Montag, 24. Oktober 2011

Aus dem Zeitzwang zum wahren Erleben

Dōgen wendet sich dem Problem der Bestimmung nach Maß und Zahl der zwölf beziehungsweise 24 Stunden für die Zeit zu. Er will den Unterschied der wirklich wesentlichen Augenblicke in unserem Leben und der formalen Zeit herausarbeiten, an die wir uns leider so sehr gewöhnt haben:

„Wir können niemals messen, wie lang und entfernt oder wie kurz und dringlich zwölf (heute 24) Stunden sind, gleichzeitig nennen wir es ‚zwölf Stunden‘.“


Denn in der Tat sagen die Angabe der Zeitdauer von Stunden und Tagen unseres Lebens wenig darüber aus, was wir in bestimmten Augenblicken existentiell oder spirituell erleben. Wir reden zwar von 24 Stunden des Tages, aber genau genommen ist es unmöglich, die Länge oder Kürze einer solchen Zeitstrecke existenziell zu bestimmen. Auch die Dringlichkeit und der Zeitdruck lassen sich logisch nicht exakt bestimmen, aber trotzdem haben wir uns daran gewöhnt – nicht zuletzt aus Bequemlichkeit –, von den 24 Stunden des Tages als einer Zeitstrecke zu sprechen. Eigentlich ist das nur eine Übereinkunft, die keine präzise psychologische Grundlage besitzt.


Nishijima Roshi bemerkt dazu: „Die Bedeutung von ‚Sein-Zeit‘ beinhaltet, dass Zeit genau dasselbe ist wie das Sein. Und das Sein ist in jedem Fall genau dasselbe wie die Zeit. Der goldene Leib von Gautama Buddha, dessen (Standbild) 16 Fuß hoch ist, ist genau der gegenwärtige Augenblick. Weil er der gegenwärtige Augenblick ist, hat er das großartige Leuchten wie die Zeit. Wir sollten studieren, dass die Zeit genau als Zeit verstanden werden sollte, und dies ist dasselbe wie (die Augenblicke der) 24 Stunden des Tages.“


Eine lineare Zeitstrecke ist nicht die Realität des wesentlichen Seins.
Dōgen fährt mit seinem Kommentar fort:


„Das Verlassen und Kommen der Richtungen und Spuren (der Zeit) sind (nur scheinbar) klar und daher bezweifeln es die Menschen nicht. Sie bezweifeln es nicht, aber dies bedeutet nicht, dass sie (die Zeit wirklich) kennen.“


Wir betrachten die Zeit als Selbstverständlichkeit und die Frage, was denn die Zeit nun wirklich ist, halten die meisten für theoretische Philosophie, die im Alltag keine Bedeutung hat – oder sogar für Haarspalterei. Das ist aber nicht richtig und geht am echten Leben vorbei: auf die wesentlichen Augenblicke kommt es an.


Das war wohl schon in früheren Jahrhunderten so, als die Menschen noch viel „mehr Zeit hatten“ und weder über mechanische noch quarzgesteuerte Uhren verfügten, aber umso mehr gilt es in der heutigen Zeit. Unser Alltag ist im beruflichen und privaten Bereich wesentlich festgelegt durch Termine, also Zeitpunkte und Zeitstrecken, vor allem aber durch „Zeitdruck“ und „Zeitmangel“. In diese unwesentliche Zeit sind wir wie eingezwängt: Weg mit diesem Käfig und zur Gegenwart des Tun und Schauen!


Für Dōgen ist die Frage nach der Wirklichkeit der Sein-Zeit von ganz zentraler Bedeutung, seine Aussagen ist genau auf den Punkt.