Donnerstag, 30. August 2007

Die wahre Bedeutung des Sûtra-Lesens (Kankin)

Im Kapitel "Das Sûtra-Lesen" (Kap. 21, Kankin) geht Meister Dôgen im Einzelnen darauf ein, was es auf dem Buddha-Weg bedeutet, die alten Lehren also die Sûtra zu lesen, zu studieren und zu rezitieren.

Teebüsche beim Kloster Tokein


Er hält das Studium der Lehre des Buddha-Dharma für außerordentlich wichtig, ja für unbedingt notwendig. In diesem Kapitel werden mehrere alte Meister zitiert, die sich bei verschiedenen Anlässen und oft nach entsprechenden Fragen der Mönche oder Schüler zur wahren Bedeutung der Sûtra geäußert haben, was deren Lesen also bewirken kann und was nicht. In einigen buddhistischen Schulen wird dem Lesen und Rezitieren von Sûtra eine zentrale Bedeutung auf dem Weg des Buddha-Dharma gegeben. Dôgen warnt hier aber zu übertreiben, weil die Texte der Sûtra allein nur allzu leicht "Futter" für intellektuelle Spielereien und Fantasien sind und damit das Wesentliche der Buddha-Lehre nicht treffen können.
Gerade im Zen-Buddhismus wird der direkten Erfahrung und der Praxis des Zazen und täglichen Lebens eine außerordentlich große Wichtigkeit zuerkannt. Dies darf auf der anderen Seite aber auch auf keinen Fall zu einer Ablehnung oder Vernachlässigung der alten Schriften des Buddhismus führen und auch dies kann man leider z. T. in einigen buddhistischen Schulen beobachten. Dôgen empfiehlt uns einen mittleren Weg zu gehen, bei der die Sûtra ihre Bedeutung haben, aber mit der persönlichen Belehrung durch den Meister und vor allem mit den eigenen Erfahrungen in der Praxis zusammengehen müssen. Dann ist es möglich, durch das Lesen der Sûtra auf dem Weg wesentlich gestützt und bereichert zu werden, und sich dabei den Buddha-Dharma Schritt für Schritt zu erarbeiten und immer besser zu verstehen. Letztlich können aber nur Buddhas und wahre Meister die Sûtra der Buddhas und wahren Meister umfassend und intuitiv verstehen und begreifen.
Zu Bedeutung der Sûtra sagt Dôgen:

"Im Haus der Buddhas und Vorfahren im Dharma erfahren manche (die Wahrheit) direkt und manche indirekt. Trotzdem bleiben das Lesen der Sûtra und die Belehrung unsere (wesentlichen) Hilfsmittel des täglichen Lebens".

Mit der direkten Erfahrung meint Dôgen die Übungspraxis, vor allem das Zazen, aber auch des Handelns im täglichen Leben, während wir die indirekte Erfahrung des Geistes machen, wenn wir Sûtra lesen oder dem Meister zuhören. Dôgen hat selbst außerordentlich umfangreiche und hervorragende Schriften erarbeitet und uns hinterlassen, so dass wir daraus ersehen können, dass er die schriftlichen Texte der buddhistischen Lehre für notwendig und wertvoll hielt. Nishijima Roshi hat über sechzig Jahre seines Lebens "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Shôbôgenzô) und andere Schriften von Dôgen studiert, bis er sie, wie er es selbst formulierte, vollständig verstanden hatte. Erst mit seiner eigenen Lehre der vier Lebensphilosophien des Buddhismus (Idealismus, Materialismus, Handeln im Hier und Jetzt und der umfassende Lehre des Buddhismus) war es ihm dabei möglich, den großen Wert dieser Texte zu entschlüsseln und an uns weiter zu geben. Dafür gebührt ihm großer Dank!
Die Sûtra wurden in den Tempeln von China und Japan meist gemeinsam im Kloster gelesen oder rezitiert. Sie wurden dort auch abgeschrieben, bei verschiedenen Zeremonien empfangen und als wertvoller Schatz bewahrt. Aber das Lesen der Worte und Sätze der Sûtra allein reicht selbstverständlich nicht aus, um sie zu "verstehen". Trotzdem benötigen wir unbedingt die Lehre, um auf dem Buddha-Weg voran zu gehen, und die Praxis und Erfahrung stützt sich auch auf die Sûtra und auf die Lehren der wahren Meister. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn ihr nicht selbst Buddhas oder Nachfolger im Dharma seid, dann seht, hört, lest, rezitiert und versteht ihr den Sinn der Sûtra nicht".

Es hat also keinen Sinn die alten Schriften nur zu lesen oder auswendig zu lernen, wenn man durch die praktischen Übungen und eigenen Erfahrungen nicht intuitiv und ganzheitlich den Sinn erfasst. Dies geht über das nur intellektuelle Begreifen hinaus und eine einseitige Verstandestätigkeit beim Lesen der Sûtra kann nicht nur hinderlich sein sondern das wirkliche Verstehen sogar unmöglich machen oder auch vergiften. Bei richtigem Lesen begleiten uns die Sûtra tagtäglich und steuern sozusagen, was und wie wir hören, sehen, riechen, tasten und was unser Geist erfährt und erlernt. In diesem Sinne sind auch die Berge, Flüsse, Seen, das Meer, die Bäume, die Gräser, die Kiesel usw. alle Sûtra, die uns lehren und mit denen wir im buddhistischen Sinn eine Einheit bilden.
Meister Dôgen führt in diesem Kapitel einige erstaunliche Zen-Geschichten an, in denen große alte Meister gebeten wurden, Lehrreden für die Mönche zu halten, Sûtra auf Bitten von Laien zu lesen oder auch für einen Spender Sûtra zu rezitieren, der dem Kloster Geschenke machte. Es wird berichtet, dass einige Meister in diesen Fällen stumm geblieben sind und z.B. ihr Zazen-Podest einfach ein- oder mehrmals umrunden, um dann zu sagen, dass sie alle Sûtra gelesen und rezitiert hätten. Dies kann man so erklären, dass mit diesen Geschichten deutlich gemacht werden soll, dass Buchstaben, Worte und Sätze allein nicht die Sûtra sind und dass sie in einer bestimmten Situation oder für einen bestimmte Menschen gerade nicht geeignet sind, um die buddhistische Lehre zu übermitteln. In der Tat kann die große Ausstrahlung eines Meisters beim unmittelbaren Handeln oft stärker und klarer sein, als beim Reden, denn dabei sind immer Missverständnisse möglich. Der Verstand ist nur ein bestimmter „Kanal“ zur Übertragung von Lehrinhalten, und kann oft gerade nicht die intuitive ganzheitliche Lehre des Buddha-Dharma übermitteln. Wenn ein Meister sein Podest umrundet, kann man dabei sein Gesicht, seine Gesten, sein Verhalten und seine Ausstrahlung genau beobachten und dies kann wesentlich stärker wirken als das gesprochene Wort. Liebe und Mietgefühl, die im Buddhismus eine so hohe Bedeutung haben, können durch direktes Handeln und direkte Bewegungen vermutlich deutlicher übermittelt werden als gelesene oder rezitierte Texte, denn man kann ja alles denken und sagen, ob es stimmt oder nicht.
Es wird berichtet, dass ein Mönch, der ein hervorragender Kenner des Lotus-Sûtra war, erst durch den großen Meister Daikan Enô den wirklichen Zugang zum Buddhismus fand, als er folgende Belehrung erhielt:

"Wenn der Geist verwirrt ist, dreht sich die Blume des Dharma,
wenn der Geist erwacht ist, dreht ihr selbst die Blume des Dharma,
wie lange ihr auch rezitiert, wenn ihr nicht selbst klar seid,
wird das Sûtra durch seinen Inhalt zum Feind für euch".


Dôgen erklärt, dass es gefährlich ist, wenn man mit vorgefassten Meinungen oder moralischer Selbstgefälligkeit die Sûtra lesen und verstehen will. Man muss über die Ebene von Worten und Texten hinausgehen, um wirklichen Zugang zur Lehre zu finden. Dann gelangen wir zur Freiheit und erwachen, indem „wir selbst die Blume des Dharma drehen“, das heißt wir gestalten unser Leben selbst und werden nicht von den Umständen und Bedingungen hin und her geworfen. Im Zusammenhang mit dem obigen Gedicht wird berichtet, dass der Mönch durch die Verse des Meisters Daikan Enô tief bewegt war, das große Erwachen erlebte und vor Freude herum tanzte. In einem spontanen Gedicht sagt er u. a.:

"Dreitausend Mal (habe ich) das Sûtra rezitiert, durch einen Satz von Daikan Enô ist alles vergessen",

und er fährt fort, dass er die wesentliche Bedeutung des Wortes Sûtra erst jetzt richtig verstanden habe. Er erhält darauf hin von dem Meister den Namen "Der Sûtra lesende Mönch". Aber das Lesen der Sûtra allein ist mit dieser Bezeichnung nicht gemeint, denn die Bedeutung geht darüber hinaus und ist nicht auf Worte und Sätze fixiert oder dass man vorgefasstes Wissen immer wiederholt. S. Suzuki sagt:„Zen-Geist ist Anfänger-Geist“ .
Ein indischer Meister und Lehrer des Buddha-Dharma wurde einmal von einem König zum Essen eingeladen und rezitierte aber nicht ein Sûtra vor der Mahlzeit, wie es sonst allgemein üblich war. Auf die Frage des Königs, warum er es unterlassen habe zu rezitieren, antwortete er, dass sein Ein- und Ausatmen als Handeln das Wesentliche sei und dass ihn dies unabhängig mache von äußeren Umständen und den Begrenzungen von Körper und Geist. Er sagte:

"So rezitiere ich täglich Hunderte, Tausende und Millionen von Sûtra,
so wie sie sind, und nicht nur eines oder zwei".


Mit dem Begriff "Umstände" meinte er u. a. , dass das Denken und Sehen den Körper und Geist einengt. Aber durch das Handeln wird man unabhängig und frei und lebt direkt in der Wirklichkeit, so dass man keine Restriktionen und Begrenzungen hat. Dadurch ist man in der Lage, den wahren Gesetzen des Universum und des Lebens zu folgen und in Harmonie mit ihnen zu leben und zu handeln. Durch das wahre Atmen ist man also im Einklang mit den Gesetzen der Natur und des Universums. Dies kann man auch so bezeichnen, dass man im wahren Sinn die Sûtra rezitiert. Mit dem Ein- und Ausatmen ist man also in der Wirklichkeit selbst und handelt je im gegenwärtigen Augenblick und im Hier und Jetzt. Dadurch macht man sich von den Gegebenheiten des Körpers, des Geistes und der anderen Komponenten des Menschen (Skanda) frei und wird auch nicht durch die äußere Umgebung oder Situation eingeengt und programmiert. Wenn der indische Meister von Hunderten, Tausenden und Millionen von Sûtra spricht, bedeutet das nicht, dass die Sûtra in Zahlen ausgedrückt werden können. Es soll vielmehr heißen, dass es unendlich viele sind und dass sie jenseits der Zählbarkeit liegen. Diese Unfassbarkeit der Wahrheit in den Sûtra wird durch ein einziges Ein- und Ausatmen schon verwirklicht und mit diesem Handeln übersteigt man alles, was mit Geist und Verstand bezeichnet werden kann. Daher sind Begriffe wie die „weise oder unweise Vernunft“ hierfür überhaupt nicht anwendbar, sondern es geht um

"die Praxis und Erfahrung aller Buddhas und Vorfahren im Dharma, es ist ihre Haut, ihr Fleisch, ihre Knochen und ihr Mark, es ist ihr Sehen, Handeln, Denken und Leben und es ist ihr Stock und ihr Hosso (für die Zeremonien). Alles dies springt aus dem Augenblick (wie Funken) hervor.“

In einer anderen Geschichte berichtet Dôgen, dass ein hoher Regierungsbeamter zu einem großen Meister kam und bat alle Sûtra zu rezitieren, nachdem er eine großzügige Spende an das Kloster übergeben hatte. Wir können dabei annehmen, dass der Regierungsbeamte in der Verwaltung viel mit Schriften und ausgeklügelten Argumenten zu tun hatte, dass er also wortgewandt war im Schreiben, Lesen und Zuhören. Dies mag wohl der Grund gewesen sein, dass der Meister sich vor ihm nur verbeugte und ihn einmal um das Zazen-Podest herum führte, um sich dann noch einmal vor ihm zu verbeugen. Der Beamte verstand dies zunächst natürlich nicht, weil er ja darum gebeten hatte, die Sûtra zu rezitieren. Der Meister handelte jedoch praktisch und ohne Worte und wollte den Beamten dadurch aus der Welt der Worte in die menschliche Wirklichkeit zurückführen. Dies war seine Art und Weise den Buddha-Dharma lebendig und unmittelbar zu lehren und dem Beamten damit zu helfen. Natürlich kann man dies nicht verallgemeinern, dass das Rezitieren der Sûtra immer die Bedeutung hat, das Zazen-Podest zu umrunden und dabei stumm zu bleiben. Es kommt immer auf den jeweiligen Menschen und auf die besondere Situation an, wie ein großer Meister handelt. Manchmal ist es das Beste stumm zu bleiben und durch Gesten und Handeln ganzheitlich die große Buddha-Lehre weiter zu geben.
In einer weiteren tiefgründigen Zen-Geschichte wird berichtet, dass ein alter Meister grundsätzlich verboten hatte, Sûtra im Kloster zu lesen, um den Verstand der Mönche nicht unnötig zu beschäftigen und zu "füttern" und sie zum unmittelbaren Handeln und Lernen zu bringen. Ein Mönch sah nun, dass der Meister selbst in einem Sûtra las und fragte daher, wie denn das mit dem allgemeinen Verbot in Einklang stünde, dass man im Kloster keine Sûtra lesen dürfe.
Der Meister antwortete:

"Ich muss nur meine Augen bedecken"
und auf die Frage des Mönchs, ob er dies genauso tun dürfe, antwortete er:
"Wenn du liest, würdest Du (mit deinem Scharfsinn) sogar die Haut eines Ochsen zerlöchern".

Was bedeutet nun diese Geschichte und diese Formulierung? Der Meister will sagen, dass er nicht die sinnliche Wahrnehmung des gewöhnlichen Sehens benutzt und formuliert dies nach altem chinesischem Sprachgebrauch so, dass er seine „Augen bedeckt“. Er überschreitet also das übliche Sehen der gewöhnlichen Menschen. Dadurch wird aber gerade das intuitive Verstehen des Sûtra im eigentlichen Sinn erst ermöglicht, denn es geht über die Buchstaben, Worte und Sätze hinaus und erfasst den wahren Sinn ohne etwas hinzu zu fantasieren und ohne etwas wegzulassen. Nach der Lehre von Nishijima Roshi sind die Ideen und die sinnliche Wahrnehmung nur zwei jeweils begrenzte Lebensphilosophien, die jede für sich oder auch zusammen nicht in der Lage sind, die ganze Wahrheit selbst zu erfahren. Diese ist erst durch Handeln im Hier und Jetzt und mit der umfassenden buddhistischen Lebensphilosophie möglich.
Die sicher eigenartige Formulierung: „Du würdest sogar die Haut eines Ochsen zerlöchern" können wir so deuten, dass der Mönch mit seinem Verstand und Scharfsinn die Wirklichkeit durchlöchert anstatt sie ganzheitlich zu erleben. Der durch Sûtra aktivierte Verstand würde demnach die Wahrheit löchern und sie weitgehend zerstören, anstatt sie zu erkennen und in das eigene Leben als Lernprozess einzubauen.
Dôgen vertieft dann in den folgenden Geschichten seine Deutungen weiter, dass es nämlich wesentlich sei, die alten überlieferten Lehren richtig und nicht vordergründig und oberflächlich zu „verstehen“, soweit dies überhaupt möglich sei. Dabei kommt es weniger darauf an, den Titel eines Sûtra zu kennen und das Sûtra teilweise oder ganz auswendig hersagen zu können, sondern es geht um den umfassenden Sinn und die wahre Bedeutung der Lehren. Daher greift eigentlich der Begriff „Sûtra-Lesen“ zu kurz, denn es geht um ein umfassendes Handeln des ganzen Menschen im Hier und Jetzt. Dôgen sagt, dass man auf dem Weg des Buddha-Dharma in der Tat "tödlichen Schlangen begegnet ", sich also Missverständnisse, vordergründige Erklärungen und alte Vorurteile einschleichen. Diese Gefahren müssen erkannt und vermieden werden
Im weiteren Verlauf des Kapitels beschreibt Dôgen, wie der genaue Ablauf des Sûtra-Lesens in einem Kloster durchzuführen ist, wenn z.B. der Spender anwesend ist. Dies zeigt wie pragmatisch und konkret Dôgen auch die alltäglichen Abläufe im Kloster versteht und übermittelt. Aber es wird auch immer deutlich, dass der formale Verlauf der Zeremonien und Rituale erst in der Einheit mit dem Sinn des Sûtra zur fruchtbaren Wahrheit führen kann.