Mittwoch, 30. April 2008

Den Geist und die Natur der Wirklichkeit ausdrücken und erklären

In diesem Kapitel (Kap. 48, Sesshin sesshô) erklärt Meister Dôgen die Wirklichkeit und Einheit von Natur und Geist und wie man sie ausdrückt und erläutert.
Klostergarten in Kyoto

Im Zen-Buddhismus zur Zeit Dôgens aber auch noch heute gibt es manche Buddhisten, die es für sinnlos oder gar gefährlich halten, dass man die Wirklichkeit des Geistes und der Natur mit Worten beschreibt und erklärt. Sie haben nur halb verstanden, dass im Buddhismus gelehrt wird: "der Geist kann nicht erfasst werden." In der Tat wird häufig auf die Wahrheit und Wirklichkeit jenseits von intellektuellem Denken und argumentativen Reden hingewiesen.

Aber die Lehre und Theorie des Buddha-Dharma muss unbedingt mit Worten und Gesten erklärt und erläutert werden. Dôgen sagt im Shobogenzo, dass die Sûtras, also die geschriebene Lehre, sowie die mündlichen Dharma-Vorträge der wahren Meister unbedingt auf dem Weg erforderlich sind, um die buddhistische Wahrheit zu erfassen und zu erlernen. Die grundsätzliche Ablehnung von Worten und Erklärungen erweist sich damit als verhängnisvolle Sackgasse.
Die Kritik Dôgens richtet sich auf der anderen Seite gegen einseitige und abstrakte Theorien, die sich von der Wirklichkeit abgelöst haben und keinen Bezug zur Praxis besitzen. Er kritisiert die isolierten, spitzfindigen Theorien, die allein auf dem unterscheidenden Verstand basieren und oft in selbstgefälliger Intellektualität verharren. Aber auch eine abstruse, angebliche buddhistische Lehre, die sich in Paradoxien, Widersprüchlichkeiten und geheimnisvoller Esoterik, gefällt wird von Dôgen für falsch erklärt. Diese Lehre lehnt jede Vernunft für die buddhistische Theorie grundsätzlich ab. Die Vernunft spielt aber im Buddhismus eine zentrale positive Rolle und sie geht oft über das logische und intellektuelle Theoretisieren hinaus. Im Buddhismus geht es um den Bereich der intuitiven umfassenden Vernunft. Es kommt also nicht darauf an, die Lehre und Theorie abzulehnen, sondern den hohen Wert und Nutzen zu erkennen, aber gleichzeitig deren Grenzen klar zu sehen und einzuhalten.

Das theoretische Verständnis der buddhistischen Lehre hat bei Dôgen einen sehr hohen Stellenwert. Er arbeitet in aller Klarheit heraus, dass man den Geist jedoch nicht abstrakt und isoliert verstehen darf. Er ist niemals von der Natur und dem Körper getrennt und bezieht sich immer auf das Hier und Jetzt, also auf den Augenblick je in der Gegenwart. Falsche Theorie löst sich von der Wirklichkeit ab und bleibt im Gedachten und Ideellen hängen, ohne die Brücke zur Wirklichkeit zu finden. Jegliche Abwertung der Einheit von Theorie und Praxis erteilt Dôgen eine deutliche Absage. Wer nicht seinen Geist benutzen will und nicht denken will, ist aus seiner Sicht bequem und unbeweglich. Es ist überhaupt nicht einzusehen, dass die großen Möglichkeiten des menschlichen Geistes ausgeklammert und nicht zur Blüte gebracht werden. Für Dôgen ist die Wirklichkeit des Geistes und der Natur von zentraler Bedeutung für den Buddha-Dharma. Er hält es für unerlässlich, dass sie im Gespräch zwischen Lehrer und Schüler, zwischen den Schülern untereinander in dem Sangha und nicht zuletzt im Dialog der Meister erläutert und ausgedrückt wird.

Dôgen zitiert als negatives Beispiel den Zenmeister Dai-e, der von 1089 bis 1163 lebte, also einer späten Phase des Zen-Buddhismus in China angehörte. Diese Zeit zeigte aus seiner Sicht bereits erhebliche Verfallserscheinungen. Der Zenmeister Dai-e wird wie folgt zitiert:

"Da es die Menschen heutzutage lieben über den Geist und die Natur der Wirklichkeit zu sprechen, da sie gerne über das Tiefgründige und Wunderbare reden, kommen sie langsam zur Wahrheit. Wenn ihr euch sowohl vom Geist als auch von der Natur befreit und das Tiefgründige und Wunderbare vergessen macht und es keinen Dualismus mehr gibt, erfahrt ihr den Einklang (mit der Wahrheit)."

Dôgen sagt hierzu kurz und bündig:
"Wer so redet, hat die genauen (Anweisungen) der Buddhas und Vorfahren im Dharma nicht verstanden und er hat nichts von ihren königlichen Juwelen (der Dharmareden) gehört. (Dai-e) spricht so, weil er den Geist nur auf das verstandesmäßige Denken, Wissen und die sinnliche Wahrnehmung beschränkt. Er hat nicht gelernt, dass auch das Denken, das Wissen und die Wahrnehmung (das natürliche Wirken) des Geistes sind. "

Das obige Zitat eines zwar bekannten, aber doch wohl beschränkten Meisters und Dôgens Aussage selbst zeigen in großer Klarheit und Tiefenschärfe das Wesentliche dieses Kapitels. An anderer Stelle im Shobogenzo wendet er sich gegen losgelöste und vor allem menschlich arrogante Theorie und fordert die Einheit von Theorie und Praxis, also von Denken, Wahrnehmung und Handeln. Darüber hinaus kommt es auf das selbstlose moralische Handeln an, das in dem Kapitel über soziales Verhalten und über das Handeln der Bodhisattva aufgezeigt wird. Nur in der Einheit dieser vier Lebensdimensionen kann es zum Erwachen oder zur Erleuchtung kommen. Dôgen nennt die Dharma-Reden von Gautama Buddha und von den wahren Meistern die „königlichen Juwelen“ und bringt damit seine große Wertschätzung zum Ausdruck. Er hätte sicher selbst keine umfangreichen Schriften verfasst, die im übrigen auf seinen mündlichen Dharma-Reden beruhen, wenn er der Lehre keinen hohen Stellenwert zugebilligt hätte.

In dem Kapitel: „Die Natur lehrt den Dharma“ und dem Zitat seines eigenen Meisters Tendô Nyojô: "Die blauen Blüten sind die Augen Gautama Buddhas" wird deutlich, dass die Natur für den Buddhaweg für Dôgen von ganz großer Bedeutung ist. In den Beispielen des großen Erwachens, das sich zum Beispiel ereignete, als ein Meister ein Feld blühender Pfirsichbäume im Tal erblickte oder als ein kleiner Stein ein Bambusrohr traf und einen ganz besonderen Klang erzeugte, sind treffende Tatsachen der großen Naturverbundenheit. Dôgen erläutert in diesem Zusammenhang, dass ein Erwachen durch die Natur meist sehr stabil ist und nicht zu Rückfällen neigt.
Der Geist ist nach Dôgen "die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark" der großen Buddhas und Meister und steht für die Einheit von Lehre, Natur und Geist. Er sagt hierzu:

"Das Tiefgründige, mit dem die Buddhas und Vorfahren innig vertraut sind, umfasst (auch) die Säulen und Steinlaternen im Freien. Das Wunderbare, worüber die Buddhas und Vorfahren sprechen, sind die Weisheit und das Verstehen.“

Der wesentliche Inhalt dieses Kapitels ist ein Koan-Gespräch der Meister Shinzan und Tôzan, das damit beginnt, dass Tôzan bei einem Spaziergang auf ein vor ihnen liegendes Kloster zeigte und sagte:

"Dort drinnen ist ein Mensch, der die Natur der Wirklichkeit zum Ausdruck bringt." Auf die Frage von Meister Shinzan: "Wer ist das?" antwortete Meister Tôzan:
"Du fragst mich, älterer Bruder, und ich bin direkt beim vollkommenen Tod angelangt." Meister Shinzan fragte darauf:

"Das Unfassbare, das den Geist und die Natur der Wirklichkeit ausdrückt, ist wer?"
Meister Tôzan sagte darauf: "Im Tod selbst ist kraftvolles Leben."

Dies ist auch in der Koan-Sammlung (Shinji Shôbôgenzô, Buch 1 Nr. 62) erläutert und wird von Dôgen im Laufe dieses Kapitels vertieft behandelt und von verschiedenen Seiten beleuchtet. Er schätzte dieses Koan sehr und begründet eingehend sein eigenes Verständnis von der Einheit des so verstandenen Geistes, der Natur und der Fähigkeit, die Wirklichkeit in Worte zu erfassen. Er betont, dass sich durch diese Einheit die großen Meister und Vorfahren im Dharma verwirklichen konnten.

Wenn die Wirklichkeit von Geist und Natur nicht mit Worten erklärt und gesagt wird, kann sich nach Dôgen auch das "wunderbare Dharmarad nicht drehen". Der Bodhi-Geist kann nicht erweckt werden, obgleich dieser immer am Anfang des Buddhaweges steht. Ohne dass die Einheit und Wirklichkeit von Geist und Natur ausgedrückt werden, kann sich die Wahrheit der Lebewesen und der Erde nicht erfüllen. Buddhas wortloses Hochhalten der Blume bei der Dharma-Übertragung an Mahakashyapa wäre ohne die spätere Beschreibung nicht übermittelt worden. Wir könnten ohne Worte nicht erfahren, dass die Buddhanatur alle Lebewesen ist und dass im höchsten Zustand auch gilt, dass niemand die Buddhanatur hat.

Dies wird im Kapitel „Das Geheimnis der Buddhanatur“ (Bussho) von Dôgen aus verschiedenen Richtungen beleuchtet und anhand der Zitate und Koan-Gespräche alter Meister tiefgründig erläutert. Die Frage nach der Buddhanatur war für ihn selbst zur Schicksalsfrage geworden, die er mit dem in Japan damals gelehrten einseitigen theoretischen Buddhismus nicht lösen konnte. Erst die Begegnung mit seinem eigenen Meister Tendô Nyojô schenkte ihm dazu Klarheit und das große Erwachen.
Dôgen verbindet im Folgenden die Einheit der Wirklichkeit von Geist und Natur mit den großen Ereignissen der buddhistischen Geschichte in China. Er verdeutlicht, dass diese die buddhistische Wirklichkeit im Augenblick je in der Gegenwart sind und betont, dass man sie in Worte fassen muss:

"Die gewöhnlichen Menschen jedoch, die diesen Geist nicht durchdringen und diese Natur nicht erfassen, erkennen in ihrer Unwissenheit nicht, dass es notwendig ist, über den Geist und die Natur der Wirklichkeit zu sprechen."

Solche Gespräche müssen wir uns grundsätzlich wie die berühmten Koan- Gespräche vorstellen, die scheinbar paradox sind, aber in Wirklichkeit Tiefgründiges und Wunderbares in ihrer ganzen Wirklichkeit ansprechen und ausdrücken. Sie überschreiten die Begrenztheit des unterscheidenden Verstandes und der intellektuellen Scharfsinnigkeit, ohne in allgemeines spirituelles ´Geschwafel´ abzugleiten. Dôgen rät gewöhnlichen Menschen, die nicht auf dem Buddhaweg sind, sich kritisch damit auseinanderzusetzen, ob sie zur großen Wahrheit vorgedrungen sind oder nicht und ob sie sich mit vordergründigen oder sogar eitlen Gesprächsformen zufriedengeben.
Für ihn ist das Handeln und Erfahren unbedingt notwendig, um die Wirklichkeit zu finden. Er sagt dazu:

"Im Handeln bewahren und erforschen die Buddhas und Vorfahren im Dharma das Tiefgründige und Wunderbare. Solche Menschen nennen wir die Kinder und Enkel Buddhas und Vorfahren, die den Buddha-Dharma wirklich erforscht haben."

Es nützt aber nichts, wenn man die Dualität von Geist und Natur nur vordergründig rhetorisch behandelt. Das gleiche gilt, wenn die Meister zwar davor warnen, aber die Schüler eine solche Dualität nur verstandesmäßig und deklamatorisch ablehnen. Er kritisiert in diesem Zusammenhang besonders den oben genannten Meister Dai-e, der die Einheit des Geistes mit dem Körper, also mit den eigenen Händen und beim Handeln, nicht erkannt und gelehrt habe. Die Weiterentwicklung nach der Erleuchtung und dem Erwachen, die Dôgen in einem anderen Kapitel tiefgründig behandelt, sei von diesem Meister nicht verwirklicht worden.
Dôgen zitiert dann Meister Bodhidharma, der zu seinem Nachfolger und Schüler Eka sagt:

"Wenn die Außenwelt dich nicht mehr beunruhigt und du im Innern ohne Sorge bist, dein Geist wie Hecken und Mauern ist, dann wirst du in die Wahrheit eingehen können."

Meister Eka praktizierte und lernte unter Bodhidharma mit aller Kraft und Ausdauer und sagte schließlich, dass ihn die Außenwelt nicht mehr beunruhigt. Er sagte:

"Weil ich das Erlöschen immer ganz klar erkenne, kann ich es nicht in Worten ausdrücken."

Bodhidharma erkannte und bestätigte, dass sein Schüler den höchsten Zustand erlangt hatte, in dem man die Grenzen der Worte erkennt, aber gleichzeitig weiß, dass die Sprache zum Ausdrücken und Lehren der Wirklichkeit unbedingt erforderlich ist. Dôgen lehnt das aus seiner Sicht vordergründige Verständnis der späteren gewöhnlichen Menschen massiv ab, dass Eka nur dadurch den höchsten Zustand erreicht habe, weil er nicht mehr versucht hatte, die Wirklichkeit mit Worten auszudrücken. Dies sei eine völlig falsche Schlussfolgerung aus der obigen Überlieferung. Wenn man es aufgibt, die Wirklichkeit von Geist und Natur so weit wie möglich verbal auszudrücken, wird man nach Dôgen den höchsten Zustand niemals erreichen.

Er sagt weiter, dass man sich nicht entmutigen lassen darf, wenn es nicht gelingt, diese Wirklichkeit vollständig mit Worten zu beschreiben. Wir müssen es immer wieder versuchen und daran lernen, um auf dem Weg weiterzukommen. Wenn man es viele Male versucht, führt es dazu, "dass wir jetzt den Kern und das Wesentliche treffen.

"Es hat auch keinen Sinn, entmutigt auf dem Dharma-Weg aufzugeben und nach anderen leichteren Wegen zu suchen."
Die Einheit von Lehre und Praxis ergibt sich auf dem Buddhaweg nach Dôgen von Anfang an, wenn man den Bodhi-Geist erweckt hat, und bis zum höchsten Zustand. Es ist immer der wahre Weg.

Er lobt das Koan-Gespräch von Meister Shinzan und Tôzan außerordentlich, und stellt sie dem Meister Dai-e gegenüber, dem es nicht gelungen sei, die Einheit von Geist und Natur zu erfassen. Allerdings sei dieser Meister in seiner Zeit in China im Verhältnis zu anderen durchaus zu schätzen, da es keinen anderen gäbe, der sich mit ihm vergleichen ließe. Das ist in der Tat bezeichnend für den Niedergang des Buddha-Dharma.

Bei den Menschen gibt es nach Dôgen eine individuelle und eine universale Weisheit, Wirklichkeit und Lebensphilosophie. Dies umfasst sowohl das Innen als auch das Außen des Menschen. Er fährt fort:

„Die Buddha-Natur bedeutet, dass alle Dinge und Phänomene sich selbst zum Ausdruck bringen.“

Das Nichts der Buddha-Natur bedeutet ebenfalls nichts anderes, als dass alle Dinge und Phänomene sich selbst zum Ausdruck bringen. Dann benötigt man nämlich die Vorstellung einer Buddha-Natur nicht mehr. Sowohl die Existenz als auch das Nichts der Buddha-Natur sei aber wesentlich, um sie zu verstehen, erfahren und praktizieren. Geist und Natur werden von den Menschen ausgedrückt, aber sie bringen sich auch selbst unabhängig vom Menschen zum Ausdruck. Sie lehren zum Beispiel die Wahrheit des Buddha-Dharma, ohne dass Worte verwendet werden.
Was ist der Sinn der obigen Aussage: "Du fragst mich, älterer Bruder und ich bin direkt beim vollkommenen Tod angelangt."

Wir können dies so interpretieren, dass die vorherigen Vorstellungen und Vorurteile gestorben sind und dass der alte begrenzte Geist den Tod gefunden hat. In diesem Gespräch sind die beiden Meister direkt im höchsten Zustand angekommen und handeln dort. Durch die Frage, wer der Mensch im Kloster in Wahrheit sei, wird die gewöhnliche Vorstellung von einem Menschen überwunden. Da man bei der Frage des „Wer“ zum Unfassbaren des Menschen gelangt. Man sollte sich zum Beispiel bewusst sein, dass durch den Namen das Wesentliche des Menschen nicht angesprochen oder gekennzeichnet werden kann.

Dôgen kommt dann auf die hohe Bedeutung des Augenblicks in jedem wesentlichen Gespräch zurück. Er bezeichnet ihn als absolut und zentral. Dies gelte, ob im Gespräch das Vergangene, das Gegenwärtige oder das Zukünftige geklärt werde.
Dôgen lobt dann Tôzans Aussage: "Im Tod selbst ist kraftvolles Leben." Damit sei einerseits gemeint, dass sich durch den „Tod der vor gefassten Meinungen“ und der Vorurteile das kraftvolle Leben entfaltet und der höchste Zustand lebendig ist. Dies gilt auch, wenn man die nur sinnliche Wahrnehmung eines Materialisten überwindet. Eine solche Aussage gehe über die Individualität eines Menschen hinaus und erreiche die Ebene einer absoluten Aussage, die universell ist wie das Universum selbst. „Kraftvolles Leben“ kennzeichnet das Leben hier und jetzt in der Wirklichkeit, das nicht von schweren Gedanken über den zukünftigen Tod überschattet wird. Diese würden sich wie ein dunkler Vorhang vor die strahlende Wirklichkeit des Hier und Jetzt schieben.
Dôgen sagt gegen Ende dieses Kapitels:

"Denkt daran, dass es von der Tang-Dynastie bis heute viele bedauernswerte Menschen gab, die nie verstanden haben, dass der Buddhaweg selbst schon der Ausdruck des Geistes und der Natur der Wirklichkeit ist. Solche Menschen wissen nicht, dass die Lehre, die Praxis und die Erfahrung nichts anderes sind als den Geist und die Natur der Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen."

Weil sie diese Wahrheit nicht erkannt haben, hätten sie selbst spitzfindige Formulierungen und Theorien entwickelt, die aber gerade von der Wahrheit des Buddha-Dharma wegführen und unbedingt vermieden werden müssen.

Samstag, 5. April 2008

Die Kraft und Tugend des Kesa-Gewandes

Meister Dogen behandelt in zwei aufeinanderfolgenden Kapiteln sehr ausführlich seine Erfahrungen und seine Lehre über das buddhistische Gewand, das auf Japanisch Kesa und auf Sanskrit kashaya genannt wird.

Im Kapitel „Die Verdienste des Kesa“ (Kap. 12 Kesa kudoku) behandelt er die Besonderheiten dieses japanischen Gewandes, das nach ostasiatischer Lehre sich direkt auf Gautama Buddha zurückführen lässt und von allen Meistern in den verschiedenen Traditionen ohne Unterbrechung getragen wurde. Das darauf folgende Kapitel "Die Weitergabe des Gewandes" (Kap. 13, Den-e) ist etwas kürzer als das vorherige, hat aber im Wesentlichen den gleichen Inhalt. Nishijima Roshi sagt daher, dass das erste Kapitel die Mitschrift des Dharmavortrages von Meister Dogen war und das folgende Kapitel seine eigenen Aufzeichnungen umfasst, die er vorher niedergelegt hatte.
Wir wollen hier das erste ausführlichere Kapitel behandeln, in dem nicht nur die Bedeutung und Besonderheit des Kesa im Einzelnen wiedergegeben wird, sondern die persönlichen Erfahrungen der Erlebnisse von Dogen selbst sehr lebendig geschildert werden. Er betrachtete das Kesa keineswegs nur als formales oder auch rituelles Gewand, sondern es ist für ihn die „Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ selbst und er beschreibt sehr genau, wie man es praktisch anlegt und trägt. Damit wird ein direkter Bezug zum wirklichen Handeln im Alltag hergestellt. Das Kesa und die Essschalen (Patra) sind wesentliche Gegenstände des buddhistischen Lebens und werden auch heute in einer besonderen Zeremonie vom Meister an die Schüler übergeben. Diese Tradition lässt sich auf Gautama Buddha selbst zurückführen und entwickelt selbst eine große Kraft. Dogen ist fest davon überzeugt, dass es ein großes Glück ist, überhaupt den Buddha-Dharma und das Kesa kennenzulernen, sodass er glaubt, dass eine solche Begegnung durch verdienstvolles Handeln ermöglicht wurde. Er betont, dass es etwas ganz Besonderes ist, das Kesa von seinem eigenen Meister zu empfangen und es zu tragen. Auch Nishijima Roshi empfiehlt, das Kesa bei der Zazen-Praxis und bei Dharma-Vorträgen anzulegen.
Dogen sagt hierzu:

"Die authentische Weitergabe des Gewandes und des Dharma nach China, die unverfälscht von Buddha zu Buddha und einem Vorfahren im Dharma zum anderen erfolgte, ist allein dem großen Meister (Bodhidharma) vom Sugaku-Gipfel (zu verdanken). Er war der 28. Nachfolger im Dharma von Shakyamuni Buddha in Indien."

Dieses Gewand ist aus mehreren Streifen zusammengenäht und wird so getragen, dass die linke Schulter bedeckt ist. Die rechte Schulter bleibt frei, indem das Gewand unter der rechten Schulter hindurchgeführt wird. Es gibt verschiedene Farben für das Kesa, die meisten sind ocker, gelb oder braun, aber es ist niemals grell und auffällig gefärbt. In der Linie von Dogen zu NishijimaRoshi der Sôtô-Tradition wird das Kesa mit angenähten Kordeln und deren Schleife zusammengehalten. Wenn man dieses Gewand angelegt hat und sich zur Zazen-Praxis auf das Kissen niedergelassen hat, so entsteht in der Tat eine besondere Kraft, die für die Übungs-Praxis eine besondere Unterstützung gibt. Dogen betont mehrfach, dass die Bedeutung des Kesa nicht der Stoff, also die materielle Grundlage allein ist, sondern dass man beim Tragen die Verbindung mit den großen Meistern und Gautama Buddha selbst hat.

In der chinesischen Tradition brachte Bodhidharma sein Kesa aus Indien mit sich, als er nach China kam, und übergab dieses später an seine direkten Nachfolger, sodass sich die Kette der Weitergabe des Kesa bis in die Gegenwart hinein fortsetzte.
Der große sechste Nachfolger im Dharma in China, Daikan Enô, erhielt das Gewand von seinem Meister als er selbst noch nicht Mönch war, sondern im hinteren Teil des Klosters als Arbeiter angestellt war. Er war durch ein Dharma-Gedicht auf ihn aufmerksam geworden, das Daikan Enô nicht einmal selbst an die dafür vorgesehene Wand im Kloster geschrieben hatte, weil er nach der Überlieferung Analphabet war.

Dogen schätzt das Kesa-Gewand und dessen Weitergabe an die Nachfolger außerordentlich hoch und preist ein Land, in dem es diese lebendige Tradition des Gewandes gibt. Gerade die unmittelbare Übertragung von Angesicht zu Angesicht ist für den ostasiatischen Buddhismus von zentraler Bedeutung. Sie wird als notwendige Bedingung angesehen, dass die Buddha-Lehre lebendig und wahr ist.

Erst durch Bodhidharma kam das Kesa und die wahre Übertragung von einem Meister zum anderen nach China, während vorher zwar die buddhistische Lehre bekannt und weit verbreitet war, aber die Weitergabe des wahren Dharma unbekannt war. Wenn es in einem auch kleinen Land nach Dogen das Kesa gibt, so

"mag dies in Wahrheit besser sein als über die zahllosen Welten der drei großen-tausendfachen Welt zu herrschen. Wo könnte in dieser dreitausend großen tausendfachen Welt, in die Buddhas Einfluss hineinwirkt, das Kesa nicht gegenwärtig sein."

Er führt dann die auf einander folgenden großen Meister auf, die das Kesa, also das Gewand der buddhistischen wahren Lehre, weiter gegeben haben. Er sagt, dass das höchste Verdienst darin besteht, wenn es sich um dessen authentische Weitergabe handelt. Aber das Kesa habe auch große Kraft und Tugend, wenn es überhaupt übergeben wird. Es habe seinen großen spirituellen Wert aus sich selbst. Selbstverständlich kann es nicht nur von ordinierten Mönchen und Nonnen, sondern auch von Laien empfangen, getragen und bewahrt werden.
Die hohe Bedeutung wird von Dogen wie folgt ausgedrückt:

"Wenn die Buddhas die Wahrheit verwirklichen, tragen sie immer das Kesa. Denkt daran, dass dies das höchste und erhabenste Verdienst ist."

Er verbindet damit das Erlangen der Wahrheit und das Erwachen mit dem Gewand des Kesa und auch Nishijima Roshi empfiehlt das Kesa vor allem bei der Zazen-Praxis anzulegen.
Dogen sagt wörtlich:

"In der Tat sind wir in diesem weit abgelegenen Land (Japan) im Zeitalter des Niedergangs geboren und wir sollten es bedauern. Gerade deswegen sollten wir uns glücklich schätzen, dem Dharma-Gewand begegnet zu sein, das authentisch von einem Buddha zu einem anderen weiter gegeben und von einem Nachfolger zum anderen übermittelt wurde."

Er hebt dann die Besonderheit des Kesa hervor, die nur in dieser Form in den buddhistischen Traditionen weiter gegeben werde, während es in anderen religiösen Linien in dieser Form und Bedeutung nicht gäbe. Dass es sich in einer nicht unterbrochenen Kette bis auf Gautama Buddha selbst rückführen lässt, entwickelt nach Dogen eine besondere Kraft, die er außerordentlich schätzt. Die Verehrung des Gewandes wird vor allem dadurch ausgedrückt, dass man es in gefalteter Form vor der Zazenpraxis auf sein Haupt legt. Die Kraft des Kesa ist nach Dogen wirksam, obgleich Gautama Buddha viele tausend Kilometer entfernt in Indien lebte, weil Bodhidharma es persönlich nach China brachte und damit die große Blüte des Buddhismus in China einleitete.

Dogen sagt weiter:
"Ist es möglich, dass diese Praxis nur das Verdienst eines Buddhas oder zweier ist? Vielmehr mögen die mannigfaltigen Verdienste (dieser Praxis) von so vielen Buddhas erlernt und geübt worden sein wie es Sandkörner am Ganges gibt."

Er macht damit deutlich, dass wir die Vorstellungen an bestimmte Personen übersteigen sollten um "zu verstehen", was es mit dem Kesa wirklich auf sich hat. Er sagt:

"Ihr solltet die tiefe Güte des großen Vorfahren im Dharma (Bodhidharma), der den Dharma weitergab, dankbar erwidern. Sogar die Tiere erwidern Zuneigung. Wie wäre es möglich, dass die Menschen eine solche Güte nicht erkennen. Wir wären beschränkter als die Tiere, wenn wir sie nicht erkennen würden. ...Selbst nach hunderten, tausenden, zehntausenden von Generationen sollte diese authentische Weitergabe als wahr erkannt und geschätzt werden. Sie ist wohl der Buddhadharma selbst und seine Echtheit wird sich im Laufe (der Zeit) sicherlich immer wieder bestätigen."

Dogen betont anschließend, dass die Kraft und das Verdienst des Kesa im Laufe der Zeit nicht weniger wird, sich also nicht verdünnt, wie man z. B. Milch mit Wasser verdünnt. Dies gilt auch, wenn das Kesa von einem Meister an einen "mittelmäßigen" Schüler übergeben wird.
Dogen sagt hierzu:


"Als der Tathagata Shakyamuni in seiner Güte den Schatz des wahren Dharma-Auges und das höchste Erwachen an Mahakashyapa weitergab, gab er diese zusammen mit dem Kesa weiter. So wurde das Gewand von einem rechtmäßigen Nachfolger zum anderen bis zum Meister Daikan Enô vom Berg Sokei weitergegeben. Dies war die dreiundreißigste Generation."

Er beschreibt dann im Einzelnen, dass es verschiedene Formen des Kesa gibt und dass man diese je nach Anlass und Jahreszeit auch übereinander tragen kann. So gibt es das Kesa mit fünf oder sieben Streifen und außerdem eine große Kesa, die im Winter getragen wird.
Es wird dann berichtet, dass es die Theorielehrer des Buddhismus und die Experten der Sûtra in China gegeben habe, die erkannten, dass die Lehre allein unzureichend ist und die deshalb das Kesa empfangen und getragen haben und anfingen Zazen zu praktizieren. Damit haben sie die Schwelle zum wahren Buddha-Dharma überschritten und konnten in die wirkliche Lehre eintreten. Dogen sagt:

"Damit legten sie ihre wertlosen früheren Gewänder ab und empfingen und bewahrten das authentisch weitergebende Kesa der Buddhas und Vorfahren im Dharma."

Er betont, dass hierdurch auch die wahre Verbindung zur buddhistischen Lehre hergestellt wird und dass eigenständige Irrlehren im Buddhismus, die es auch im damaligen China gab, vermieden werden. Das Kesa ist damit das Bindeglied zum wahren Dharma. Subjektive und eigenständige Theorien von angeblichen Meistern werden damit überflüssig und die authentische Übertragungslinie garantiert. Das Kesa sollte auch nicht irgendwelchem modischen Zeitgeschmack unterworfen werden, um aufzufallen und auf Dritte großen Eindruck zu machen.

Auch Nishijima Roshi betont die Bedeutung der unverfälschten Tradition, die von Meister Dogen in aller Klarheit beschrieben wird und die durch das Kesa einen besonders klaren Ausdruck erhält. Dieses authentisch weitergegebene Kesa sei das wahre traditionelle Gewand der Kinder und Enkel von Gautama Buddha.
Dogen unterstreicht die Bedeutung dieses Gewandes dadurch, dass man sofort an dessen Kraft teilhat, wenn man seinen Körper nur einmal damit bedeckt. Dies auch, wenn es nur für einen Bruchteil eines Augenblicks geschieht. Er sagt wörtlich:

"So ist das Kesa kein von Menschenhand 'angefertigtes' oder 'nicht angefertigtes' Produkt. Es gibt auch keinen Ort, wo es 'existiert' oder 'nicht existiert'. Nur die Buddhas zusammen mit den Buddhas können das Kesa vollkommen verwirklichen."

Er schreibt diesem Gewand eine fast mystische Bedeutung auf dem Buddhaweg zu, die weit über die üblichen Begriffe wie existent oder nicht und angefertigt oder nicht hinausgehen. Damit wäre nur die Ebene der Ideen und des Materiellen angesprochen. Beides kann die Bedeutung des Kesa jedoch nicht vollständig erfassen. Es werden dann verschiedene Bezeichnungen für das Kesa, die zu Zeiten Dogens üblich waren, aufgeführt: Gewand der Befreiung, Gewand der Beglückung, Gewand ohne Form, höchstes Gewand, Gewand der Geduldsamkeit, Gewand des Tathagata, Gewand der großen Güte und des großen Mitgefühls und das Gewand, das die Fahne der Vortrefflichkeit ist. Das Kesa sollte auf diese Weise übermittelt, getragen und bewahrt werden und es sollte nicht willkürlich verändert werden.
Dogen kritisiert damit Menschen, die diese Wahrheit des Kesa nicht anerkennen wollen und die authentische Weitergabe für wirkungslos halten. Er spricht dabei von Selbstgefälligkeit und Mangel an Vertrauen und sagt:

"Sie verwerfen das Wirkliche und jagen Vergänglichem nach, sie reißen die Wurzel aus und suchen dann nach den Zweigen."

Dogen berichtet die bekannte Geschichte einer Nonne (Utpalavarna), die zum Spaß das Kesa anlegte, als sie in einem Leben Prostituierte war und überhaupt nicht an die Kraft dieses Gewandes glaubte. In der Geschichte, die noch im alten Indien spielte, entfaltete das Kesa dann eine neue große Kraft in ihrem Leben, die sie von Grund auf veränderte. Sie hatte zum ersten Mal einen unmittelbaren Kontakt zum Buddha-Dharma gewonnen, der sich im Folgenden äußerst positiv auf sie auswirkte. Es wird berichtet, dass sie im nächsten Leben Nonne wurde und versuchte lebenslustige und leichtfertige Damen der Gesellschaft davon zu überzeugen, dass sie ihr bisheriges oberflächliches und genusssüchtiges Leben aufgeben und die Gelübde einer Nonne ablegen sollten.

Die jungen Damen antworteten aber darauf, dass sie diese Gelübde nicht ablegen könnten, weil sie diese mit großer Wahrscheinlichkeit brechen würden und dann in die Hölle müssten. Dies ist in der Tat eine eigenartige Argumentation, denn es geht ja um das Handeln selbst und nicht nur darum, ob man die Gelübde immer einhält. Wichtig sei aber, dass man an der Kraft des Kesa teilhat. Dogen zitiert die Nonne wie folgt:

"Wenn ich nur Unrecht getan und ohne die direkte und indirekte Wirkung (des Kesa) sowie die Gebote nicht empfangen hätte, dann hätte ich die Wahrheit niemals erlangen können. Ich wäre ein Leben nach dem anderen in die Hölle gekommen. Wieder aus der Hölle herausgekommen, hätte ich erneut Unrecht getan."

Dogen lässt keinen Zweifel daran, dass er an diese Geschichte und an die Kraft des Gewandes glaubt, die sogar wirksam ist, wenn eine Prostituierte zum Scherz und aus Vergnügen das Kesa anlegt.
Es wird dann noch einmal verdeutlicht, dass das Kesa auch von Laien empfangen und getragen wird und dass es nicht auf Mönche und Nonnen beschränkt ist. Dies sei eine Besonderheit des Mahayana und von großer Bedeutung, denn auch Könige und der berühmte Prinz Shotoku in Japan haben das Kesa erhalten und bewahrt. Dieser habe sogar das Wort "Kesa" in Japan eingeführt, sodass das Gewand konkret gesehen und das Wort gehört werden könne.

Am Ende des Kapitels wird beschrieben, dass im alten Indien das Kesa aus alten Stoffen hergestellt wurde, die von anderen weggeworfen wurden. Es wird beschrieben, dass man diese verschmutzten und herum liegen Stoffe prüfen solle, ob sie löcherig und abgeschabt sind, sodass sie nicht mehr gereinigt und verwendet werden können. Man solle dann die guten Teile abtrennen und reinigen. Daraus kann das Kesa zusammengenäht werden. Dieser Vorgang wird als Gleichnis aus dem Agama Sûtra für den Umgang mit anderen Menschen zitiert:

"Wenn das körperliche Verhalten der Menschen in gleicher Weise unrein ist, sein Reden und sein Geist aber rein, dann achtet (der Weise) nicht auf sein körperliches Verhalten, sondern beachtet nur die Reinheit seiner Worte und seines Geistes. Der Weise der über das, was er sieht, in Zorn gerät, kann sich auf diese Art davon befreien."

Es wird dann weiter ausgeführt, dass auch das Umgekehrte gilt, wenn das Reden und der Geist unrein sind, das Verhalten aber rein. Dann solle man auf das Reine achten und es ansprechen und nicht das Unreine. Man könne also wie bei einem alten Stoff das Gute aussondern, reinigen und verwenden und in ähnlicher Weise bei einem Menschen die positiven Bereiche verstärken und unterstützen.
Dogen berichtet von einem eigenen Erlebnis, dass in China bei der Zazen-Praxis ein chinesischer Mönch neben ihm saß, der sein Kesa vor der Praxis auf sein Haupt legte und das folgende Gedicht sagte.

„Wie großartig ist das Gewand der Befreiung
Ohne Form, Feld des Glücks, Robe!
Voll Glauben die Lehren des Tathagata tragen.
Umfassend will ich die Lebewesen retten.“


Er berichtet, dass ihn dies tief berührte und dass "unbemerkt Tränen der Ergriffenheit (über mein Gesicht) liefen und mein Kragen feucht wurde." Er hätte im Agama-Sûtra zwar schon von diesem Brauch gelesen, aber ihn bis dahin niemals in der Wirklichkeit erlebt. Er nahm sich damals fest vor, diesen Brauch auch in Japan einzuführen, weil es ihn dort noch nicht gegeben hatte und in der Tat wird diese Tradition auch heute gepflegt.
Am Ende es Kapitels sagt er:

"Wir dürfen uns wirklich glücklich schätzen, dass wir das Gewand Buddhas ehrerbietig auf unser Haupt legen und uns lösen können von Göttern, Geistern, Königen und Ministern, denen wir gedient haben, um vergänglichen Ruhm und Gewinn zu ernten."