Mittwoch, 22. Mai 2013

Die Erweckung des Wahrheitsgeistes



Durch den Bodhi-Geist oder Wahrheitsgeist entsteht der klare Entschluss, sich auf den Buddha-Weg zu begeben und anderen Menschen und Lebewesen zu helfen und sie zu befreien, bevor man selbst die große Befreiung erlangt hat. Wie hängt nun der Bodhi-Geist mit dem Handeln zusammen? Kann man beide voneinander trennen und allein auf den Geist setzen? Gibt es überhaupt einen vom Körper getrennten, eigenständigen Geist, wie sicher viele annehmen?

Kann man umgekehrt nach der buddhistischen Lehre ohne Bewusstsein und Klarheit „nur so“ handeln, in den Tag hineinleben und den Geist und die Vernunft vernachlässigen? Manche Zen-Buddhisten sind tatsächlich dieser Meinung. Solche Fragen möchte ich im Folgenden anhand von Dōgens Ausführungen klären.

Zur Erweckung des Wahrheitsgeistes auf dem Weg zum Erwachen finden sich im Shōbōgenzō zwei Kapitel. Fachleute nehmen an, dass das Kapitel „Die Erweckung des Willens zur höchsten Wahrheit“ als Dharma-Rede für Laien bestimmt war, vor allem für die Handwerker und Arbeiter, welche die Tempelanlage von Eihei-ji – den Haupttempel der Sōtō-Übertragungslinie – unter der Leitung Dōgens erbauten. Den Schwerpunkt seiner Ausführungen legt er daher auf die praktische buddhistische Arbeit, zum Beispiel das Errichten von Stupas und das Erstellen von Buddha-Bildnissen.

Das andere Kapitel „Die Erweckung des Bodhi-Geistes “ war vermutlich als Dharma-Vortrag für Mönche konzipiert. Es stimmt inhaltlich weitgehend mit dem vorherigen Kapitel überein, bezieht aber darüber hinaus auch tiefgründige theoretische Aspekte der buddhistischen Lehre mit ein. Da es die wichtigen Aussagen über die Sein-Zeit und Augenblicklichkeit des Universums enthält, dient es für die folgenden Untersuchungen als Grundlage.

Ich möchte auch im Deutschen meist den Begriff „Bodhi-Geist“ für den Wahrheitsgeist verwenden, damit keine Unklarheiten entstehen, was mit dem Begriff „Geist“ gemeint ist, und deutlich wird, dass der Geist nicht vom Körper und Handeln getrennt werden kann. Er hat nämlich einen wesentlich breiteren semantischen Umfang, als im westlichen Verständnis des Begriffs üblich.

Dieses vielschichtige buddhistische Wort darf nicht mit „Bewusstsein“ oder „Denken“ im westlichen Sinne verwechselt werden. Der Bodhi-Geist ist wirksam, wenn wir anderen helfen, nach der Wahrheit zu streben, und nicht nur die eigene Vervollkommnung und Erleuchtung zum Ziel haben. Es geht immer um die Einheit von Körper-und-Geist sowie um Ethik, also moralisch klares Denken und Handeln.

Für diese Haltung ist es laut Dōgen sehr wichtig, dass wir uns der Vergänglichkeit unseres Lebens bewusst sind, damit wir es nicht verpassen, sondern im Augenblick ganz präsent sind und unsere Aufgaben in der Gesellschaft wahrnehmen. Wir sollen also angesichts der Vergänglichkeit nicht niedergeschlagen und depressiv werden, sondern im Gegenteil im Gleichgewicht und in der Fülle des Augenblicks leben und handeln. Daraus wird ersichtlich, wie wichtig diese beiden Kapitel über den Bodhi-Geist für die buddhistische Lehre sind.