschichte kann man also feststellen, dass der Gelehrte zunächst nur die Theorie kannte, also nur das Abbild oder Modell der Wirklichkeit erfasst hatte und erst durch das Lernen unter einem wahren buddhistischen Meister zur Wirklichkeit, Wahrheit und Freiheit vorgestoßen ist. Erst dadurch wurde er von einem Gelehrten zu einem buddhistischen Lehrer und Meister, der wiederum den Buddhadharma für andere lehren konnte.
Im Shôbôgenzô wird dann ein zweites Beispiel einer berühmten Begebenheit berichtet, bei der ein indischer Gelehrter nach China kam und von sich behauptete, dass er den Geist anderer erkennen kann. Der große Meister Daisho sollte dies auf Bitten des Kaisers der damaligen Tang-Dynastie prüfen und stellte dem Gelehrten die scheinbar einfache Frage:

"Sage mir wo bin ich, der alte Mönch, jetzt?"
Der Gelehrte antwortete darauf:
"Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes, warum seid ihr zum Westfluss gegangen, um ein Bootsrennen anzusehen?“
Da der Meister mit dieser Antwort überhaupt nicht zufrieden war, wiederholte er seine Frage und erhielt darauf die Antwort des Gelehrten:
"Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes, warum seid ihr auf die Tianjin-Brücke gegangen, um (jemanden) zu beobachten, der mit einem Affen spielt?"
Da dem großen Meister Daishu dies ebenfalls keineswegs befriedigte, wiederholte er seine Frage noch einmal und erhielt dann aber überhaupt keine Antwort mehr. Daraufhin kritisierte er den Gelehrten:

"Du (hast) den Geist eines wilden Fuchses, wo bleibt deine Fähigkeit, den Geist anderer zu erkennen"?

Auch bei dieser doch recht harschen Kritik blieb der indische Gelehrte sprachlos, weil er offensichtlich auf der Ebene des großen Meister überhaupt nicht in der Lage war, ein Gespräch im Sinne des Buddhadharma zu führen. Wenn man die beiden Antworten bedenkt, muss man in der Tat feststellen, dass sie doch recht platt und einfach sind und nur materielle und durch die Wahrnehmung direkt erkennbare äußere Tatsachen umfassen. Der Gelehrte konnte also den Geist des großen Meisters nicht erkennen, wie es vorher ausgemacht war. Es erwies sich also ganz klar, dass der Gelehrte keineswegs in der Lage war, den Geist des Meisters zu erkennen, wie er vorher behauptet hatte. Dôgen macht darüber hinaus deutlich, dass er noch nicht einmal in der Lage war, die Gedanken des anderen zu lesen, die doch im allgemeinen recht konkret sind und oft im direkten Kontakt in einer bestimmten Umgebung und einem bestimmten Zusammenhang einfach erraten werden können. Wie viel schwieriger sei es, den Geist eines anderen zu erkennen und zumal den Geist eines großen Meisters wie des Daishu. Gelehrtes Wissen und die Beherrschung mehrerer Sprachen haben also wenig damit zu tun, dass man den Geist von anderen oder sich selbst erkennen kann. Nach dem Diamant-Sutra gibt es hier grundsätzliche Grenzen, denn "der Geist kann nicht mit dem Verstand erfasst werden". Den Geist darf man auch nicht mit der Tianjin-Brücke oder dem Westfluss verwechseln, denn zunächst sind dies Objekte der Beobachtung und haben mit dem Geist des Meisters wenig zu tun. Dôgen betont, dass man den Körper und Geist der buddhistischen Lehre erkennen, bewahren und weitergeben kann, wenn man theoretische und praktische Übungen der Buddhawahrheit verbindet und er meint damit vor allem, dass man regelmäßig Zazen praktiziert. Die Unfähigkeit des indischen Gelehrten zeigt sich schon durch seine ersten beiden wenig treffenden Antworten, und weiterhin darin, dass er bei der dritten genau gleichlautenden Frage überhaupt nicht mehr antworten konnte. Trotz seines großen Wissens und seiner Gelehrsamkeit wurde er sprachlos und konnte sich auch nicht gegen die doch recht harsche Kritik des Meisters verwahren. Es sei aber vor allem zu bedauern, dass er die Chance nicht erkannte, bei einem wahren Meister zu lernen. Denn wie häufig begegnet man einem wahren Meister, dem der Buddha- Dharma authentisch übermittelt wurde und der ihn auch authentisch weitergeben kann. Darin liegt auch der grundsätzliche Unterschied bei den beiden Gelehrten in diesem Kapitel: Der erste lernte aus seinem Misserfolg bei der alten Frau, während der zweite beschränkt wie vorher weiter lebte und nicht einmal seine Lernchance erkannte.