Mittwoch, 13. März 2013

Herz-Sutra: Das Gleichgewicht ist Leere und Freiheit



Der Begriff „Leere“ hat eine ähnliche Bedeutung wie bei uns im Westen der Begriff der „Freiheit“, allerdings in einem umfassenden auch spirituellen Sinn. Nishijima Roshi erklärt hierzu, dass sich in diesem Zustand das vegetative, also autonome Nervensystem im Gleichgewicht des Zazen befindet und dass sich dadurch Ausgeglichenheit und Ruhe einstellen. Es gibt dann im Bewusstsein keine Störungen mehr, und dadurch wird das Universum genau so erfahren, wie es ist. Damit ergibt sich eine Identität von Leere und dem Zustand in der Zazen-Praxis.

Das sind Gleichgewicht und Soheit. Dôgen sagt folgerichtig zu den Begriffen von Form und Leere über das obige Zitat hinaus, dass die Form auch die Form und die Leere auch die Leere ist. Dadurch wird die Soheit von beiden besonders betont.
Ich hoffe, dass diese Ausführungen nicht allzu verwirrend sind; wichtig ist dabei, dass es sich um die übergreifende Weisheit jenseits des gewöhnlichen Denkens handelt, die sich nach der Lehre des Buddhismus in der gegenstandslosen Zazen-Meditation beim Menschen unmittelbar im Hier und Jetzt ereignet.

Die intuitive, grenzüberschreitende Prajñā-Weisheit ist auch für die Wahrnehmung wirksam. Ein erwachter Mensch haftet bei der Sinneswahrnehmung, zum Beispiel beim Sehen, nicht mehr an der äußeren Form und an der Trennung von Subjekt und Objekt, sondern überschreitet diese. Die Wahrnehmung wird nach altindischer Tradition mit den sechs Formen der Sinne und den jeweiligen Objekten erfasst.

Auch die Vier Edlen Wahrheiten des Gautama Buddha werden von dieser intuitiven Weisheit (Prajñā-Pāramitā) durchdrungen. Dasselbe gilt für die überlieferten sechs Arten des Bodhisattva-Handelns: Freizügiges Geben, Einhalten der Gelöbnisse, Geduld, Ausdauer, Achtsamkeit und Samādhi.
Dōgen betont die Verwirklichung im gegenwärtigen Augenblick (Sein-Zeit) und fügt die drei verschiedenen Arten der linearen Zeit, nämlich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinzu.

Auch die altindischen Arten der materiellen Elemente: Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum sowie die vier Tätigkeiten des Alltags werden durch die große intuitive Weisheit erfasst, von ihr durchdrungen, und dadurch werden das herkömmliche Leben und Denken überschritten.

Vielleicht ist es an dieser Stelle hilfreich, sich die Herkunft des Sanskrit-Begriffes shūnyatā zu vergegenwärtigen: Peter Gäng zufolge wurde kurz vor der Zeitenwende von indischen Mathematikern, die damals führend in der Welt waren, die Null im System der positiven und negativen Zahlen entdeckt. Die Null heißt auf Sanskrit shūnyatā. Die Null ist in der Mitte zwischen den positiven und negativen Zahlen angeordnet und ermöglicht so das „Gleichgewicht“ und die Funktionsfähigkeit des gesamten Zahlensystems.

Zur gleichen Zeit wurden von mehreren großen indischen Meistern die Lehren des Mahāyāna-Buddhismus ausgearbeitet und interpretiert, wobei Meister Nāgārjuna diesbezüglich einen Höhepunkt und eine „goldene Periode“ prägte. Er verwendete für die Kennzeichnung des Mittleren Weges, also des Gleichgewichts, vor allem den Begriff shūnyatā und hat dies im Gesang des Mittleren Weges näher beschrieben. In älteren buddhistischen Lexika wird Nâgârjuna allerdings z. T. als Nihilist bezeichnet, der angeblich durch den Inhalt von shûnyatâ alle Logik und alles Denken außer Kraft gesetzt hat und eine Auflösung im „Nichts“ lehren würde.

Dies ist aber nach heutiger weitgehend vorherrschender Sicht unrichtig, denn es geht um die intuitive, das unterscheidende Denken überschreitende Weisheit, die in der Praxis des Zazen erfahren wird. Dann verschwinden täuschende Ideen und materialistische oberflächliche Wahrnehmung.

Nishijima Roshi hat zuweilen den Eindruck, dass diese intuitive Weisheit, wie auch überhaupt die Intuition, im Westen nicht für wichtig genug genommen und nicht richtig anerkannt werden. Oft wird ein scheinbarer Gegensatz von rationalem Denken und Intuition konstruiert und letztere in den Bereich der Esoterik und der Mystik verbannt, die wiederum eher abwertend beurteilt werden. Dies ist meines Erachtens jedoch ganz unsinnig.