Freitag, 26. Oktober 2007

Den wahren Budhhismus in der Traum-Wirklichkeit lehren


Dôgen beschreibt in dem Kapitel „Einen Traum in einem Traum lehren“ (Kap. 38, Muchu setsumu), wie die Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma als umfassende Wirklichkeit im Traum gelehrt wird. Ist das nicht ein Widerspruch? Sind nicht Traum und Wirklichkeit gerade Gegensätze, die unvereinbar sind? Der Zen-Buddhismus lehrt in besonders klarer und eindeutiger Weise, wie wir Vorstellungen, Gedanken und auch die Wahrnehmung von der Wirklichkeit unterscheiden können. Was hat es nun mit Dogens Lehre vom Traum auf sich? In einem solchen von ihm beschriebenen erweiterten Bewusstsein, das auf der Grundlage des Lebens und Lehrens im buddhistischen Gleichgewicht besteht, ist es nach Dôgen möglich, den Buddha-Dharma richtig und wahr zu lehren. Ein Traum in diesem Sinne ist also keinesfalls ein Hirngespinst oder eine Illusion, sondern im Gegenteil, etwas das wirklicher ist als das sogenannte normale Leben und Denken. Dôgen sagt hierzu wörtlich:

"Der schöne Traum ist selbst der Körper der Buddhas und bedeutet hier, dass sie direkt im Jetzt angekommen sind und keine Zweifel mehr haben. Obgleich es den Grundsatz gibt, dass Buddhas Lehre in der Wirklichkeit des Wachzustandes niemals endet, gibt es auch den Grundsatz, dass die Verwirklichung der Buddhas und Vorfahren im Dharma immer eine Traum-Handlung in einer Traum-Wirklichkeit ist".

Dies ist in der Tat eine erstaunliche Aussage. Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass in dem Zustand eines solchen Traums, wie er in diesem Kapitel beschrieben wird, eine höhere Wahrheit und Wirklichkeit vorhanden ist als im normalen Wach-Bewusstsein, in dem wir mit der materiellen Umgebung, mit Organisationsaufgaben usw. beschäftigt sind und in dem sich unser Geist dauernd mit den verschiedensten Gedanken, Ideen und Vorstellungen beschäftigt. In dem von Dôgen gemeinten Traum sind wir im Gegensatz dazu von störenden Alltagsgedanken und Gefühlen befreit und zu einer höheren und umfassenden Wahrheit erwacht. Genau in einem solchen Zustand wäre es dann möglich, den Buddha-Dharma wahrhaft zu lehren, sodass auch die Schüler die Möglichkeit haben, zu einem solchen Zustand des Gleichgewichts vorzudringen. Dôgen betont, dass dies nicht durch Gedankentätigkeit allein möglich sei, sondern dass dies immer in der Körper-Geist-Einheit vor sich geht und er meint damit zweifellos, dass die Zazen-Praxis damit untrennbar verbunden ist.

Wenn wir uns fragen, wie Träume bei uns im Westen gesehen und gedeutet werden, so fällt auf, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Traum“ gibt. Zum einen wird damit Träumerei, Traumgespinste, Illusionen usw. bezeichnet, wie dies etwa in dem Ausspruch: "Träume sind Schäume" zum Ausdruck kommt. In einer solchen Sicht beziehen sich Träume nicht auf die wirkliche Welt und in der Tat treten sie ja in einem halbbewusstem Zustand auf, in dem unser Geist offensichtlich tätig ist, aber in dem wir kein Wachbewusstsein haben, und wie wir dies vielleicht formulieren würden, nicht bei vollem Bewusstsein sind. Dann wären Träume unwichtige Fantasieprodukte, die keine Bedeutung haben und die sinnlos und überflüssig sind. Warum der Geist in einem derartigen Halbbewusstsein derartige Träume erzeugt und ob sie vielleicht doch eine Bedeutung haben, bleibt in dieser Sichtweise unberücksichtigt. Zu dieser Gruppe von Träumen muss man wohl auch Wunsch-Träume zählen, die in der Wirklichkeit niemals realisiert werden können.

Auf der anderen Seite gibt es eine Bedeutung des Begriffs Traum, wie er etwa in dem berühmten Ausspruch von Martin-Luther King zum Ausdruck kommt: "Ich habe einen Traum, dass meine Kinder nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden". Hier wird also ein moralisches und humanistisches Ziel formuliert, und der Traum entspricht einer realisierbaren Vision über einen Zustand, der zwar noch nicht erreicht worden ist, aber der erreicht werden kann. Ein solcher Traum bezeichnet also ein moralisch gerechteres Leben in der Gesellschaft, in diesem Fall für die Farbigen in USA, in dem Vorurteile, Diskriminierungen, Abwertungen und dergleichen aufgrund äußerer Merkmale abgeschafft sind und nach Martin-Luther King damit die gesamte amerikanische Gesellschaft besser leben kann. Wie er meint, sei dies auch der Grundansatz der amerikanischen Verfassung und also gerade kein Hirngespinst und keine Träumerei über romantische Zielvorstellungen, die niemals erreichbar sind. Der Traum von Martin-Luther King hat also einen sehr hohen Wahrheitsgehalt und hat daraus sicher seine große politische und moralische Kraft auch gespeist. Dieser Wirklichkeits-Traum hat die Begrenzungen, Vorurteile und Überheblichkeiten der Tagespolitik überwunden und ist zu einer höheren, nicht zuletzt moralischen Wirklichkeit, vorgestoßen, die dann auch erhebliche Kraft in den USA entwickelt hat.

Wie steht es nun bei der Traumdeutung von Freud in der Psychoanalyse? Nishijima Roshi sieht hier eine ganz enge Verbindung. Es ist sicher an dieser Stelle nicht der Raum, die Traumtheorie und -therapie von Sigmund Freud auszubreiten. Aber kurz zusammengefasst kann man sagen, dass sich im Traum geistige Wirklichkeiten und Wahrheiten äußern, die im Tagesbewusstsein nicht zum Zuge kommen, das unter stärkeren Normen der Kultur oder bestimmter Gruppen steht. Im Traum äußern sich demnach verbotene psychische Wahrheiten, die im normalen Tagesbewusstsein nicht gedacht werden dürfen und nach Freud ins Unbewusste verdrängt worden sind. Das Unbewusste sucht sich sozusagen im Traum einen Kanal, um Zusammenhänge und auch Bewertungen in das geträumte Halb-Bewusstsein zu bringen, die am Tage keine Chance haben, sich zu äußern und wahrgenommen zu werden. Nach Freud ist aber sogar im Traum eine gewisse Zensur tätig, sodass das Unbewusste gewissermaßen nicht die Klartext-Informationen offen legt, sondern dies verklausuliert und maskiert tut. In sofern ist die Traum-Zensur, die aus den psychischen, kulturellen oder gruppenspezifischen Bereichen stammt und gewisse Informationen verbietet, abgeschwächt im Zustand des Traumes tätig. Es ist nun die Aufgabe des Therapeuten, die Traum-Information zu entschlüsseln, um verdrängte, vor allem traumatische Erlebnisse, bewusst zu machen, da sie im verdrängten Zustand im Unbewussten zu psychischen Störungen, wie etwa zur Zwangsneurose führen. Dadurch, dass die verbotenen Informationen offen gelegt werden, können sie gemeinsam von Patient und Therapeut bearbeitet werden, nicht zuletzt, weil der Therapeut falsche normierte Verbote abbaut, deren Relativierung unterstützt und damit den Patienten ermutigt, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, "da es ja gar nicht so schlimm ist".

Im Ergebnis werden also auch hier im Traum ein höherer Wahrheitsgehalt und eine größere Ehrlichkeit wirksam, als dies im Tagesbewusstsein möglich ist. Indem diese Wirklichkeit dann neu bearbeitet wird, kommt die Gesundung in Gang, denn nach Freud ist jede Flucht vor der Wirklichkeit mit Leiden verbunden. Wir können unschwer erkennen, dass hier durchaus Ähnlichkeiten zur Lehre von Gautama Buddha und Meister Dôgen bestehen. Festzuhalten ist, dass Träume nach Freud in solchen Fällen wahrer und ehrlicher sind als es das Tagesbewusstsein sein kann, und dass Verdrängungen, also verbotene Informationen, wieder an die „Oberfläche“ des Bewusstseins gelangen können und damit eine Gesundung in Gang kommt.
In diesem Kapitel geht Dôgen mit seiner Beschreibung des Traums noch darüber hinaus und sagt zusammengefasst, dass in diesem Zustand des Traums die umfassende buddhistische Weisheit von Körper und Geist wirksam ist In diesem Zustand kann der Buddha-Dharma gelehrt werden, damit die Schüler ebenfalls den Zugang zu diesem Zustand des Gleichgewichts des Erwachtseins, also der Erleuchtung, finden können. Dôgen sagt, dass nur in dem so verstandenen Zustand des Traums der wahre Dharma übermittelt werden kann, und dass nur dann die anderen Menschen Zugang zum Buddha-Dharma erlangen und diesen Buddha-Zustand im Hier und Jetzt erleben, erfahren und erlernen.
Dôgen macht ganz deutlich, dass der von ihm gemeinte Traum kein ausgedachtes Fantasiegebilde ist, das er frei von Täuschungen ist und sagt:

"Weil es die Verwirklichung einer Erfahrung in einer Erfahrung ist, lehren (die Buddhas) einen Traum in einem Traum.“

Dann wird beim Lehren des Buddha-Dharma das Dharma-Rad gedreht, wie dies häufig in der buddhistischen Lehre ausgedrückt wird. Dabei handelt es sich um die ganze Wirklichkeit des Universums, um dessen jeweilige Teilbereiche der Dinge, Gegenstände und Zusammenhänge (Materielles), um Ideen, Vorstellungen und Gedanken (Ideelles), um das Handeln im Hier und Jetzt und um den umfassenden Körper-Geist, also die volle Wahrheit und Wirklichkeit. Dôgen unterscheidet dies ausdrücklich von Träumereien der gewöhnlichen Menschen und bezieht aber auch die Verwirrungen und Zweifel als Wirklichkeit mit ein, wenn sie klar erkannt werden und wenn wir in der Wirklichkeit des Augenblicks sind. Unwirkliche Träume und geträumte Hirngespinste sind genau das Gegenteil davon, wenn der „Traum in einem Traum gelehrt wird“. Unwirkliche Inhalte von Träumen, die es in der Wirklichkeit gar nicht gibt oder die von der Gier, oder wie Peter Gäng dies ausdrückt, vom „Durst“ gesteuert sind, sind dabei nicht gemeint. Besonders Träume, die aus der Gier nach Ruhm und Profit entstehen, sei es, dass man diese unbedingt haben will oder dass man sie erbittert gegen andere verteidigt, entstehen immer dann, wenn der Körper-Geist nicht im Gleichgewicht ist, ganz gleich, ob man sich dabei großartig fühlt oder nicht. Sie sind das genaue Gegenteil der Wirklichkeit, die hier von Dôgen als Traum bezeichnet wird. Er spricht auch davon, dass nicht Enttäuschungen und keine neuen Täuschungen erzeugt werden, wie er das an anderer Stelle im Shobogenzo erläutert. Er sagt:

"Einen Traum in einem Traum zu lehren, das sind die Buddhas, und die Buddhas sind der Wind, der Regen, das Wasser und das Feuer, und die ewigen Buddhas steigen in dieses Juwelenfahrzeug und sind direkt am Ort der Wahrheit ankommen".

Häufig wird bei Träumen in den Mittelpunkt gestellt, ob die Traumziele in Erfüllung gehen oder nicht. Eine solche Gruppe von Träumen ist zielorientiert und möchte eigene Vorteile und gute Ergebnisse erzielen. Dies kann nicht im Sinne des Buddha-Dharma sein, denn das Handeln und Geschehen-Lassen sind eingebettet in den natürlichen Ablauf des Lebens und der Welt und wenn dies im Einklang mit dem Gesetz des Universums ist, vollzieht sich alles im Hier und Jetzt und mit dem ganzen Körper-Geist. Damit wird eine Verbindung zu dem Kapitel im Shôbôgenzô über "das Etwas" hergestellt, wo die mit dem Verstand nicht fassbaren Zusammenhänge und Ereignisse im Einzelnen behandelt werden. Dann ereignet sich diese „Etwas“. Dabei offenbart sich die ganze Wirklichkeit, ohne dass dies dem denkenden Verstand vollständig zugänglich wäre. Gleichwohl findet dies Handeln und Geschehen-Lassen im Leben der Menschen ganz konkret an diesem Ort und in diesem Augenblick statt.

Aber Dôgen sagt auch, dass es nicht einfach ist, einen Traum in einem Traum zu lehren. Er erläutert dies anhand der in China der damaligen Zeit üblichen Redewendungen, dass dies vergleichbar sei mit Bäumen, die keine Wurzeln haben, mit einem Land, das kein Yin und Yang hat und einem Tal, das kein Echo besitzt. Ein Traum wird in diesem Kapitel in derselben Weise erklärt, wie der Buddha-Dharma gelehrt wird. Ein Traum wird verwirklicht wie das Handeln und Geschehen-Lassen in der Wirklichkeit dieser Welt. Meister Dôgen sagt sogar:

"Wenn es diesen Traum nicht gäbe, gäbe es keine Buddhas, und wenn (die Buddhas) ihn nicht träumen würden, könnten sie niemals in der Welt erscheinen und das wunderbare Dharma-Rad drehen".

Ein solcher Traum ist, wie Nishijima Roshi lehrt, auf keinen Fall an die Ideen und Vorstellungen im Sinne des Idealismus und die materiellen Dinge und Gegebenheiten im Sinne des Materialismus gebunden. Es geht um das erweiterte Bewusstsein im Gleichgewicht des Hier und Jetzt, das Dôgen auch so beschreibt, dass man "einen Kopf auf einen Kopf setzt". Diese Redewendung wurde im alten China häufig für etwas Überflüssiges und Unsinniges verwendet, da ja der eine konkrete Kopf, also das Denken, genug sei und der zweite darauf gesetzte Kopf überflüssig ist und aus unsinnigen Vorstellungen und Täuschungen bestünde. Dôgen verwirft diese übliche Bedeutung und sagt, dass man
„den Traum in einem Traum lehrt, wenn man einen Kopf auf einen anderen Kopf setzt“.
Die negative Bewertung der damaligen Zeit lehnt er gründlich ab und benutzt dieses eindrucksvolle Gleichnis, um zu erklären, was er mit der umfassenden Wahrheit eines Traumes meint. Er verbindet weiter die Lehre des Buddha-Dharma als Verwirklichung eines Traums mit den großen Gleichnissen des Buddhismus: Dass Gautama Buddha eine Blume hoch hielt und den Dharma an Mahakashyapa übergab, dass der zweite Vorfahre im Dharma von China drei Niederwerfungen machte und das Mark von Meister Bodhidharma erlangte usw. Auch das Handeln der Bodhisattvas, die mit "tausend Händen und Augen" das Leiden in der Welt erkennen und anderen selbstverständlich helfen, wird als Verwirklichung dieses Traums bezeichnet. Die Verwirklichung des Traums vollzieht sich genau im Gleichgewicht des Hier und Jetzt, also vor allem in der Zazen-Praxis und dem praktischen Handeln im Sinne des Buddha-Dharma. Dôgen sagt wörtlich:

"Dieses Gleichgewicht ist die große Wahrheit der Waage, an welche der Raum hängt und die Dinge hängen",

und dieses Gleichgewicht sei die Leerheit und die Form. Damit nimmt er Bezug zum Kern der Mahayana-Lehre und dem Herzsutra, und dies sei
"nichts anderes als die Befreiung in einem Traum, die einen Traum verwirklicht". Weiter stellt er die Verbindung zur Erweckung des Bodhi-Geistes, zum Erwachen und zum Nirwana her und setzt den Wachzustand mit dem Zustand dieses buddhistischen Traumes gleich. Er sagt:

"Der Traum und der Wachzustand sind beide wirklich und sie sind jenseits von groß und klein (also materiellen Maßen) und hoch- oder minderwertig (Bewertungen, die von den Menschen hinzugefügt werden).“

So setzt er den Wachzustand im Gleichgewicht mit dem hier gemeinten Traumzustand gleich, nachdem der Bodhi-Geist erweckt wurde, das Bodhisattva-Handeln zur Selbstverständlichkeit geworden ist und Körper und Geist sich aus der Enge der Trennung von Subjekt und Objekt im Hier und Jetzt befreit haben. Ein solcher Traum sei auch kein Abbild oder wie wir sagen würden, Modell der Wirklichkeit, sondern es ist die Wirklichkeit und die Wahrheit selbst, also das Ganze von Körper und Geist. Dies geht über Denken und Wahrnehmung hinaus. Dôgen zitiert das Lotussutra:

"Golden gefärbt ist der Körper aller Buddhas, majestätisch geschmückt mit den hundert Glücksmerkmalen hören sie den Dharma und lehren ihn an den anderen. Ständig sind sie in diesem schönen Traum."

Daraus wird deutlich, dass der schöne Traum und die Buddhas eine unlösbare Einheit bilden. Dabei werden das Denken und die Wahrnehmung überschritten, und es werden alte festgefahrene Gewohnheiten, also Vorurteile, Abwertungen, Selbstüberhöhungen und Schutzanstrengungen zur Rettung des Ego überwunden. So ist der schöne Traum aus dem Lotussutra direkt im Hier und Jetzt angekommen und

"die Verwirklichung der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist immer eine Traumhandlung in einer Traumwirklichkeit".

Dôgen rät uns in seiner typischen Art in diesem Kapitel abschließend, dass wir auch diese Lehre nicht einfach übernehmen sollten, sondern sie selbst gründlich untersuchen und erfahren müssen. Dabei ist die Achtung und Wertschätzung der drei Juwelen Buddha, Dharma und Sangha von tragender Bedeutung.