Mittwoch, 19. September 2007

Was bedeutet das Bild eines Reiskuchens?

Es gibt großen und kleinen Bambus


Im Zen-Buddhismus wird häufig der Satz untersucht, dass ein Bild des Reiskuchens nicht den Hunger stillen kann, weil es eben nur ein Bild und nicht der wirkliche Kuchen ist. Aber sind deswegen Bilder völlig überflüssig? Sicher nicht. Um die wahre Bedeutung des Bildes eines Reiskuchens geht es Dôgen in diesem Kapitel des Shôbôgenzo.
Das japanische Wort des Gabyô bedeutet das Bild eines Reiskuchens (Kap. 40), ein solcher Kuchen wird in Ostasien aus Reismehl hergestellt. Er ist durchaus unserem Kuchen im Westen vergleichbar, der aus dem Mehl unserer Getreidesorten wie Weizen hergestellt wird. Reiskuchen ist ein beliebtes Nahrungsmittel und wurde im alten China auch am Straßenrand verkauft. Im Zen-Buddhismus war der Satz:


„Gemalter Reiskuchen stillt nicht den Hunger“

sehr berühmt und wurde von den Meistern vielfach zur Erklärung der Wirklichkeit im Gegensatz zum Bild benutzt. In diesem Sinne wird klargemacht, dass man nur den wirklichen materiellen Reiskuchen essen kann und dessen gemaltes Bild aber nicht in der Lage ist, den Hunger wirklich zu stillen. Daraus zogen manche Zen-Schüler voreilig den Schluss, dass Bilder, Ideen und Gedanken überhaupt nutzlos und störend sind und daher grundsätzlich vermieden oder gar unterdrückt werden sollten. So gab es einige Gruppen und Schulen im Buddhismus, die grundsätzlich alle Theorien und auch die Sûtra des Buddhismus ablehnten, weil die Lehren auch nur „Bilder“ seien und nicht die Wirklichkeit selbst. Damit seien sie daher völlig überflüssig.

In diesem Kapitel untersucht Dogen den Satz vom Bild des Reiskuchens sehr viel gründlicher und kommt zu dem klaren Schluss, dass Bilder, Ideen und Gedanken genau wie die Lehre des Buddha-Dharma selbst eine große Bedeutung haben. In der Lehre von Nishijima Roshi handelt es sich hierbei um die Lebensphilosophie und Lebenswelt des Idealismus, der zwar nur eine bestimmt Sichtweise und Dimension der Menschen ist und in sofern nur als Teilwahrheit einzustufen ist, aber unbestritten eine hohe Bedeutung hat. Erst wenn diese Teilwahrheit der Ideen, Bilder, Vorstellungen und Fantasien als umfassende Wirklichkeit und die ganze Wahrheit missverstanden werden, gibt es die großen Probleme und sogar Katastrophen sowohl im psychischen als auch im sozialen und politischen Bereich. Wie Dogen in diesem Kapitel herausarbeitet, ist es aber überhaupt nicht vertretbar, dass Ideen, Gedanken und Bilder grundsätzlich abgelehnt werden und daher hat auch das Bild des Reiskuchens eine viel höhere Bedeutung als manche Zen-Buddhisten glauben.

Was ist nun der wesentliche Inhalt dieses Kapitels? Zunächst verdeutlicht Dogen, dass die Erfahrung im Augenblick selbst die unmittelbare Wirklichkeit ist und dass man dies mit theoretischen Überlegungen und Spekulationen über Einheit und Verschiedenheit nicht vermischen darf. Wenn man einen Augenblick und einen Dharma wirklich erfährt und versteht, so bedeutet dies, dass man die ganze Vielfalt der Welt und die zehntausend Dharma ebenfalls erfährt und versteht. Dabei sind die Augenblicke und die Dharma nicht von einander abhängig und man sollte sich nicht auf die vorherige Situation und den vorherigen Augenblick fixieren und an ihnen hängen, weil man dann die Gegenwart vollständig verpasst. Aber die verschiedene Dharma haben durchaus eine Beziehung zu einander. Auch der Augenblick des Verstehens ist nämlich ein Dharma und dieses Verstehen gilt dann für die große Vielfalt der Welt des Verstehens.

Das Bild eines Reiskuchens kann in der Tat den Hunger nicht stillen. In ähnlicher Weise kann man sagen, dass auch die buddhistische Lehre und die Sûtra den Bildern und insbesondere dem Bild des Reiskuchens durchaus ähneln und nach der Lehre von Nishijima Roshi sind diese der Lebensphilosophie des Idealismus zu zurechnen. Bedeutet dies aber, dass die Lehre des Buddha-Dharma und dass die Sûtra sinnlos und ohne Bedeutung sind? Keineswegs. Dogen betont, dass es ein großes Missverständnis wäre, wenn der Satz vom Bild des Reiskuchens so verstanden würde, dass die Lehre und überhaupt alle Bilder völlig nutzlos seien. Aber die Lehre und auch die Bilder müssen authentisch von einem Meister auf den Schüler übermittelt und von diesem erfahren und mit Leben erfüllt werden. Dogen vergleicht den Satz vom Reiskuchen mit anderen zentralen Aussagen, die auch im Shôbôgenzô behandelt werden, zum Beispiel:

„ Erzeugt kein Unrecht und praktiziert die vielen Arten des Rechten“.
„Dies ist etwas, was so gekommen ist“.
„Ich bin immer aufrichtig hier und jetzt“.


Dabei kann man neben dem konkreten essbaren Reiskuchen auch beim Bild des Reiskuchens zwischen dem materiellen Bild selbst und dessen ideeller Bedeutung unterscheiden. Das Bild kann auch wie eine Anleitung zur Herstellung des wirklichen Reiskuchens verstanden werden, wie man z.B. das Reismehl und die anderen Zutaten zur Herstellung des Kuchens verwendet. Diese Herstellung des Kuchens selbst ist dabei ein Handeln, das im Augenblick vor sich geht und das Bild sozusagen als Vorlage und Plan benutzt. Ähnliches gilt, wenn man ein Bild selbst malt, die verschiedenen Farben mischt und sorgsam auf das Papier aufträgt. Dieselben Farben kann man natürlich auch verwenden, um ganz andere Bilder zu malen, z.B. ein Landschaftsbild mit Bergen und Flüssen. Im Falle des Reiskuchens gleicht das Bild einem vorgestellten Plan für dessen Verwirklichung, also mit den erforderlichen Zutaten in dem richtigen Mischungsverhältnis. Wenn es wirklich gelingen soll, einen wahren Reiskuchen herzustellen, so muss sowohl das Bild selbst im buddhistischen Gleichgewicht sein, und es muss auch der Vorgang der praktischen Herstellung des Kuchens im Gleichgewicht und damit in der Wirklichkeit sein. Bild und Reiskuchen bilden also eine Einheit und sind nicht voneinander zu trennen, denn eine Trennung kann nur gedanklich vollzogen werden und dies entspricht nicht der Wirklichkeit. Auch das Bild existiert im Hier und Jetzt und im gegenwärtigen Augenblick.

Nishijima Roshi erläutert diesen Zusammenhang für die Gegenwart anhand der Planung und des Betriebes eines industriellen Unternehmens: Zunächst muss ein idealistischer Plan erstellt werden, der die gesamte Ausgangslage und die konkreten Einzelpläne für den Bau und Betrieb eines Fabrikgebäudes umfassen muss. Damit das Unternehmen in der modernen Wirtschaft überlebensfähig ist, muss weiterhin eine genaue Planung und Abschätzung vor allem der finanziellen Möglichkeiten durchgeführt werden, denn wenn das Unternehmen keinen Gewinn erwirtschaftet, geht es Pleite und verschwindet vom Markt. Dann verlieren auch alle Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz. Eine solche Planung darf aber nicht nur als hoffnungsvolles Phantasiegebäude erdacht werden, sondern muss ganz konkret alle wesentlichen materiellen Bedingungen einer Fabrik erfüllen. Ein romantischer Traum reicht als Plan nicht aus, sondern es muss das notwendige Kapital beschafft werden, es müssen Gebäude und Grund und Boden sowie Maschinen und alle anderen technischen Ausstattungen bis hin zur elektronischen Verkabelung konkret und fehlerfrei geplant und fixiert werden. Dann stellen sich die wichtigen Fragen der Mitarbeiter: welche Mitarbeiter mit welcher Qualifikation werden benötigt und sind sie in der Region anzuwerben oder nicht. Nishijima Roshi sagt wörtlich:

„Nur mit einer guten Planung und ausreichenden Prüfungen aller materiellen Bedingungen kann der Aufgabe Erfolg beschieden sein. Gibt es noch irgendwelche fehlenden Bedingungen? Alle diese Fragen müssen gut durchdacht und angemessen beantwortet werden.“

Diese Beispiel mag uns weniger poetisch erscheinen als das Bild eines Reiskuchens, aber hier sind anhand eines anderen Beispieles der Gegenwart ganz ähnliche Zusammenhänge wie bei der Herstellung eines Reiskuchens nach einem Bild oder Rezept und mit den konkreten materiellen Zutaten dargestellt. Wie wir sehen, haben die grundsätzlichen Zusammenhänge seit der Zeit Dôgens große Ähnlichkeiten, und seine Lehren sind immer noch aktuell und aussagekräftig.

Der Hunger tritt konkret im Ablauf von vierundzwanzig Stunden auf und hat keine unmittelbare Verbindung mit dem Bild des Reiskuchens, er hat also seine eigene Wirklichkeit. Auch wenn wir beim Anblick des Bildes eines Reiskuchens vielleicht Hunger bekommen, kann das Bild natürlich diesen Hunger nicht stillen. Während der Hunger und der Reiskuchen jeweils etwas ganz Konkretes und Reales sind, also beides eine direkte Offenbarung des ganzheitlichen Körpers und Geistes sind, gilt dies für das Bild so nicht. Das Bild eines Reiskuchens wird ähnlich wie das eines anderen Bildes, z.B. einer Landschaft, gemalt, indem wir die verschiedenen Farben wie blau, gelb, rot und weiß, sowie die Maße, die Länge, Breite sowie eckige und runde Formen malen. In gleicher Weise können wir einen Menschen oder einen Buddha malen, indem wir seine typischen Merkmale in das Bild bringen. Man kann darüber hinaus sagen, dass alle Buddhas in unserem Leben eigentlich Bilder oder Vorstellungen sind, wir also ohne diese Bilder und Vorstellungen den Buddhismus überhaupt nicht lernen, kennen und erfahren können.
Dabei kommt es darauf an, dass wir genau untersuchen, was zum geistigen und was zum konkret materiellen Bereich gehört. Beides sollten wir nicht vermischen, sondern Klarheit gewinnen. Wir sollten uns also fragen:

Was ist die Wirklichkeit und was ist deren Bild oder Vorstellung“.

Dies hat natürlich in unserem jetzigen Zeitalter der Medien und der Scheinwirklichkeiten des Fernsehens und Films eine ganz neue hoch brisante Bedeutung. Damit wird klar, dass unser ganzes Leben und Sterben unauflösbar mit Bildern, Vorstellungen und Gedanken verbunden sind, oder genauer gesagt, mit dem Malen der Bilder und dem Entwickeln der Gedanken und Vorstellungen. Auch die höchste Wahrheit im Buddha-Dharma ist nämlich eine Lehre und damit sozusagen ein Bild.
Die große Dharma-Welt und der leere Raum sind letztlich dasselbe wie das Malen eines Bildes. So kann man sagen, dass auch die einzelnen Bereiche der buddhistischen Lehre wie die fünf materiellen Elemente, die fünf Komponenten des Lebens und der Welt (Skanda) und auch der achtfache Weg zur Überwindung des Leidens Bilder und Ideen sind. Soweit sie Teil der buddhistischen Wirklichkeit sind, sind sie daher genau so real wie das Bild des Reiskuchens. Ohne Vorstellungen und Bilder gibt es also keine buddhistische Lehre und überhaupt keinen Buddhismus. Aber es gibt in der Welt viele „falsche Bilder“ und viele Schein-Lehren. Dies ist keine Wirklichkeit, weil diese Lehren im Kern unwahr und meist von Interessen gesteuert sind. Dôgen macht hier also den grundsätzlichen Unterschied, um welche Bilder und um welche Lehren es sich handelt.
Der Lehrer von Dôgen, Meister Tendo Nyojo sagte:

Die langen Bambusgewächse und die Bananenstauden sind in das Bild gekommen.“

Aber was bedeutet dieser eigenartige Satz? Ist das die berühmte klare Sicht der realen Wirklichkeit des Zen-Buddhismus? Wie können Gewächse und Stauden in ein Bild kommen? Dogen schätzte diese Worte seines eigenen Meisters außerordentlich und bezeichnet diesen als einen Menschen, der die einfachen Vorstellungen von lang und kurz hinter sich gelassen hat und in jedem Augenblick das Malen eines Bildes erfährt und je neu erlernt. Die Kräfte des Universums von Yin und Yang arbeiten in den langen Stämmen des Bambus und daher bewirken gerade diese, dass Yin und Yang wirklich arbeiten. Yin und Yang erfahren sich viele Jahre und Monate als langer Bambus, aber diese Zeit ist mit dem denkenden Verstand nicht auszuloten. Die großen Heiligen haben einen Eindruck von den Kräften und vom Bambus erfahren, aber sie sind auch nicht in der Lage, diese vollständig zu erfassen. Der Dharma ist im Gleichgewicht und ist eine Einheit mit Yin und Yang. Dogen sagt hierzu:

„Weil das Erfassen im Gleichgewicht ist, und weil die Wahrheit im Gleichgewicht ist, ist dieses Yin und Yang etwas völlig anderes als bei den Menschen, die nicht an den Buddhismus glauben und bei den Anhängern der zwei Fahrzeuge und deren Sicht und Vorstellung von Yin und Yang. Es ist einfach das Yin und das Yang der langen Bambusrohre. Es sind die Schritte im Leben der langen Bambusrohre und es ist die Welt der langen Bambusrohre.“

Die langen Bambusstangen sind unauflösbar mit den Buddhas der zehn Richtungen verbunden und wir sollten uns daran erinnern, dass die Erde, der Himmel und das Universum die Wurzeln, Stämme, Zweige und Blätter dieser langen Bambuspflanzen sind. So kann man sagen, dass der Bambus den Himmel, die Erde und das Universum verursacht und immer andauert. Aus dem Bambus werden auch die nützlichen Stäbe und Stangen für den Menschen gefertigt.
Bei den genannten Bananenstauden handelt es sich um Zierpflanzen, die im alten China in den Gärten wuchsen. Diese waren kleiner als die jetzt bekannten Bananenstauden, die in Plantagen gezüchtet werden. Sie bestehen aus den materiellen Elementen Erde, Wasser, Feuer, Wind und Luft aber auch aus Geist, Willen, Bewusstsein und Weisheit.
Dies gilt für ihre Wurzeln, ihre Stiele und Blätter, für ihre Blüten und Früchte, für ihr Licht und ihre Farben. Auf ihnen liegt kein einziges Staubkorn und sie werden vom Wind gewiegt und von den Herbststürmen gebrochen. Man nennt sie rein und sauber. Dogen fährt fort:

"Da ihre Augen klar sind und ihre Farbe rein ist, existiert die Befreiung hier und jetzt. Sie werden nicht durch die Flüchtigkeit (der Zeit) beeinträchtigt und sind daher jenseits der Theorien über längere oder kürzere Zeitabschnitte".

Denn diese Zeitabschnitte sind nicht die buddhistische Sein-Zeit des Hier und Jetzt, sondern sind Maßeinheiten mit scheinbarer Objektivität. Hier entsteht in der Sein-Zeit die Kraft einer großen Befreiung, und die Elemente von Erde, Wasser, Feuer und Wind verwandeln sich in kraftvolles Leben. Die getrennten Vorstellungen von Geist, Willen, Bewusstsein und Weisheit enden dagegen und erfahren einen großen Tod. In der Natur von Frühling, Herbst, Winter und Sommer empfangen wir die großartige Übungspraxis und benutzen sie auf dem Weg des Buddha-Dharma. Diese Gesamtheit des hohen Bambus und der Bananenstauden ist aber nichts anderes als ein Bild. Große Meister haben beim Klang des Bambus das große Erwachen erfahren und sie sind Teil dieses Bildes. Es ist daher sinnlos, von dumpfen Gefühlen gesteuerte beengte Überlegungen hierüber anzustellen, wie dies gewöhnliche Menschen leider zu tun pflegen. Zweifel und Diskussionen gehen völlig am Wesentlichen dieser wunderbaren Bilder vorbei. Meister Dogen schildert hier mit der Kraft des Dichters die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddha-Dharma, die sich nicht in abstrakten Theorien und spitzfindigen Argumenten verlieren darf. In diesem Sinne führte ein großer alter Meister seinen begabten Schüler auf dessen Frage, was der wesentliche Kern der buddhistischen Lehre sei, einfach in den Klostergarten und zeigte ihm die Bambusgewächse. Er sagte etwas scheinbar Selbstverständliches:

Es gibt großen und kleinen Bambus“.

Die Lehre des Buddha-Dharma in ihrer ganzen Wirklichkeit und Wahrheit ist wie ein Bild, und aus diesem großartigen Bild wird das menschliche Leben verwirklicht. Der Wille und der Hunger nach der Wahrheit ist tatsächlich ein Hunger nach den Bildern des Buddha-Dharma. Unsere Erfüllung und unsere Verwirklichung sind mit diesen Bildern unauflösbar verbunden, und die Kraft zur Verwirklichung entsteht aus den Bildern der Verwirklichung. Denn diese Bilder haben eine solche Kraft. Der Hunger nach der Wahrheit kann nicht erfahren werden, wenn er nicht im Geist wirksam ist. Dieser Hunger bringt uns zum Lernen und Erfahren der Wirklichkeit, so wie sie im realen Leben, auf der Erde und im Universum ist. So fangen wir an, mit dem Körper und Geist das Leben zu meistern. Wir verwandeln die Dinge und Phänomene der Welt und werden von ihnen verändert. Die Realisierung dieser Kraft und Tugend zu bewirken, ist nichts anderes als die Verwirklichung, ein Bild zu erleben und zu erfahren. Dies ist die wahre Bedeutung des Bildes eines Reiskuchens!

Weitere Informationen:


Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus


Die Buddhistische Sein-Zeit des Hier und Jetzt


Die Blumen im Raum