Mittwoch, 16. Oktober 2013

Die Klarheit des Selbst



Dōgen zitiert dann noch einmal Meister Chosa Keichin:

„Das ganze Universum in den zehn Richtungen existiert in der leuchtenden Klarheit des Selbst.
Im ganzen Universum in den zehn Richtungen gibt es niemanden, der nicht er selbst ist.“

Das heißt, dass das leuchtende und klare Selbst und das ganze Universum in seiner vollen Wirklichkeit identisch sind, sie können nur künstlich im Geist getrennt werden. Meister Keichin verstärkt diese Aussage in der zweiten Zeile des Gedichts, indem er betont, dass es im ganzen Universum, also in der konkreten Welt, in der wir leben, keinen Menschen gibt, der nicht von Natur aus das klare Selbst ist, und zwar ganz eigenständig und ursprünglich, nämlich ohne schädliche Einflüsse durch andere Menschen oder die Umwelt. Es versteht sich natürlich von selbst, dass der Meister hier die Wirklichkeit des Erwachten beschreibt, wie sie von Natur aus beschaffen ist: die Buddha-Natur. Er spricht nicht von den gewöhnlichen Menschen, die „den eigenen Käfig nicht verschrotten“.

Im Mai 2012 besuchte der große japanische Kalligrafie-Meister und Dōgen-Kenner Kazuaku Tanahashi Berlin. Ich konnte dabei aus unmittelbarer Nähe beobachten, wie er mit dem Pinsel Kalligrafien zu bestimmten Themen des Lebens und zu überlieferten Geschichten anfertigte. Mich beeindruckten seine große Ruhe und Klarheit, mit denen er zu Werke ging – ganz auf seine künstlerische Darstellung bezogen und fokussiert. Das ist die strahlende Klarheit, die Dōgen in diesem Kapitel beschreibt.

Laut Dōgen ist es unbedingt erforderlich, diese Buddha-Wahrheit in der Praxis und mit Ausdauer zu erlernen. Wenn man nicht mit voller Aufrichtigkeit handelt, entfernt man sich immer mehr von dieser Wahrheit, erklärt er:

„Es gab nur wenige frühere Meister, die die strahlende Klarheit durch solche Anstrengungen erlernt haben.“

Er erinnert an Bodhidharma, der die authentische Praxis und Lehre des Buddhismus nach Ostasien brachte und an seinen authentischen Nachfolger Taiso Eka weitergab:

„Dies war die direkte Erfahrung der strahlenden Klarheit der buddhistischen Vorfahren im Dharma.“

Und Dōgen fügt noch hinzu, dass vor diesem historischen Ereignis niemand in China diese strahlende Klarheit der authentischen buddhistischen Meister gesehen oder davon gehört hatte. Er fragt deshalb: „Wie hätten sie ihre eigene strahlende Klarheit erkennen können?

Mit Bodhidharma kam also die buddhistische Praxis nach China, wo bis dahin die theoretische Lehre vorgeherrscht hatte, der nach Dōgen die Einheit von Theorie und Praxis fehlte. Die strahlende Klarheit des Körper-und-Geistes ist genau diese Verschmelzung von theoretischer Lehre und der Praxis des Zazen sowie des Handelns im Alltag.

Die strahlende Klarheit ist also keine schöne Vorstellung, kein Wunschdenken und keine Flucht aus der Wirklichkeit. Schließlich fragt uns Dōgen:
Wie kann irgendjemand seine eigene strahlende Klarheit (vorher) gekannt haben?“

Diesen Ansatz vertieft er weiter, indem er sagt, dass niemand vor diesem Ereignis es überhaupt wahrgenommen und erkannt hätte, wenn er der strahlenden Klarheit begegnet wäre. Vorher war es nur möglich, die Klarheit „mit dem Gehirn zu ergreifen“, das heißt also, sie nicht ganzheitlich zu erfahren, sondern sich lediglich im theoretischen Lernen und Denken vorzustellen. Dies ist aber gerade nicht die intuitive ganzheitliche Klarheit, die Dōgen beschreibt.

Er spricht sogar davon, dass es die gewöhnlichen Menschen verabscheuen, dieser großen Klarheit zu begegnen. Dadurch entfernen sie sich aber immer weiter von ihr und löschen sie vielleicht sogar ganz aus. Eine solche Entfremdung ist tief greifend und entwickelt eine unmittelbare negative Kraft. Sie führt zu Hektik oder Trägheit, Abhängigkeit oder Ablehnung, kurz gesagt: Sie ist unausweichlich mit den drei buddhistischen Giften Gier, Hass und Verblendung verbunden. Dōgen bezeichnet solche Menschen als „stinkende Hautsäcke“.

Dōgen erklärt, dass man sich die strahlende Klarheit nicht konkretistisch als rotes, weißes, blaues oder goldenes Licht vorstellen soll. Auch die Klarheit des Feuers oder des Wassers oder der Glanz einer Perle und das Glitzern eines Diamanten bleiben häufig auf der Ebene der äußeren Wahrnehmung hängen und können dann nicht als Beschreibung der umfassenden strahlenden Klarheit des Buddha-Dharma dienen. Wenn man auf sie fixiert ist, taugen sie noch nicht einmal als Gleichnis!

Er schildert, dass die Buddhas und Vorfahren im Dharma diese Klarheit praktizieren und erfahren, und genau dabei
„werden sie Buddha, sitzen als Buddha und erfahren Buddha.“

Es wird deutlich, dass Dōgen hier ebenfalls die Einheit der strahlenden Klarheit, der buddhistischen Praxis und des Handelns in den Mittelpunkt stellt. Das heißt, dass man ohne ein solches Handeln die strahlende Klarheit nicht erfahren kann.


Dienstag, 8. Oktober 2013

Das klare Selbst und das Universum sind identisch


Meister Chosa Keichin lebte im 9. Jahrhundert und wurde „Shin, die große Katze“ genannt, weil er einen außerordentlich präzisen und scharfen Geist besaß, der schnell wie ein Tiger war. Zweifellos war er ein großer Zen-Meister, der hervorragende geistige Klarheit und denkerische Fähigkeiten besaß, aber sich niemals in sinnlosen Theorien verstrickte oder der niemals mit seinem Wissen aus den buddhistischen Schriften prahlte.

Bei ihm war Denken und Handeln eine Einheit voller Klarheit. Von ihm ist ein bedeutendes Gedicht überliefert, das Dōgen hier zitiert:

„Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist das Auge des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist die tägliche Sprache des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist der ganze Körper des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist die strahlende Klarheit des Selbst.“

Nach der alten indischen Lehre besaßen das Universum und die Welt zehn konkrete Himmelsrichtungen. Sie stehen für ein ganz konkretes, realitätsnahes Bewusstsein und Verhalten in dieser Welt und im Universum. Mit dem Auge sind die sinnliche Wahrnehmung und vor allem das Sehen angesprochen. In der zweiten Zeile geht es um die klare und eindeutige Sprache der Buddhisten, die eine Verwirklichung der Welt und des Universums als Realität ist. Die Sprache und das Reden sind dabei keine Schein-Wirklichkeiten, die den Zuhörern vorgegaukelt werden und den Bezug zur Wirklichkeit und ethischen Klarheit verloren haben.

In der dritten Zeile geht es um die Form und den Körper, die ebenfalls zur leuchtenden Klarheit gehören. Ein abgehobener, angeblich klarer Geist, der ohne Körper auskommt, wird damit kategorisch ausgeschlossen. Wer intuitive Klarheit besitzt, hat auch eine klare Körperlichkeit und klare Gefühle: der Körper wird im Buddhismus nicht abgewertet.

In der letzten Zeile führt Meister Keichin das Selbst des Menschen auf, das sich radikal von einem abgegrenzten Ego des Egoisten unterscheidet, denn dieses hat weder die Klarheit über sich selbst, noch über die Welt oder über andere Menschen. Besonders ehrgeizige Ziele des Egoisten führen häufig dazu, dass der Mensch sich geistig verbarrikadiert und den realen Bezug zu anderen Menschen, zur Umwelt und zu sich selbst verliert. Dies kann bei Egoisten für die Dominanz des eigenen Körpers der Fall sein, zum Beispiel wegen dessen angeblicher oder wirklicher Schönheit oder Attraktivität. Es kann sich auch um geistigen Hochmut oder angebliche rhetorische Überlegenheit handeln. Für Egoisten gibt es kein offenes Selbst, das die eigenen engen Grenzen überschreitet und die Dualität von Subjekt und Objekt auflöst.

Die zehn Himmelsrichtungen werden in diesem Gedicht mit diesem offenen Selbst in strahlender Klarheit gleichgesetzt. Das wahre Selbst hat die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden und sich zum ganzen Universum hin geöffnet. Es bildet eine großartige Einheit mit ihm. Bei dieser Öffnung entsteht laut Meister Keichin die strahlende Klarheit. Dieses so verstandene Selbst ist in allen Menschen ausnahmslos vorhanden und wirksam, es ist die Buddha-Natur.

Genau in diesem Sinne verstehe ich die häufig missverstandene Ich-Losigkeit, die im Buddhismus gelehrt wird. Es ist unsinnig zu behaupten, dass die Wirklichkeit des Körpers, der Gefühle und des Handelns nicht vorhanden wäre. Entscheidend ist, ob es sich um ein unklares und daher abgegrenztes Ego handelt, also um einen mehr oder weniger krankhaften Ich-Bezug und die übertriebene Zentrierung auf sich selbst.

Das ist das Gegenteil eines offenen Selbst, das Joanna Macy aufgrund ihrer langen Erfahrungen im Umgang mit vielfältigen und nicht zuletzt psychischen Leiden ihrer Schülerinnen und Schüler beschreibt. Wer sich hinter seinen engen Ich-Grenzen verbarrikadiert, verliert seine Lebendigkeit, Kreativität und Lebensfreude – und die lebende Verbindung zur Umwelt sowie zu anderen Menschen.

Bei ihm gibt es kein Fließen mehr. In Bezug auf die Dynamik der Psyche möchte ich nach Freud hinzufügen, dass eine derartige Abgrenzung und Verdrängungsleistung erhebliche Energien des Menschen verbraucht, die dann für andere Aufgaben und Lebensbereiche nicht mehr zur Verfügung stehen.

Verdrängungen sind keine optimalen Lösungen psychischer Probleme; sie ermöglichen zwar ein minimales Überleben im Alltag, sind aber doch psychische Krankheiten  und müssen zum Beispiel zusammen mit einem Therapeuten aufgearbeitet werden. Nicht zuletzt blockieren sie die wichtigen Lernprozesse der verschieden Lebensphasen: Buddhas Achtfacher Pfad zur Überwindung des Leiden ist dann verschlossen.


Dienstag, 24. September 2013

Intuitives Handeln: der Weg zur Klarheit


Von besonderer Bedeutung ist im Buddhismus das Handeln im Augenblick, bei dem weder die materielle, noch die gedankliche Seite des Lebens dominiert. Wir können genau in der intuitiven Klarheit handeln, die Denken und Fühlen übersteigt. Dabei geht es primär nicht um die Zielerreichung, die in der Management-Lehre so sehr im Vordergrund steht. Das Ziel wird durch diese Klarheit gewissermaßen intuitiv und automatisch erreicht, ohne dass wir uns speziell darauf konzentrieren und fokussieren: Wer klar und effizient handelt, kann das Ziel kaum verfehlen, gerade weil er nicht verkrampft und im Handeln seine Kreativität behält. Im Übrigen ist die Fehlerwahrscheinlichkeit beim intuitiven, klaren Handeln sehr gering.

Die willensmäßige Geistesschulung kann sicher einen wichtigen Beitrag zur Transformation des Selbst in Richtung spiritueller und ethischer Klarheit bringen. Aber wir dürfen dabei nie die untrennbare Einheit von Körper-und-Geist vernachlässigen, und häufig hat der denkende Geist für die intuitive Klarheit nicht einmal die Hauptbedeutung. Wir wissen heute auch durch die Hirnforschung, dass sehr viele Prozesse im Gehirn, also im neuronalen Netz, unbewusst ablaufen und nur ein kleiner Teil dem Bewusstsein überhaupt zugänglich ist.

Durch intensives Training ist es zweifellos möglich, den bewussten Teil des Erkennens, Beobachtens und Erinnerns nachhaltig zu vergrößern. Aber wir dürfen niemals vergessen, dass das nur ein begrenzter Teil der Informations- und Steuerungsprozesse des Menschen ist, denn der Geist kann niemals vollständig erfasst werden: der wahre Geist ist viel größer.

Nishijima Roshi spricht daher davon, dass es bei der Klarheit vor allem auf das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems ankommt, das bekanntlich durch das Bewusstsein und den Willen nur sehr eingeschränkt oder überhaupt nicht beeinflussbar und steuerbar ist. Beim intuitiven, klaren Handeln ist sicher das Bewusstsein nicht ausgeschaltet, sondern es nimmt Teil an den Vorgängen. Ich nenne das gern „mitlaufendes Bewusstsein“.

Im Zen hat die Meditation ohne Objekte des Denkens und Fühlens einen zentralen Stellenwert, denn die Zazen-Praxis ist „Nicht-Denken“. Dabei sind die besonderen Schwingungen des neuronalen Netzes beim Zazen sogar präzise messbar; sie unterscheiden sich signifikant von den Schwingungen beim konzentrierten Denken und bei objektbezogener Fokussierung. Zazen bewirkt nach meiner festen Überzeugung eine „Tiefen-Heilung“ des Menschen und führt genau zu der strahlenden Klarheit, die Dōgen in diesem Kapitel behandelt.


Nishijima und Cross betonen, dass das Universum unser eigenes Leuchten und die strahlende Klarheit ist und dass sich dies genau in unserem Verhalten und Handeln verwirklicht: „Es gibt nichts anderes als diese leuchtende Klarheit.“ Sie ist das buddhistische Licht, von dem viele Meditierende berichten.

Sonntag, 15. September 2013

Die strahlende Klarheit von Körper und Geist


Die japanische Bezeichnung dieses Kapitels lautet Kōmyō, wobei „strahlend“ oder „hell“ bedeutet und myō „Klarheit“. Daher ist mit Kōmyō die strahlende Klarheit von Körper und Geist gemeint. Der Begriff Geist beinhaltet dabei nach heutiger Auffassung nicht zuletzt auch psychische Bereiche und Phänomene. Den Begriff der Psyche gab es so in Indien und in Ostasien zwar nicht, aber gerade bei Dōgen geht es beim Geist nicht nur um Denken oder besondere intellektuelle Fähigkeiten, sondern immer um das Ganze von Körper, Fühlen, Geist und Vernunft und geistigen Gegebenheiten, wie es schon in Buddhas Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit heißt. Vernunft übersteigt dabei immer Verstand, der Zen-Buddhismus ist immer im Einklang mit der Vernunft, z. B. nicht aber mit dem materiellen Verstand
.
Dōgen erklärt in diesem Kapitel, dass das ganze Universum klar und strahlend ist und dass wir durch den Buddha-Dharma und die Übungspraxis daran teilnehmen können. In ähnlicher Weise werden die Welt und unser Leben im Lotos-Sūtra beschrieben. Durch die Lehre des reinen Handelns und des Gleichgewichts im Hier und Jetzt können wir uns für die strahlende Klarheit öffnen. Unser Körper-und-Geist erfahren eine unerwartete Stärkung durch Energien, die wir uns vorher nicht ausdenken konnten und die sich jäh ereignen.

Erwachte Menschen leben in der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie verlieren sich weder in idealistischen Träumereien, noch erhoffen sie sich von materiellen Gütern und Reichtum das Glück auf dieser Erde. Idealistische und einseitig spirituell orientierte Menschen tun sich schwer damit, die konkreten materiellen Wirklichkeiten dieser Welt – also die Dinge und Phänomene, wie Nishijima Roshi dies gern nennt – unverstellt zu beobachten und als wichtig zu schätzen. Umgekehrt glauben materiell orientierte Menschen nur an physikalisch-chemische, also materielle Wirklichkeiten und neigen dazu, spirituelle Lebensbereiche abzulehnen. Beide Lebensphilosophien sind für sich allein jedoch völlig unzureichend, um die Klarheit im Leben und in der Welt zu verwirklichen.

Wenn wir den Glauben an die unbeschränkten Fähigkeiten des unterscheidenden Denkens und die dadurch angeblich erzeugten angeblich klaren Erkenntnisse aufgeben müssen, und das ist heute sicher unbestritten, dann ergibt sich die Notwendigkeit, eine erweiterte, umfassende Klarheit und Vernunft zu suchen. Eine solche Klarheit umfasst vor allen Dingen das intuitive ganzheitliche Verstehen, Beobachten und Handeln. Dabei ist geistige Intuition keinesfalls abwertend zu verstehen, indem man sie zum Beispiel als ungenau, unlogisch oder nur als verschwommenes „Bauchgefühl“ einstuft. Was kann der Zen-Buddhismus dazu beitragen, dass wir eine solche umfassende Klarheit entdecken und erfahren?

Gerade Psychotherapeuten wissen, dass nur rationale und logische Erklärungen, Ratschläge und Diskussionen bei psychischen Krankheiten und Problemen wenig bewirken können. Ohne ein umfassendes Vertrauensverhältnis und die intuitive Klarheit des Therapeuten darüber, wo das psychische Problem des Patienten liegt und wie es in vorsichtigen Schritten gelöst werden kann, sind keine Heilungsprozesse zu erwarten. Darüber hinaus ist die intuitive Klarheit in jedem zwischenmenschlichen Handeln, sei es mit oder ohne Worte, von zentraler Bedeutung. Das gilt in noch stärkerem Maße für spirituelle Erfahrungen. Nur durch eine trans-intellektuelle Klarheit ist es zum Beispiel möglich, Illusionen von spiritueller Wirklichkeit zu unterscheiden. Dasselbe gilt, wenn man einen spirituellen Lehrer sucht und sich dabei vor Scharlatanen und Geschäftemachern zu schützen hat.

Intuitive Klarheit ist keine diffuse, verschwommene Geistigkeit, sondern sie überschreitet ganz im Gegenteil das nur logische und intellektuelle Verstehen, so wichtig dieses in Einzelfällen sein mag. Kreative Künstler kennen bei ihrer Arbeit eine solche nonverbale Klarheit, die sich selbst verwirklicht und keiner bewussten willensmäßigen Steuerung durch den Künstler unterliegt. Diese Klarheit und Ruhe des Augenblicks können wir auch beim Bogenschießen erleben, wenn im Augenblick der höchsten Spannung die große Klarheit und Ruhe da sind und der Pfeil mit erstaunlicher Genauigkeit sein Ziel erreicht, wie Herrigel dies in seinem berühmten Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens formuliert. Das ist eine Gefühle von Frteiheit und Offenheut.

Beim Spiel der japanischen Meditationsflöte Shakuhachi gibt es ebenfalls Augenblicke großer Klarheit ohne Worte, die man wohl auch als mystische Klarheit bezeichnen kann. Unsere westlichen Sprachen versagen allerdings im Allgemeinen dabei, einen solchen Zustand treffend zu beschreiben.


Dienstag, 3. September 2013

Im Erwachen gibt es keinen zugesetzten Affen.



Wann haben wir die richtige und natürliche Bewegung, das richtige Fließen unseres Lebens verwirklicht?
Dōgen drückt sich so aus:
„Der Geist als Berge, Flüsse und die Erde sind nichts anderes als die (wirklichen) Berge, die Flüsse und die Erde.“

Es ist alles genau so, wie es ist, es wird dabei nichts in Form von Illusionen hinzugesetzt und nichts durch Täuschung weggenommen.

Das heißt: Es gibt (zur Wirklichkeit) keine zusätzlichen Wellen und keine (zusätzliche) Brandung (mit Gischt), keinen Wind oder Rauch.“

Dōgen macht sehr deutlich, dass dieser offene Geist eine Einheit mit dem Universum, also Sonne, Mond und Sterne bildet, aber gerade nicht mit Illusionen und Selbsttäuschungen. Diese werden uns häufig mit starken Bildern und Vorstellungen suggeriert, oft glauben die Suggerierer sogar selbst daran!

„Geist ist Leben-und-Sterben, Kommen-und-Gehen und ist nichts anderes als (wahres) Leben-und-Sterben, (wahres) Kommen-und-Gehen. Es gibt dann keine hinzugesetzte Täuschung oder (eingebildete) Verwirklichung.“

Die Wirklichkeit ist genau so, wie sie ist, und die scheinbar außerhalb von uns bestehenden Objekte wie Sonne, Mond und Sterne, Berge, Flüsse und die Erde existieren in der Einheit mit dem Geist, der erwacht ist und sich im Gleichgewicht befindet. Dies ist die zentrale Botschaft des Buddhismus, und es gilt, sie in unserem Leben handelnd zu verwirklichen und im Hier und Jetzt zu realisieren.

Der Geist sei nach Dōgen auch die Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine; und diese sind als Wirklichkeit genau so, wie sie sind. Es gibt in der Klarheit keine gedanklichen oder emotionalen Zusätze, und es wird nichts abgespalten oder weggelassen.

In diesem Zusammenhang zählt Dōgen auch die in der buddhistischen Lehre verankerten materiellen vier Elemente und fünf Komponenten (Skandas) des Menschen und der Welt auf: „Es gibt keinen zusätzlichen Schlamm oder (zusätzliches) Wasser.“

Dōgen führt weiter aus: „Es gibt kein zugefügtes Pferd oder (keinen zugesetzten) Affen.“ Im alten China war das Pferd ein Symbol für den rastlosen unnützen Willen und der Affe ein Symbol für den törichten hin und her springenden Verstand. Ein rastloser Wille schießt immer über das Ziel hinaus und besitzt keine Aufnahmefähigkeit für den natürlichen Zustand und die natürliche Bewegung. Er kann sich im Hier und Jetzt nicht öffnen und hat damit nicht teil an der Wirklichkeit. Dasselbe gilt für hektisches Denken und das törichte Arbeiten eines hin und her springenden Verstandes.

Ein Geist, der hier und jetzt Buddha ist, ist nicht befleckt:
Alle Buddhas sind unbefleckte Buddhas.“
Dōgen erklärt, dass die Buddhas mit genau diesem Geist hier und jetzt identisch sind. Sie erwecken den Willen zur Wahrheit, führen das praktische Training durch, verwirklichen das Erwachen, das die Erfahrung des Nirvāna ist. Er verstärkt diese Aussage, indem er sie in umgekehrter Form wiederholt:

Wenn wir niemals den Willen zur Wahrheit erweckt haben, also (niemals) das Training durchführen, das Erwachen (verwirklicht) und das Nirvāna (erfahren haben), dann ist (der Zustand) nicht Geist hier und jetzt. Und ist nicht Buddha.“

Das Nirvāna wird dabei nicht als ein jenseitiges Paradies verstanden, sondern als das erwachte Leben im Gleichgewicht des Hier und Jetzt, das identisch ist mit der Überwindung des Leidens.