Donnerstag, 26. November 2015

Das Es jenseits des bewegten Windes


Dōgen schildert eine wichtige Kōan-Geschichte des ES, die allerdings häufig Anlass zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen gegeben habe. Er berichtet, dass Meister Daikan Enō (Hui Neng) hinzukam, als sich zwei Mönche ein heftiges Wortgefecht lieferten.

Die beiden stammten aus Indien, also aus dem Land, von dem der Buddhismus nach China gekommen war und das dort ein hohes Ansehen genoss. Man könnte demnach meinen, dass diese Mönche in der Lehre und Praxis des Buddhismus besonders klar und erfahren gewesen waren.

Der eine behauptete:
„Die Flagge bewegt sich!“

Der andere widersprach vehement:
„Der Wind bewegt sich!“

So ging die erhitzte Diskussion hin und her. Wer hatte recht? Daikan Enō war zu jener Zeit einfacher Laienarbeiter, also von tiefem Rang im Klostern, er besaß, aber ohne Zweifel bereits die große Klarheit im Buddha-Dharma. Er sagte:

„Jenseits des sich bewegenden Windes und der sich bewegenden Flagge ist das ES. Ihr selbst seid (nur) der sich bewegende Geist.“

Was bedeutet nun dieses berühmte Kōan? Ist es nicht richtig, dass Wind und Flagge sich bewegen? Haben vielleicht beide recht? Aber wozu dann der heftige Streit?

Häufig wird dieses Kōan viel zu eng verstanden, dass Daikan Enō nämlich die Mönche berichtigte, weil sie ein nur materielles Verständnis der Situation von Wind und Flagge hatten aber beide einen unruhigen, streitsüchtigen subjektiven Geist besaßen. Laut Dōgen trifft dies jedoch nicht zu. Er betont, dass Daikan Enō sagte,

„dass der Wind, die Fahne und das Bewegen alles der Geist (des umfassende ES) ist.“

Er unterschied also nicht vordergründig nach Ursache und Wirkung, nach Subjekt und Objekt, nach diskutierenden Mönchen und deren streitendem subjektiven Geist, sondern sprach von der umfassenden Wahrheit, die Dōgen hier als das Es bezeichnet. Die große Einheit von Menschen, Wind, Fahne, Flaggenmast usw. übersteigt eine spitzfindige Diskussion auf der physikalisch-materiellen aber auch auf der subjektiven Ebene, ob sich der Wind oder die Fahne bewegt.

Streitende Menschen verlieren sich im Streit der Egos. Das ES ist die Einheit der großen wunderbaren Wirklichkeit; das Es ist beruhigt wie Buddha im sutta des Mittleren Weges sagt.

Dōgen zitiert weiterhin den berühmten Dialog zwischen dem großen Meister Sekito Kisen und Yakusan Igen. Letzterer kannte sich mit der Lehre und Praxis des Buddhismus sehr gut aus und fragte Sekito Kisen, was es bedeute, dass das direkte Zeigen auf den menschlichen Geist die Verwirklichung der Natur und des Buddha-Werdens ist. Dies habe er noch nicht klären können. Der große Meister Sekito antwortete scheinbar paradox:

"Wie jenes ES zu sein, ist unmöglich. Aber wie jenes ES nicht zu sein, ist (ebenfalls) unmöglich."

Auch beides zusammen sei nicht möglich. Dieses Kōan ist nicht leicht zu verstehen, was bedeutet es?

Dōgen erläutert, dass mit der begrenzten Möglichkeit von Worten und der Logik das ES, das uns je als Wahrheit begegnet, unmöglich ausgedrückt werden kann. Das ist mit der Formulierung gemeint, direkt auf den Geist und das Herz des Menschen zu zeigen. Die Wirklichkeit dieses Geistes ist eine andere Ebene und eine andere Lebensdimension als Denken und Reden. Solche Grenzen des Denkens und Redens sollten wir in aller Klarheit anerkennen, um der Wirklichkeit des ES und des Geistes zu begegnen, sie zu erfahren und mit ihr eins zu werden.

„Das ES (vollständig) zu verstehen, ist unmöglich. Das ES (vollständig) zu erkennen, ist unmöglich“,

hält Dōgen abschließend fest. Und Geist und ES sind klare Wirklichkeit. Aber ohne das Reden diesseits des ES geht es oft nicht, gerade durch diese Grenze können wir eine Ahnung vom ES bekommen.


Montag, 16. November 2015

Ist es der Klang des Windes?




Dōgen erzählt eine im Buddhismus berühmte Geschichte von dem indischen Meister Samghanandi und seinem Dharma-Nachfolger Geyāshata. Der Meister hörte die Glocken in einer Halle des Klosters läuten, weil der Wind hindurchwehte. Er fragte seinen Schüler:

„Ist es der Klang des Windes? Ist es der Klang der Glocken?“
Geyāshata antwortete:
„ES ist jenseits des Läutens des Windes und jenseits des Läutens der Glocken. ES ist das Läuten meines Geistes.“

Der große Meister Samghanandi fragte:
„Was ist dann der Geist?“
Und der Schüler erwiderte:
„Der Grund (dass ES läutet) liegt darin, dass alles ruhig ist.“

Der Meister war sehr zufrieden über die klaren Aussagen seines Schülers, der später auch sein rechtmäßiger Nachfolger wurde.

Dōgen untersucht nun diese Geschichte und legt dabei den Schwerpunkt auf die Frage: Warum ist es mein Geist, der läutet? Seine Antwort lautet:

"Mein läutender Geist ist das ES“,

das uns jäh begegnet und unfassbar ist. Es ist dabei die Frage, um wessen Geist es sich eigentlich handelt. Ist es der subjektive Geist des Schülers? Wie kann man den Widerspruch erklären, dass das Läuten gerade nicht geräuschlos ist, es aber heißt, das Läuten des Geistes des Schülers sei ganz ruhig.

Mit diesem Geist sei das unfassbare ES gemeint, erläutert Dōgen, also die Wahrheit oder die Wirklichkeit. In dem Augenblick, in dem die Glocken durch die Einwirkung des Windes läuten, öffnet sich unvermittelt der Geist zur großen Wahrheit, die ruhig ist wie der Geist selbst, der nicht mehr individuell zu verstehen ist. Dann kann man zwischen dem Wind, den Glocken und dem Geist nicht mehr unterscheiden, denn die gesamte unmittelbar erlebte Situation überschreitet die Trennung von Subjekt und Objekt, übersteigt also die Dualität.

Es geht dabei nicht um philosophische Fragen der Existenz oder der Nicht-Existenz des Geistes, sondern beim Läuten der Glocken ereignet sich die Verwirklichung dieser beiden großen Meister jäh im Augenblick. Die Ruhe kann dabei nicht physikalisch verstanden werde, denn das Läuten ist ja deutlich zu hören. Wenn sich der wahre Geist nicht ereignet hätte, bliebe es bei einer „objektiven“ Beschreibung des physikalischen Zustandes mithilfe der Schallwellen oder beim subjektiven Empfinden der beiden Zuhörenden. Dies wäre nach Dōgen aber nur ein oberflächliches Erlernen der Wahrheit und nicht die Klarheit des Buddhismus.

Der höchste Zustand der Bodhi-Wahrheit und der Schatz des wahren Dharma-Auges werden als Ruhe und Stille bezeichnet. Sie sind die Ausgeglichenheit und Balance bei der Zazen-Praxis, in welcher der gewöhnliche denkende Geist und der gewöhnliche empfindende Körper abfallen. Der läutende Geist ist also der Zustand im Zazen, er ist vom denkenden Verstand nicht vollständig erfassbar und mit Worten nur begrenzt sagbar.

Ein solcher Zustand ist ganz selbstverständlich und natürlich.


Mittwoch, 4. November 2015

Das Es ist der klare Zen-Geist


Den Augenblick, wenn sich zwei Menschen jäh und wirklich begegnen, vergleicht Dōgen damit, dass der Frühling die Frühlingszeit des Augenblicks trifft und dass sich eine solche Weisheit ohne großartige Planung und ohne egoistische Absicht unmittelbar ereignet. Denken und Bewusstsein spielen dabei eine untergeordnete Rolle, und es ist unwichtig, ob ein solcher Vorgang im Augenblick bewusst ist oder nicht.

„Das ES ereignet sich, weil der Körper-und-Geist (der Menschen), die solche Weisheit haben, schon nicht ihr eigener ist. Dies ist der Zustand, von dem es heißt, der Mensch könne  vertrauen und sofort verstehen.“

Bei unseren oft nutzlosen und planlosen Anstrengungen des Lebens wissen wir nicht, dass wir diese Perle der Weisheit und des klaren Zen-Geistes, der den Körper einschließt, besitzen. Dōgen spricht davon, dass dieser Körper-und-Geist einem Juwel gleicht, der von einem ganz gewöhnlichen Stein umschlossen ist.
Und weder der äußere Stein noch der innere Juwel wissen voneinander, denn der Juwel ist noch nicht zur klaren Wirklichkeit geworden. Eine solche Verwirklichung bedarf jedoch nicht des angehäuften Wissens und nicht der intellektuellen Schärfe des Verstandes.

Es gibt die Worte: "Jene (Menschen), die ohne Weisheit sind und (immer) zweifeln, verlieren (die Weisheit des Geistes) für immer.“

Nishijima und Cross erklären an dieser Stelle unmissverständlich:

„Verwirklichung im Zazen ist zum Beispiel die innewohnende Funktion des Menschen, die den erlernten mentalen Fähigkeiten wie Erwartung, Wissen und Denken überlegen ist.“[i]

Solche Augenblicke des Zen-Geistes sind von unmittelbarer Kraft und Klarheit. Dōgen vergleicht sie mit der Existenz der Pinien im Frühling und den Chrysanthemen im Herbst. Diese Augenblicke sind keine Idealisierungen, Fantasiegebilde oder spektakuläre Visualisierungen. Sie sind von direkter Energie und Kraft wie der Schuss, der sich vom Bogen wie von selbst löst und nicht den geringsten Raum für Zweifel oder intellektuelle Spitzfindigkeiten lässt.

„Weil (Daikan Enō) ein Mensch des Es ist, ist er erleuchtet.“

Dōgen schildert die berühmte Begegnung von Daikan Enō (Hui Neng) mit dessen eigenen Meister, die deshalb etwas ganz Besonderes ist, weil Daikan Enō nicht als angesehener Mönch im Kloster lernte und praktizierte. Dazu fehlten ihm die formalen Voraussetzungen, deshalb lebte er nur als einfacher Arbeiter im hinteren Teil des Klosters und hatte die Aufgabe, Reis für die Anderen zu stampfen und zu sieben.

Eines Tages kam sein Meister Daiman um Mitternacht heimlich, ohne dass es die anderen Mitglieder des Klosters bemerkten, in den Raum, wo Daikan Enō arbeitete, und fragte ihn, ob der Reis schon weiß sei oder nicht. Daikan Enō antwortete:

 „Er ist weiß, aber noch nicht gesiebt.“

Das war der große Augenblick des gemeinsamen ES! Erstaunlicherweise ergriff sein Meister Daiman daraufhin selbst den Reisstößel und stampfte einmal in den Mörser; Daikan Enō siebte dann den Reis mit dem geflochtenen Korb: Nicht zwei sondern einer.

Laut der Überlieferung war dies der Augenblick, als der Zustand der Wahrheit des Zen-Geistes zwischen dem Meister und dem Schüler zur Einheit kam. Es war ihnen selbst wohl nicht bewusst, und es übersteigt das Verstehen anderer. Aber die Übertragung des Dharma und die Übertragung der buddhistischen Robe fanden genau in diesem Augenblick der Wirklichkeit statt. Und damit nahm das "goldenen Zeitalter" des Zen-Buddhismus seinen Lauf.






[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 124, Fußnote 29