Dōgens Ausführungen über die „Sein-Zeit“ zählen zweifellos zu den wichtigsten Texten des Buddhismus, aber sie erschließen sich uns westlichen Menschen nicht leicht. Trotzdem wollen wir uns jetzt daran wagen.
Stark verkürzt ausgedrückt bedeutet die Sein-Zeit, dass unser wahres Leben und Handeln, also das existenzielle Sein, nicht von der Zeit und dem Augenblick getrennt werden kann, in dem alles stattfindet. Wenn wir das ganz klar selbst erfahren, befinden wir uns in der Wirklichkeit.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich spreche im Folgenden von der „linearen Zeit“ im Gegensatz zur „Sein-Zeit“, wenn die uns vertraute Vorstellung gemeint ist, dass die Zeit von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft wie eine Linie verläuft. Diese lineare Zeit hat jedoch in diesem Kapitel Dōgens nur eine nebengeordnete Bedeutung.
Das U im japanischen Titel bedeutet „Existenz“ und ji heißt „Zeit“. Also kann man Uji mit „Existenz-Zeit“ oder „Sein-Zeit“ übersetzen. Wichtig ist, dass es sich hier bei dem Begriff „Sein“ nicht um ein unverändertes „ewiges Sein“ handelt, wie es in der europäischen Philosophie häufiger beschrieben wird. Dōgens realistisches Verständnis der Zeit und des Seins geht von unserem Leben und Handeln im Augenblick aus und nicht von abstrakter Dauerhaftigkeit oder gar Ewigkeit. Das Sein der Wirklichkeit lässt sich nach Dōgen von der Zeit überhaupt nicht trennen. Warum?
Beides bildet in der Wirklichkeit eine Einheit – nur im theoretischen Denken kann man Sein und Zeit überhaupt voneinander trennen und unterscheiden. Durch eine solche Unterscheidung geht jedoch die entscheidende Qualität der Wirklichkeit und der Existenz gerade verloren, die im Buddhismus und besonders in diesem Kapitel im Mittelpunkt steht. Wir landen dann im Elfenbeintürmchen der Philosophie. Im gegenwärtigen Augenblick stoßen die Vergangenheit, die immer Erinnerung in unserem Gehirn ist, und die Zukunft, die eine Erwartung darstellt, genau zusammen. Das und nur das ist die Wirklichkeit!
Nicht zu vergessen: Das Handeln ist bei Dōgen die Grundvoraussetzung für die Wirklichkeit. Handeln ist ohne Zeit unmöglich, sodass die Sein-Zeit in der buddhistischen Erfahrung und Lehre identisch mit dem Augenblick des Handelns ist. An diesem Punkt schlagen Nishijima Roshi und M. Cross die Brücke zur westlichen Philosophie:
„So erinnert die Sichtweise der Zeit im Buddhismus an den Existenzialismus in der modernen Philosophie. Es ist sehr wichtig, die buddhistische Sichtweise der Zeit zu verstehen, um die wahre Bedeutung des Buddhismus zu erfassen“.
In der Tat ist auch im Existenzialismus die Frage nach der wirklichen Zeit von zentraler Bedeutung. Martin Heidegger hat sein großes Werk Sein und Zeit genannt. In der Philosophie der Gegenwart hat sich Rolf Elberfeld in seinem Buch "Phänomenologie der Zeit im Buddhismus, Methoden interkulturellen Philosophierens" intensiv mit diesem Thema beschäftigt und auf den Buddhismus zurückgegriffen. Auch in der westlichen Welt und im westlichen Denken rückt also die Wirklichkeit der wahren Zeit immer mehr ins Blickfeld.
Die Psychologie beschäftigt sich ebenfalls mit dem Thema Wirklichkeit und Zeit. Sigmund Freud, Verena Kast und andere namhafte Psychologen haben herausgearbeitet, dass man sich der Wirklichkeit unbedingt stellen muss, um psychisch gesund zu sein oder zu werden. Und: Erleuchtung ist das Verschrotten des eigenen Käfigs, den wir uns aus Vorurteilen, Gier, Hass und Verblendung selbst gebaut haben.
Diese Erkenntnis bildet die Grundlage wirkungsvoller Therapien – vor allem bei tiefenpsychologisch orientierten Ansätzen –, bei denen der Therapeut gemeinsam mit dem Patienten Verdrängungen aufdeckt, bewusst macht und neu bewältigt. Auf diese Weise kommt der psychische Heilungsprozess in Gang, durch den man der Wirklichkeit ins Auge sehen kann und zurück in ein gesundes Leben findet.
Nakagawa Roshi schreibt zum Thema Zeit:
„Wenn man Zeit tief begreift, findet man das wahre Leben. So möchte ich spontan auf die Frage antworten, ob man dem Druck der Zeit entfliehen kann. Doch dann kommt sofort die Frage: Was ist überhaupt die Zeit?“.
Dieser Frage möchte ich nun in diesem Blog nachgehen.