Montag, 26. September 2011

Die Sein-Zeit der Wirklichkeit im Hier und Jetzt (Uji)

Dōgens Ausführungen über die „Sein-Zeit“ zählen zweifellos zu den wichtigsten Texten des Buddhismus, aber sie erschließen sich uns westlichen Menschen nicht leicht. Trotzdem wollen wir uns jetzt daran wagen.

Stark verkürzt ausgedrückt bedeutet die Sein-Zeit, dass unser wahres Leben und Handeln, also das existenzielle Sein, nicht von der Zeit und dem Augenblick getrennt werden kann, in dem alles stattfindet. Wenn wir das ganz klar selbst erfahren, befinden wir uns in der Wirklichkeit.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich spreche im Folgenden von der „linearen Zeit“ im Gegensatz zur „Sein-Zeit“, wenn die uns vertraute Vorstellung gemeint ist, dass die Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft wie eine Linie verläuft. Diese lineare Zeit hat jedoch in diesem Kapitel Dōgens nur eine nebengeordnete Bedeutung.

Das U im japanischen Titel bedeutet „Existenz“ und ji heißt „Zeit“. Also kann man Uji mit „Existenz-Zeit“ oder „Sein-Zeit“ übersetzen. Wichtig ist, dass es sich hier bei dem Begriff „Sein“ nicht um ein unverändertes „ewiges Sein“ handelt, wie es in der europäischen Philosophie häufiger beschrieben wird. Dōgens realistisches Verständnis der Zeit und des Seins geht von unserem Leben und Handeln im Augenblick aus und nicht von abstrakter Dauerhaftigkeit oder gar Ewigkeit. Das Sein der Wirklichkeit lässt sich nach Dōgen von der Zeit überhaupt nicht trennen. Warum?

Beides bildet in der Wirklichkeit eine Einheit – nur im theoretischen Denken kann man Sein und Zeit überhaupt voneinander trennen und unterscheiden. Durch eine solche Unterscheidung geht jedoch die entscheidende Qualität der Wirklichkeit und der Existenz gerade verloren, die im Buddhismus und besonders in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht. Wir landen dann im Elfenbeintürmchen der Philosophie. Im gegenwärtigen Augenblick stoßen die Vergangenheit, die immer Erinnerung in unserem Gehirn ist, und die Zukunft, die eine Erwartung darstellt, genau zusammen. Das und nur das ist die Wirklichkeit!

Nicht zu vergessen: Das Handeln ist bei Dōgen die Grundvoraussetzung für die Wirklichkeit. Handeln ist ohne Zeit unmöglich, sodass die Sein-Zeit in der buddhistischen Erfahrung und Lehre identisch mit dem Augenblick des Handelns ist. An diesem Punkt schlagen Nishijima Roshi und M. Cross die Brücke zur westlichen Philosophie:

„So erinnert die Sichtweise der Zeit im Buddhismus an den Existenzialismus in der modernen Philosophie. Es ist sehr wichtig, die buddhistische Sichtweise der Zeit zu verstehen, um die wahre Bedeutung des Buddhismus zu erfassen“.

In der Tat ist auch im Existenzialismus die Frage nach der wirklichen Zeit von zentraler Bedeutung. Martin Heidegger hat sein großes Werk Sein und Zeit genannt. In der Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf Elberfeld in seinem Buch "Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, Methoden interkulturellen Philosophierens" intensiv mit diesem Thema beschäftigt und auf den Buddhismus zurückgegriffen. Auch in der westlichen Welt und im westlichen Denken rückt also die Wirklichkeit der wahren Zeit immer mehr ins Blickfeld.

Die Psychologie beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema Wirklichkeit und Zeit. Sigmund Freud, Verena Kast und andere namhafte Psychologen haben herausgearbeitet, dass man sich der Wirklichkeit unbedingt stellen muss, um psychisch gesund zu sein oder zu werden. Und: Erleuchtung ist das Verschrotten des eigenen Käfigs, den wir uns aus Vorurteilen, Gier, Hass und Verblendung selbst gebaut haben.
Diese Erkenntnis bildet die Grundlage wirkungsvoller Therapien – vor allem bei tiefenpsychologisch orientierten Ansätzen –, bei denen der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten Verdrängungen aufdeckt, bewusst macht und neu bewältigt. Auf diese Weise kommt der psychische Heilungsprozess in Gang, durch den man der Wirklichkeit ins Auge sehen kann und zurück in ein gesundes Leben findet.

Nakagawa Roshi schreibt zum Thema Zeit:
„Wenn man Zeit tief begreift, findet man das wahre Leben. So möchte ich spontan auf die Frage antworten, ob man dem Druck der Zeit entfliehen kann. Doch dann kommt sofort die Frage: Was ist überhaupt die Zeit?“.
Dieser Frage möchte ich nun in diesem Blog nachgehen.

Montag, 19. September 2011

Zazen auf dem Dharma-Weg

Alle Worte der Lehre, und seien sie auch noch so poetisch oder scharfsinnig, können immer nur auf die große Wahrheit hinweisen, sie aber nicht ersetzen. Sie sind dauernd in Gefahr, in Spitzfindigkeiten auszuarten oder romantische Träumereien zu erzeugen, die vom Hier und Jetzt wegführen.

Dōgen macht deutlich, dass die Zazen-Praxis uns Klarheit gibt, wenn unser Geist sich in abstrakten Vorstellungen verloren hat, und uns in die Gegenwart des Hier und Jetzt als Einheit von Körper und Geist zurückholt. Dann wird auch die dualistische Trennung von Welt und Ich überwunden und wir finden zur umfassenden Einheit zurück.

So könne man die große buddhistische Wahrheit empfangen, sie schauen und im Handeln benutzen. Nach Dōgens Erfahrung ist Zazen als Übung des Gleichgewichts – so hat es Nishijima Roshi formuliert – von unschätzbarem Wert und darf auf keinen Fall auf dem Dharma-Weg ausgelassen werden, indem man sich zum Beispiel nur auf die übrigen Bereiche des Achtfachen Pfades zur Überwindung des Leidens konzentriert.

Dabei darf man sich auch nicht mit der Bezeichnung „Zen-Schule“ aufhalten, denn sie wurde der Gruppe um den indischen Meister Bodhidharma erst später in China gegeben, als er dort die Zazen-Praxis übte und die damaligen chinesischen Mönche und Laien noch wenig Verständnis dafür hatten. Zazen ist keine bestimmtem Schule und nichts anderes als genau der Samādhi nach der authentischen Lehre Gautama Buddhas, die Bezeichnung ist daher von untergeordneter Bedeutung. Bereits in den Reden Gautama Buddhas heißt es häufig, dass man sich mit gekreuzten Beinen an einem ruhigen Ort im Samādhi niedersetzen solle.

Zazen kann jeder praktizieren, unabhängig davon, ob er gemäß der buddhistischen Lehre und nach den buddhistischen Geboten ein vollständig reines Leben führt oder nicht. Diese Praxis ist also keinesfalls nur den Mönchen und Nonnen mit „reinem Lebenswandel“ vorbehalten, sondern steht jedem offen und sollte auch von jedem geübt werden. Dabei ist es laut Dōgen völlig unsinnig, den Wert des Menschen nach Mann und Frau zu unterscheiden. Auch viel beschäftigte Laien sind gut beraten, Zazen zu praktizieren, selbst wenn der Tagesablauf durch die Arbeit weitgehend ausgefüllt ist und scheinbar keine zeitliche Lücke besteht, um zu praktizieren. Wer das Streben und die Entschlossenheit zur Wahrheit mit der Übungspraxis des Zazen verbindet, werde trotz seiner weltlichen Aufgaben und Pflichten zweifellos zur Klarheit gelangen.

Die scheinbare Erkenntnis, dass unser Geist ohne Anstrengung schon immer Buddha sei, muss ebenfalls als bloße Vorstellung, Illusion und falsche Theorie durchschaut werden, kann niemals die große Kraft der Übungspraxis in der Gegenwart erreichen und grenzt wahrhaftig an Populismus. Das Wissen allein kann ohne die Einheit von Körper-und-Geist und das Handeln im Augenblick nicht die nötige Kraft und Ausdauer entwickeln, die erforderlich sind, um zur Wahrheit zu gelangen.

Dieser Unterschied zwischen Wissen und Reden einerseits und der ganzheitlichen Erfahrung im Handeln in der Einheit von Geist, Psyche, Körper, Universum und Selbst andererseits wird im Zen-Buddhismus immer wieder hervorgehoben und ist zweifellos ein ganz wesentlicher Beitrag für unsere westliche Kultur, in der die einseitige Theorie meist überschätzt wird und der Idealismus nur allzu leicht in gefährliche Ideologien umschlägt. Dann sind Lehre und Praxis meilenweit von einander entfernt und der Geist ist total unklar! Dies führte leider immer wieder zu großen Katastrophen und furchtbaren Kriegen mit all ihren Brutalitäten und Unmenschlichkeiten, die wir gerade in Deutschland erleben mussten.

Freitag, 16. September 2011

Die erste Erleuchtung des Zazen

Der große lebende Meister Nishijima Roshi bezeichnet den Zustand des Zazen als die erste Erleuchtung und genau die Erfahrung, in diesem Augenblick ein Buddha zu sein!

Die erste Erleuchtung ist aber kein willentliches und absichtsvolles Tun und nicht das Erreichen eines ersehnten Zieles, denn dadurch würde das wahre Handeln des Zazen im natürlichen Zustand gerade unmöglich und verhindert werden. Zazen soll nicht verknüpft sein mit der Erwartung, etwas Grandioses zu erhalten, beziehungsweise den eigenen Aufwand mit besserer Münze zurückzubekommen.

Von wesentlicher Bedeutung ist allerdings der feste und klare Wille zur Wahrheit und das tiefe Vertrauen, dass die Wirklichkeit und Wahrheit des Lebens und der Welt das Leiden überwinden und auflösen. Vertrauen ist nicht unkritischer Glaube, denn die unmittelbare Wirkung des Zazen kann und soll jeder genau bei sich selbst analysieren. Wenn der Wille zur Wahrheit einen Menschen auf den Buddha-Weg geführt hat und der Betreffende Zazen praktiziert, ereignet sich die direkt erste Erleuchtung.

Dann verschwinden die Gedanken des gewöhnlichen Verstandes und die von Gier gesteuerten Emotionen und Ängste. Dann verflüchtigen sich Zwangsvorstellungen und Zwangsbilder.
Dōgen grenzt Zazen als Streben nach der Wahrheit von falschen oder unklaren Lehrmeinungen ab. Er widerlegt vielfältige Argumente seiner Zeit gegen die Zazen-Praxis. Dabei vertieft er die wahre Bedeutung und Kraft des Zazen.

Er nennt die Zazen-Praxis das wahre Tor zum Buddha-Dharma und macht auf die Frage, ob dies das einzige richtige Tor sei, ganz deutlich, dass alle Buddhas und Vorfahren im Dharma des westlichen Himmels (Indien) und des östlichen Landes (China) den großen Weg tatsächlich durch Zazen vollendet haben.
Dies sei keineswegs müßiges Sitzen in Untätigkeit. Das Lesen der Sūtras und Rezitieren von Buddhas Namen komme dem Zazen keineswegs gleich, denn dies sei der Samādhi der Buddhas, „in dem sich das Selbst empfängt und sich erfährt“. Er beschreibt es als Erfahrung und intuitive Erkenntnis jenseits des gewöhnlichen Denkens des Alltags. In seiner Klarheit und Einfachheit könne man Zazen fast als schmucklos bezeichnen.

Romantische Verzierungen und Träumereien sind ihm fremd. Einseitige Verstandestätigkeit, Einbildungen, Vorstellungen und Erinnerungen sind etwas anderes als diese Übungspraxis, die niemals nach Ruhm, Gewinn und Ich-Überhöhung strebt, sondern sich im Handeln selbst erfüllt und genau dadurch vollendet wird. Zazen als Kern des Zen-Buddhismus übersteigt Mythos und Ideologie und hat mit Populismus nichts gemein. Diese Praxis ist keine einseitige körperliche und auch keine asketische Übung, denn dadurch würde die Einheit von Körper-und-Geist gerade zerstört werden und wir wären im körperlichen Materialismus gefangen. Zazen gleicht also dem Yoga, das von Anfang an die Einheit von Körper-und-Geist voraussetzt.

Sonntag, 4. September 2011

Das Selbst empfängt und erfährt sich beim Zazen

Der Zen-Buddhismus lehrt uns in Theorie und Praxis, wie wir zur Wirklichkeit und Wahrheit gelangen und damit ein freies, friedliches Leben voller Freude und Tatkraft führen können. Das ist die Erleuchtung oder mit einem anderen Wort das Erwachen. Dabei ist die Zazen-Praxis oder, wie es im Indischen heißt, der Samādhi ein zentrales Moment und der Kern der Übungspraxis. Beim Zazen werden Gedanken, Bilder und Emotionen zum Verschwinden gebracht, sodass der gewöhnliche Alltagsgeist überschritten wird und wir den wahren umfassenden Körper-und-Geist von quälenden und einengenden Vorstellungen, Emotionen von Hektik und Stress befreien. Dadurch kann sich unser natürliches Potential voll entfalten.

Dōgen selbst hat auf der Suche nach dem wahren Buddhismus, den er in Japan seinerzeit nicht finden konnte, in China schließlich seinen Meister Tendō Nyojō getroffen. Bei ihm lernte er, dass die vielfältigen theoretischen Probleme und Fragestellungen der buddhistischen Philosophie letztlich auf dem Weg zur Erleuchtung nicht weiterführen, sondern dass das Zazen als Übungspraxis hinzukommen muss, damit man die buddhistische Lehre überhaupt „versteht“. Dies ist aber keine Verachtung der Vernunft!
Dōgen verwendet gern für Zazen und den Zugang zum Buddha-Dharma die Formulierung:

Das Selbst empfängt sich und erfährt sich.“

Das wahre „Selbst“, das sich durch diese Übungspraxis intuitiv und ganzheitlich eröffnet, hat den Bereich der dualistischen Unterscheidung von Ich und Du, von Ich und Welt, von Subjekt und Objekt und all der vielen anderen Dualitäten und Bewertungen, welche die meisten Menschen in ihrem Leben vornehmen und auf die sie fixiert sind, verlassen und gelangt in das unmittelbare Handeln, Geschehen-Lassen und Schauen in der Gegenwart.

Allerdings negiert Dōgen keinesfalls die Bedeutung der theoretischen Lehre oder bestimmter Bilder und Vorstellungen im Buddhismus. Er betont jedoch immer wieder, dass die Theorie und die Ideen einseitig und unvollständig sind und nur einen Teil der Wirklichkeit und Wahrheit darstellen. Ohne das Handeln und die Praxis des Zazen finden wir keinen Zugang zum wahren Buddhismus. Nur in deren Zusammenwirken können wir ein Leben der Freude und der Überwindung des Leidens und des Dualismus führen.

Gerade die Freude ist eines der zentralen Themen Dōgens. Wir wissen aus der heutigen Psychologie, dass aus der Freude erhebliche Lebensenergien erwachsen, die es uns ermöglichen, auch schwierige Lebenskrisen zu meistern: Wer im Zazen sitzt, erfährt intuitiv und ganzheitlich, dass er den Körper und denkenden Geist, also auch das kleine, ängstliche oder aggressive Ich, fallen lässt und die festgefahrenen Ansichten, Gedanken und Gefühle jäh abschüttelt.