Mittwoch, 25. Dezember 2013

Wegmarken der Menschheit



Gautama Buddha und Jesus sind für mich Giganten und stehen für fundamentale Wegmarken der Menschen, Wegmarken des wahren Humanismus in der Evolution der Menschheit. Sie sind die Großen, nicht Alexander oder Friedrich.

Gewiss: ihre Botschaften werden und wurden immer wieder verdreht, verwässert und sogar in ihr Gegenteil verkehrt, aber diese Botschaften bleiben trotzdem große Realitäten der Menschheit, in welcher Form auch immer, trotz Diktatoren und Ausbeutung.

Noch die antiken Griechen kannten die liebevolle Zuwendung, tätige Nächstenliebe und Toleranz nicht, trotz des schon entwickelten Humanismus: Es gab den anerkannten Rat, Sklaven wie nützliche Haustiere zu behandeln. Dass zudem auch Frauen Menschen waren, genau wie die freien Griechen-Männer, war unbekannt und galt als abwegig.


Damit haben Gautama Buddha und Jesus gründlich aufgeräumt: Ihre Lehren sind für die Menschen heute frisch und kraftvoll wie damals, sie unterschieden nicht nach Kasten, Sklaven und Freien; diese Freien, die angeblich allein am wahren Geist teilhaben und erwachen könnten.

So wurden neue Energien in die Evolution der Menschheits-Geschichte eingebracht; die Liebe zu den Menschen, zu sich selbst und der Humanismus für alle können nicht mehr negiert und wegdiskutiert werden.

Es ist wie es ist!

Zu den Festtagen wünsche ich Euch und Ihnen das Beste. Und: Meditation und Achtsamkeit geben innere Ruhe und Kraft: auch und gerade für das Neue Jahr.

Mit lieben Grüßen
Yudo J. Seggelke

Sonntag, 15. Dezember 2013

Die leuchtende Perle: Heraus aus der schwarzen Höhle des Dämons



Die Aussage, dass Universum, Körper und Geist einer leuchtenden Perle gleichen, ist zunächst eine buddhistische Lehre, zwar mit sehr viel Aussagekraft und Realitätsnähe, aber sie eine Lehre und Theorie und muss durch die Praxis des Lebens verwirklicht werden. Sie muss lebendig und kraftvoll werden.

So hat Meister Gensa zum Beispiel einen Mönch, dem er diesen Satz gelehrt hatte, am folgenden Tag gefragt, wie er die Äußerung verstehe. Dabei stellte Gensa fest, dass der Schüler sich noch in abstrakten intellektuellen Überlegungen erging: er bezeichnete das Denken in dessen isoliertem Geist als

gewaltige Anstrengung, um in die Höhle eines Dämons in einem schwarzen Berg zu gelangen.“

Ich verstehe das so, dass der abstrakte denkende Geist auch bei höchster Anstrengung nur in die „finstere Höhle eines Dämons“ gelangen kann, ohne sich dessen eventuell bewusst zu sein. Gerade komplexes Denken ist häufig nicht nur eine Sackgasse, sondern führt sogar in eine dunkle Höhle der Psyche, in die kein Licht eindringen kann. Das Ego gerät dann durch intellektuelle Energien in die Isolation der dunklen Höhle, es verliert den Fluss und die Bindungskraft des Lebens mit seiner Umwelt und den anderen Menschen: das ist gerade kein geistiges Heldentum.

Dies bedeutet aber keinesfalls, dass Dōgen die Lehre und das ehrliche und gründliche Denken mit dem Verstand ablehnt oder die Vernunft verwirft: Sein großes Werk Shōbōgenzō, „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“, ist der Beweis für das genaue Gegenteil. Und niemand wird behaupten, dass dieses fulminante Werk, das sich jetzt für uns öffnen kann, geistig leichte Kost ist. Aber Körper und Geist, Theorie und Praxis, Lehre und Wirklichkeit dürfen nicht voneinander getrennt werden: Es ist die Einheit, die uns zum befreiten Leben und Handeln führt.

Von großer Bedeutung ist laut Dōgen auch „die Tugend der leuchtenden Perle“, denn die buddhistische Wirklichkeit ist niemals von der Ethik des Handelns abgetrennt. Das Leitbild des Bodhisattva, das in der Mahāyāna-Zeit umfassend entwickelt wurde, beinhaltet gerade Handeln und Hilfe für andere Menschen und nicht den spirituellen Egoismus, der nur an der eigenen Erleuchtung interessiert ist.

Liebevolle Zuwendung, Mitgefühl, Mitfreude und gelebter Gleichmut sind die wesentlichen Merkmale auch des frühen Buddhismus. In den „himmlischen Verweilungen“ hat sie Gautama Buddha selbst pädagogisch geschickt und überzeugend beschrieben.

Das ist daher kein engstirniger Intellektualismus, kein egoistischer Materialismus, aber auch keine spirituelle Ideologie, die sich aus der Wirklichkeit verabschiedet hat und in abgelegenen Klöstern ein Leben führt, das dann nur als künstlich und unnatürlich bezeichnet werden kann. Der wahre Buddhist geht auf den Marktplatz, auch wenn es dort äußerlich schmutzig zugeht. Gerade die leuchtende Perle ist ein untrüglicher Hinweis darauf, dass ein abgelöster, abstrakter Geist und intellektuelles Denken nicht ausreichen, um die Wirklichkeit und Schönheit dieser Welt zu erfahren und die Einheit mit ihr zu erleben.


Sonntag, 8. Dezember 2013

Der Fisch mit den goldenen Schuppen und die leuchtende Perle


In der Legende heißt es über den großen Zen-Meister Gensa, dass er als Fischer nicht auf den Fisch mit den goldenen Schuppen gewartet habe. Diese Aussage interpretiere ich so, dass Gensa nicht einfach darauf gehofft hat, dass ihm irgendwann einmal ohne große eigene Anstrengung ein wertvoller Fisch mit goldenen Schuppen ins Netz geht, der ihm materiellen Reichtum bringen würde. Denn es ist häufig ein großer Irrtum, dass plötzlicher Reichtum ein glückliches und erfülltes Leben bedeutet. Die goldenen Schuppen könnte man im Gegensatz dazu aber auch spirituell interpretieren: Durch die Meditation auf dem Buddha-Weg erhalten wir Schutz und Glanz zugleich, wie goldene Schuppen, aber nicht materiell. Vielleicht hat Meister Gensa einen solchen Fisch gesucht?

Dōgen schildert, dass Gensa auf seiner Wanderschaft schließlich zum Tempel des großen Meisters Seppō kam, wo er intensiv und ausdauernd praktizierte und die buddhistische Lehre studierte. Eines Tages wollte Gensa weitersuchen und hatte sich jedoch kaum vom Kloster entfernt, als er auf dem schmalen Pfad mit seinen offenen Sandalen an einen Stein stieß und seinen Zeh verletzte, sodass dieser stark blutete und stark schmerzte. In diesem Augenblick hatte er ein Erlebnis tiefer Erkenntnis und sagte zu sich:

„(Es wird gelehrt,) dass dieser Körper keine wirkliche Existenz ist. Woher kommt der Schmerz?“

Im damaligen China war die Auffassung verbreitet, dass allein der Geist Wirklichkeit habe und der Körper überhaupt nicht wirklich existiere. Der Körper wäre dann nur ein Spiegelbild im Gehirn – wie eine Fata Morgana in der Wüste, die suggeriert, dass es am Horizont ein reales Gewässer gibt, das sich jedoch verflüchtigt, wenn man näher herankommt. Durch seinen Schmerz war Gensa jäh im Augenblick klar geworden, dass Körper und Geist immer eine Einheit sind. Die Lehre eines vom Körper losgelösten Geistes ist selbst eine Fata Morgana, die im realen Leben keinen Bestand hat und keine Hilfe bei den vielfältigen Lebensproblemen bietet.
Er kehrte dann zum Kloster zurück, berichtete Seppō von seiner Erkenntnis und schloss mit den Worten:

„Schließlich kann ich überhaupt nicht von anderen getäuscht werden.“

Damit drückte er aus, dass jede Lehre, und wenn sie noch so ehrlich und wohl durchdacht übermittelt wird, das eigene Erleben und die eigene Erfahrung nicht ersetzen kann. Wie viel weniger nützt es uns, dass wir von anderen getäuscht werden oder uns selbst täuschen?

Seppō schätzte Gensa wegen seiner klaren, kompromisslosen Erkenntnis und seiner Fähigkeit, sich präzise auszudrücken; er hielt ihn für einen ganz hervorragenden Schüler. Gensa wurde später der Nachfolger von Seppō, und es sind viele tiefgründige Kōan-Dialoge dieser beiden großen Zen-Meister bekannt, die im Lauf der Zeit immer wieder interpretiert und zu einem wesentlichen Bestandteil des Zen wurden.

Nachdem Gensa die Wahrheit des Buddhismus erlangt hatte, lehrte er die Menschen mit den Worten:
„Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist eine leuchtende Perle.“

Wenn sich seine Schüler in intellektuellen Konstrukten verloren hatten und sich in eine „rein geistige“ Welt der erträumten Erleuchtung verirrten, holte er sie mit seinen Worten über die leuchtende Perle in die Wirklichkeit des Hier und Jetzt zurück. Die Perle ist nicht nur rund und damit wie der Vollmond oder der Kreis das Symbol der wahren Erleuchtung und Realität im Buddhismus, sondern sie ist auch als Kugel dreidimensional gerundet und kann hin- und herrollen.

Im Sinne des überwundenen Dualismus kann man sagen, dass die Kugel im Universum rollt oder dass das Universum um die Kugel rollt. Außerdem reflektiert eine Perle die gesamte Umgebung wie ein leuchtender Spiegel – auch dies ist ein tiefes Gleichnis der buddhistischen Klarheit und Wirklichkeit. Das Symbol der Perle übersteigt materielle Dimensionen wie weit oder groß, mager oder klein, quadratisch oder rund, ein zentrierter Punkt oder eine gestreckte Linie.

Die künstlichen Unterscheidungen des Verstandes und die dabei auftretenden Emotionen werden im Zen auf die Wirklichkeit zurückgeführt, die so konkret wie eine leuchtende Perle ist. Diese Identität mit der Wirklichkeit ist so, wie wenn wir „die Dinge entwickeln und (uns selbst) in den Augenblick werfen“, wie Dōgen es im Kapitel über die Sein-Zeit formuliert. Der Augenblick der Gegenwart ist von größter Bedeutung, um zur Wirklichkeit und Wahrheit zu gelangen. Ein separierter Geist, der noch so wunderbar und poetisch beschrieben wird, ist niemals in der Lage, zur Wirklichkeit durchzustoßen. Lehre und Denken sind zwar wichtige Hilfsmittel auf dem Buddha-Weg, aber ohne die Praxis und das Leben und Handeln im Augenblick bleiben sie eine Fata Morgana, die sich auflöst, wenn man sich ihnen ehrlich nähert. Es gibt in der Wirklichkeit keinen Geist ohne den Körper.


Das ist die Essenz der leuchtenden Perle. Und gibt es etwas Schöneres als eine leuchtende Perle?

Sonntag, 1. Dezember 2013

Geist, Körper und Universum sind eine leuchtende Perle


Nachdem Dōgen im Jahre 1233 den Buddhismus und das buddhistische Leben sehr präzise dargestellt hatte, vergingen einige Jahre, bis er 1238 den Text „Das ganze Universum ist eine leuchtende Perle“ verfasste, das vierte Kapitel im Shōbōgenzō. Das japanische Wort ikka bedeutet „eins“, myō heißt „leuchtend“, „klar“, „strahlend“, und ju ist im Deutschen die „Perle“. 

Dieses Kapitel behandelt die berühmten Worte des großen Meisters Gensa, der immer wieder lehrte, dass das ganze Universum in allen Richtungen wie eine leuchtende, strahlende Perle ist. Nishijima Roshi erklärt, dass Dōgen diese Aussage sehr schätzte. Das ist eine ganz andere Erfahrung des Lebens und der Welt, als der heutige oft negative oder sogar nihilistische Zeitgeist!

Im Buddhismus wird großen Wert darauf gelegt, dass man Theorie und Lehre sowie Vorstellungen und Ideen nicht mit der Wirklichkeit und Wahrheit selbst verwechselt. Um das zu verdeutlichen, wird häufig das folgende Gleichnis verwendet: Wenn der Finger auf den Mond zeigt, darf man niemals den Finger mit dem Mond verwechseln. Dieser ist zum Beispiel in seiner Rundheit das Symbol für ein erfülltes Leben, das wir heute als den Zustand der Erleuchtung bezeichnen.

Die Lehre und Theorie, sei es schriftlich oder mündlich im Vortrag, verweisen auf diese buddhistische Wahrheit der Erleuchtung wie der Finger auf den Mond. Aber die Wirklichkeit des Mondes ist unabhängig von dem Finger und existiert auch, wenn der Finger nicht auf ihn zeigt. So können die buddhistische Lehre, buddhistische Bilder oder Figuren von Gautama Buddha auf die Wirklichkeit und Wahrheit hinweisen, aber sie können die Realität nicht ersetzen. Diese können wir nur selbst erfahren.
In der westlichen Philosophie und auch Theologie fehlt aus meiner Sicht häufig diese wichtige Unterscheidung, weil zwischen Ideen, Fantasien, Hoffnungen, Glauben und Ängsten einerseits und der Wirklichkeit selbst andererseits zu wenig oder überhaupt nicht getrennt wird. Das führt zwangsläufig zu Unsicherheiten im Leben und macht die Menschen für falsche Ideen und gefährliche Ideologien anfällig.

Gensa war einer der profiliertesten Zen-Meister und hat auf diesen Unterschied zwischen Theorie und Wirklichkeit sehr deutlich hingewiesen. Dass er die Welt und die Menschen mit einer leuchtenden Perle gleichsetzt, zeigt seine positive Weltsicht und seine Freude an der Schönheit der Natur. Ich kann mir kaum ein aussagekräftigeres und schöneres Symbol für die Welt, unseren Körper und Geist vorstellen als eine leuchtende Perle.

Gensa betont, dass der Geist nicht isoliert vom Körper und der Wirklichkeit existiert, sondern immer eine Einheit mit ihnen bildet. Eine leuchtende Perle wäre auch in der Tat ungeeignet als Symbol für einen abstrakten, weltabgewandten Geist oder Weltgeist. Hegel, der Philosoph des deutschen Idealismus, kam sicher nicht auf die Idee, den von ihm gelehrten Weltgeist als Perle zu bezeichnen. Auch bei ihm vermisse ich die klare Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Worten und Gedanken.

Es ist historisch überliefert, dass Meister Gensa zunächst dem bürgerlichen Beruf eines Fischers nachging und in seinem Boot auf dem Nantai-Fluss fischte. Wir können davon ausgehen, dass er sich dabei hin und wieder auf dem großen Strom einfach treiben ließ und sich an der großartigen Natur erfreute. Im Alter von 30 Jahren fasste er den Entschluss, sein Leben radikal zu verändern. Er verließ die anderen Fischer und den Fluss und ging in die Berge, um einen buddhistischen Meister zu suchen. Davor hatte er kein Sūtra gelesen und keine Lehrrede eines Buddhisten gehört.

Ich vermute, dass ihm in der Mitte seines Lebens, denn damals war die Lebenserwartung sehr viel geringer als heute, plötzlich bewusst wurde, dass sein bisheriges Leben mit all seinen Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und Bedrohungen wenig sinnvoll war. Er hatte bis dahin die Klarheit der Wirklichkeit und Wahrheit nicht erfahren. Ich kann mir vorstellen, dass er auch Fische nicht mehr mit seinem Netz einfangen und töten wollte.

Sonntag, 17. November 2013

Die Klarheit verwirklicht sich im konkreten Handeln


Dōgen zitiert dann Meister Unmon, den Nachfolger von Meister Seppō:

„Jeder Mensch besitzt vollständig die strahlende Klarheit. Wenn er sie (aber begierig) sucht, ist sie unsichtbar in der tiefsten Dunkelheit. Was ist diese strahlende Klarheit, die in allen Menschen existiert?“

Da die vor Unmon versammelten Mönche nichts antworteten und wohl auch nicht antworten konnten, sagte er selbst:

„Die Mönchshalle, die Buddha-Halle, die Küche und die drei Tore.“
Das klingt eigentlich fast zu simpel, aber Dōgen lobt diese Aussage des Meisters sehr: sie sei identisch mit dem wahren Buddha-Dharma; sie sei keine Spekulation, sondern die Wirklichkeit selbst.

Dōgen betont, wie wichtig der gegenwärtige Augenblick für die Wirklichkeit der intuitiven umfassender Klarheit ist, und sagt, dass sie weder in der Zukunft erscheinen wird, noch in der Vergangenheit geleuchtet hat. Damit will er ausdrücken, dass Vergangenheit und Zukunft nur schemenhafte Objekte im denkenden Geist sind und nicht in der Wirklichkeit des Augenblicks von Körper-und-Geist. Außerdem erklärt er, dass die leuchtende Klarheit natürlich und das wahre Wesen des Menschen ist. Sie sei nicht angelernt oder künstlich erzeugt, sondern genau der natürliche Zustand, von dem nichts weggenommen und dem nichts hinzugefügt worden ist.

„Jeder Augenblick der Klarheit besitzt auf natürliche Weise den Augenblick der Klarheit, jeder Augenblick der Existenz besitzt jeden Augenblick der Existenz.“

Eine solche Formulierung des Rückbezuges auf sich selbst, die in der Systemtheorie auch Selbstreferenz genannt wird, ist durchaus typisch für Dōgen und offenbart nicht zuletzt seine poetische Kraft und Ausdrucksweise.

Die strahlende Klarheit weist allerdings bei jedem Menschen individuelle Ausprägungen auf. Das heißt, es gibt keine abstrakte Klarheit, die bei allen Menschen gleich ist, sondern es geht immer um das ganz konkrete Handeln der einzelnen Menschen im Hier und Jetzt:

„Die strahlende Klarheit ist der individuelle Mensch, der den jeweiligen spezifischen Zustand der strahlenden Klarheit vollständig besitzt.“

Die obige Geschichte über Meister Unmon ist auch in der Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō aufgeführt. Danach sagt der Meister am Ende:
„Es ist besser, wenn sogar gute Dinge nicht existieren.“

Was meint er damit? Ist das nicht ein buddhistischer Widerspruch in sich? Nein, gerade nicht! Ob Dinge gut oder schlecht sind, unterliegt nämlich hinzugesetzten Bewertungen, aber ist nicht die Wirklichkeit selbst. Nishijima Roshi gibt dazu die folgende Erklärung:

„Das Licht, (das hier symbolisch für die Wirklichkeit steht), beleuchtet alle Dinge, aber wir können das Licht selbst nicht sehen.“
Denken wir zum Beispiel an das Tageslicht: Dadurch wird unsere Umgebung und alles, was wir sehen, beleuchtet. Ohne das Licht ist alles unsichtbar. Nishijima Roshi vergleicht das Licht mit der Wirklichkeit, die im Buddhismus so außerordentlich geschätzt wird, und erläutert, dass wir das Licht genau wie die Wirklichkeit nicht als Objekt sehen und denken können. Die Wirklichkeit umfasst auch den Geist, der diese Gedanken denkt, aber sie ist gerade nicht auf den isolierten Geist beschränkt. In diesem Sinne wird in der Geschichte über Meister Unmon die Wirklichkeit der Zazen-Halle, der Buddha-Halle, der Küche und der Tempeltore genannt, die wir als umfassende Wirklichkeit direkt erfahren. Aber diese Dinge sind nicht einfach Objekte außerhalb von uns selbst, obgleich sie materiell da sind, sondern sie haben zentrale buddhistische Funktionen, also Geist und Wahrheit des buddhistischen Lebens. Nishijima Roshi sagt:

Etwas Reales ist nicht in Geist und Materie getrennt.“
In diesem Satz Unmons geht es darum, dass Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen Gut und Schlecht oder Groß und Klein, nicht der Wirklichkeit angehören, sondern subjektiv von Menschen hinzugesetzt werden, sie sind nur auf der Sprachebene. Die Wirklichkeit ist jenseits von solchen Unterscheidungen. Wer also in Bewertungen gefangen ist, kennt noch nicht die volle Verwirklichung. Die Wirklichkeit ist genau vor uns, ohne jegliche Bewertung, genau so, wie sie ist.


Mittwoch, 30. Oktober 2013

Buddhas strahlende Klarheit


Dōgen unterstreicht: die strahlende Klarheit ist identisch mit dem Ganzen der Buddhas und der authentischen Meister. Die Klarheit bedeutet, dass die Buddhas zusammen mit den Buddhas die Wahrheit praktizieren und erfahren. Sie ist identisch mit dem strahlenden Zustand der Buddhas.

Im Lotos-Sūtra ein heißt es, dass die vielen Länder des Ostens von der strahlenden Klarheit erhellt werden. Dies solle man aber nicht abstrakt und losgelöst von der Wirklichkeit verstehen. Den Osten, wo bekanntlich die Sonne und das Licht aufgehen, darf man sich nicht nur materiell vorstellen und nicht auf die äußere Wahrnehmung der Sinne beschränken. Der hier gemeinte Osten, nämlich die Klarheit, ist überall, wo der Buddha-Dharma lebendig ist, und er existiert nicht zuletzt in uns selbst oder, wie Dōgen es ausdrückt, „im Inneren des Auges“.

Dōgen erzählt eine markantze Geschichte eines chinesischen Kaisers der Tang-Dynastie, der Reliquien von Gautama Buddha in seinen Palast gebracht hatte. Diese leuchteten in der Dunkelheit der Nacht und veranlassten die Untergebenen und Karrieristen bei Hofe zu großen Lobeshymnen und Gedichten. Sie sagten, dass dies die strahlende Klarheit Buddhas sei und sie die grenzenlose Tugend des Kaisers bestätigen würde. Das klingt in unseren Ohren doch sehr nach Schmeichelei!

Es gab jedoch den klar denkenden Dichter und Buddhisten Bunko, der sich solchen Schmeicheleien und diesem Wunderglauben nicht anschließen wollte, weil er mit großer Ernsthaftigkeit den Buddha-Dharma studiert und praktiziert hatte. Er wurde vom Kaiser, der deshalb sehr irritiert war, angesprochen, warum er die strahlende Klarheit der Reliquien nicht mit seiner großartigen Dichterkunst besingen würde, die doch im ganzen Land gerühmt wurden.
Der Dichter antwortete ihm:

„Buddhas strahlende Klarheit ist nicht blau, gelb, rot oder weiß. Dies hier ist nur das Licht, das Drachengötter bewahren.“

Der Kaiser war über diese Aussage verärgert und fragte bohrend und sogar drohend: „Was ist Buddhas Klarheit?“

Der Schriftsteller erkannte schlagartig, dass der Kaiser unfähig war, zu „verstehen“, was diese große Klarheit des Buddha-Dharma bedeutete, sie hat mit Schmeicheleien nichts zu schaffen, daher antwortete er überhaupt nicht. Dies wurde ihm als Aufsässigkeit und grobe Unverschämtheit ausgelegt, sodass er vom Hofe verbannt wurde und seine Karriere dort beendet war.

Diese Begebenheit erwähnt Dōgen auch in der Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō. Nishijima Roshi erklärt dazu, dass viele Religionen sogenannte „mystische Ereignisse“ sehr schätzen, diese aber im Buddhismus nicht als wesentliche Fakten anerkannt werden. Bunkos Schweigen auf die Frage des Kaisers symbolisiere genau das buddhistische Licht der Klarheit, denn es sei mit höflichen oder gar unterwürfigen Worten nicht zu beschreiben. Das buddhistische Licht unterliegt keiner Hierarchie und keiner Anbiederung. Es liegt total außerhalb von Schmeicheleien und eigenem Vorteilsdenken.

Leider hatte der Kaiser aber dafür kein Verständnis, sondern reagierte mit seinem beleidigten Ego. Er missbrauchte seine Macht, um Bunko zu erniedrigen und abzuschieben. Das war damals eine harte Strafe. Darin wird deutlich, dass der Kaiser kein wahres Verständnis des Buddhismus und der strahlenden Klarheit hatte.

Dōgen lobt die Standhaftigkeit und Aufrichtigkeit Bunkos, der die Unzulänglichkeit von Worten erkannt hatte, obgleich er der Sprache als Dichter so mächtig war. Er konnte die strahlende Klarheit nicht einem Menschen erklären, der an Wundergeschichten glaubte und dem die Untergebenen als dem Mächtigen schmeichelten.

Nishijima Roshi erklärt das Leuchten der Reliquien mit dem Vorgang der Phosphoreszenz. So kann das geschilderte Phänomen heute physikalisch einfach und natürlich erklärt werden. Das phosphorisierende Leuchten der Knochen in der Dunkelheit kann man selbstverständlich keineswegs mit der von Dōgen beschriebenen strahlenden Klarheit gleichsetzen. Diese Klarheit könne man nur selbst erfahren und erforschen, wenn man keine Vorurteile und keine Eigeninteressen habe. Die Tatsachen bleiben so, wie sie sind, selbst wenn man wunderbar reden kann und die Sūtras des Buddhismus so beredt auslegt, als ob „Blumen vom Himmel regnen“.

„Die wirkliche strahlende Klarheit ist dasselbe wie die wahren Dinge (dieser Welt), also die Wurzeln, Stämme, Zweige, Blätter, Blumen, Früchte und deren Licht und deren Farbe.“

Dōgen fordert uns eindringlich auf, die Aussagen der großen Meister in allen Einzelheiten zu untersuchen, zu erfahren und in der Wirklichkeit zu praktizieren. Nur dann verwirklichen wir die strahlende Klarheit des Selbst, das über das Gewöhnliche und sogar das Heilige hinausgeht.


Sonntag, 20. Oktober 2013

Neues Buch: Das Geheimnis der Buddha-Natur


Die tiefe Erfahrung des Zen-Meisters Dogen
Von G. W. Nishijima und Yudo J. Seggelke

Was ist die Buddha-Natur? Und warum müssen wir überhaupt intensiv und ausdauernd praktizieren, wenn die Buddha-Natur unser wahres Wesen ist? Diese Fragen waren für Zen-Meister Dogen von existenzieller Bedeutung und wurden zum zentralen Bezugspunkt in seinem Leben. Sie werden in diesem Buch fundiert und doch verständlich behandelt. Dogen gibt uns dazu verblüffende Antworten.
Die ureigene Erfahrung des Mysteriums der Buddha-Natur kann nur in der Einheit von Körper-und-Geist im lebendigen Strom des Lebens und der Meditations-Praxis erfahren werden. Genau davon handelt dieses Buch.
Um die verstehen zu können, ist es wichtig, seine Grundlagen zumindest in den zentralen Punkten zu kennen. Die Grundlagen der Lehre und Schriften Dogens werden von G. W. Nishijima in Teil I des vorliegenden Buches dargestellt. Im Teil II werden von Yudo J. Seggelke zunächst die Aussagen zur Buddha-Natur des indischen Buddhismus beschrieben. Danach folgt der Hauptteil zu Meister Dogens Buddha-Natur aus dem Shobogenzo.

Hardcover, 176 Seiten 10 Abb., 20,90;
ISBN 978-3-941380-15-8
E-Book: 6,49


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Mittwoch, 16. Oktober 2013

Die Klarheit des Selbst



Dōgen zitiert dann noch einmal Meister Chosa Keichin:

„Das ganze Universum in den zehn Richtungen existiert in der leuchtenden Klarheit des Selbst.
Im ganzen Universum in den zehn Richtungen gibt es niemanden, der nicht er selbst ist.“

Das heißt, dass das leuchtende und klare Selbst und das ganze Universum in seiner vollen Wirklichkeit identisch sind, sie können nur künstlich im Geist getrennt werden. Meister Keichin verstärkt diese Aussage in der zweiten Zeile des Gedichts, indem er betont, dass es im ganzen Universum, also in der konkreten Welt, in der wir leben, keinen Menschen gibt, der nicht von Natur aus das klare Selbst ist, und zwar ganz eigenständig und ursprünglich, nämlich ohne schädliche Einflüsse durch andere Menschen oder die Umwelt. Es versteht sich natürlich von selbst, dass der Meister hier die Wirklichkeit des Erwachten beschreibt, wie sie von Natur aus beschaffen ist: die Buddha-Natur. Er spricht nicht von den gewöhnlichen Menschen, die „den eigenen Käfig nicht verschrotten“.

Im Mai 2012 besuchte der große japanische Kalligrafie-Meister und Dōgen-Kenner Kazuaku Tanahashi Berlin. Ich konnte dabei aus unmittelbarer Nähe beobachten, wie er mit dem Pinsel Kalligrafien zu bestimmten Themen des Lebens und zu überlieferten Geschichten anfertigte. Mich beeindruckten seine große Ruhe und Klarheit, mit denen er zu Werke ging – ganz auf seine künstlerische Darstellung bezogen und fokussiert. Das ist die strahlende Klarheit, die Dōgen in diesem Kapitel beschreibt.

Laut Dōgen ist es unbedingt erforderlich, diese Buddha-Wahrheit in der Praxis und mit Ausdauer zu erlernen. Wenn man nicht mit voller Aufrichtigkeit handelt, entfernt man sich immer mehr von dieser Wahrheit, erklärt er:

„Es gab nur wenige frühere Meister, die die strahlende Klarheit durch solche Anstrengungen erlernt haben.“

Er erinnert an Bodhidharma, der die authentische Praxis und Lehre des Buddhismus nach Ostasien brachte und an seinen authentischen Nachfolger Taiso Eka weitergab:

„Dies war die direkte Erfahrung der strahlenden Klarheit der buddhistischen Vorfahren im Dharma.“

Und Dōgen fügt noch hinzu, dass vor diesem historischen Ereignis niemand in China diese strahlende Klarheit der authentischen buddhistischen Meister gesehen oder davon gehört hatte. Er fragt deshalb: „Wie hätten sie ihre eigene strahlende Klarheit erkennen können?

Mit Bodhidharma kam also die buddhistische Praxis nach China, wo bis dahin die theoretische Lehre vorgeherrscht hatte, der nach Dōgen die Einheit von Theorie und Praxis fehlte. Die strahlende Klarheit des Körper-und-Geistes ist genau diese Verschmelzung von theoretischer Lehre und der Praxis des Zazen sowie des Handelns im Alltag.

Die strahlende Klarheit ist also keine schöne Vorstellung, kein Wunschdenken und keine Flucht aus der Wirklichkeit. Schließlich fragt uns Dōgen:
Wie kann irgendjemand seine eigene strahlende Klarheit (vorher) gekannt haben?“

Diesen Ansatz vertieft er weiter, indem er sagt, dass niemand vor diesem Ereignis es überhaupt wahrgenommen und erkannt hätte, wenn er der strahlenden Klarheit begegnet wäre. Vorher war es nur möglich, die Klarheit „mit dem Gehirn zu ergreifen“, das heißt also, sie nicht ganzheitlich zu erfahren, sondern sich lediglich im theoretischen Lernen und Denken vorzustellen. Dies ist aber gerade nicht die intuitive ganzheitliche Klarheit, die Dōgen beschreibt.

Er spricht sogar davon, dass es die gewöhnlichen Menschen verabscheuen, dieser großen Klarheit zu begegnen. Dadurch entfernen sie sich aber immer weiter von ihr und löschen sie vielleicht sogar ganz aus. Eine solche Entfremdung ist tief greifend und entwickelt eine unmittelbare negative Kraft. Sie führt zu Hektik oder Trägheit, Abhängigkeit oder Ablehnung, kurz gesagt: Sie ist unausweichlich mit den drei buddhistischen Giften Gier, Hass und Verblendung verbunden. Dōgen bezeichnet solche Menschen als „stinkende Hautsäcke“.

Dōgen erklärt, dass man sich die strahlende Klarheit nicht konkretistisch als rotes, weißes, blaues oder goldenes Licht vorstellen soll. Auch die Klarheit des Feuers oder des Wassers oder der Glanz einer Perle und das Glitzern eines Diamanten bleiben häufig auf der Ebene der äußeren Wahrnehmung hängen und können dann nicht als Beschreibung der umfassenden strahlenden Klarheit des Buddha-Dharma dienen. Wenn man auf sie fixiert ist, taugen sie noch nicht einmal als Gleichnis!

Er schildert, dass die Buddhas und Vorfahren im Dharma diese Klarheit praktizieren und erfahren, und genau dabei
„werden sie Buddha, sitzen als Buddha und erfahren Buddha.“

Es wird deutlich, dass Dōgen hier ebenfalls die Einheit der strahlenden Klarheit, der buddhistischen Praxis und des Handelns in den Mittelpunkt stellt. Das heißt, dass man ohne ein solches Handeln die strahlende Klarheit nicht erfahren kann.


Dienstag, 8. Oktober 2013

Das klare Selbst und das Universum sind identisch


Meister Chosa Keichin lebte im 9. Jahrhundert und wurde „Shin, die große Katze“ genannt, weil er einen außerordentlich präzisen und scharfen Geist besaß, der schnell wie ein Tiger war. Zweifellos war er ein großer Zen-Meister, der hervorragende geistige Klarheit und denkerische Fähigkeiten besaß, aber sich niemals in sinnlosen Theorien verstrickte oder der niemals mit seinem Wissen aus den buddhistischen Schriften prahlte.

Bei ihm war Denken und Handeln eine Einheit voller Klarheit. Von ihm ist ein bedeutendes Gedicht überliefert, das Dōgen hier zitiert:

„Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist das Auge des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist die tägliche Sprache des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist der ganze Körper des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn Richtungen ist die strahlende Klarheit des Selbst.“

Nach der alten indischen Lehre besaßen das Universum und die Welt zehn konkrete Himmelsrichtungen. Sie stehen für ein ganz konkretes, realitätsnahes Bewusstsein und Verhalten in dieser Welt und im Universum. Mit dem Auge sind die sinnliche Wahrnehmung und vor allem das Sehen angesprochen. In der zweiten Zeile geht es um die klare und eindeutige Sprache der Buddhisten, die eine Verwirklichung der Welt und des Universums als Realität ist. Die Sprache und das Reden sind dabei keine Schein-Wirklichkeiten, die den Zuhörern vorgegaukelt werden und den Bezug zur Wirklichkeit und ethischen Klarheit verloren haben.

In der dritten Zeile geht es um die Form und den Körper, die ebenfalls zur leuchtenden Klarheit gehören. Ein abgehobener, angeblich klarer Geist, der ohne Körper auskommt, wird damit kategorisch ausgeschlossen. Wer intuitive Klarheit besitzt, hat auch eine klare Körperlichkeit und klare Gefühle: der Körper wird im Buddhismus nicht abgewertet.

In der letzten Zeile führt Meister Keichin das Selbst des Menschen auf, das sich radikal von einem abgegrenzten Ego des Egoisten unterscheidet, denn dieses hat weder die Klarheit über sich selbst, noch über die Welt oder über andere Menschen. Besonders ehrgeizige Ziele des Egoisten führen häufig dazu, dass der Mensch sich geistig verbarrikadiert und den realen Bezug zu anderen Menschen, zur Umwelt und zu sich selbst verliert. Dies kann bei Egoisten für die Dominanz des eigenen Körpers der Fall sein, zum Beispiel wegen dessen angeblicher oder wirklicher Schönheit oder Attraktivität. Es kann sich auch um geistigen Hochmut oder angebliche rhetorische Überlegenheit handeln. Für Egoisten gibt es kein offenes Selbst, das die eigenen engen Grenzen überschreitet und die Dualität von Subjekt und Objekt auflöst.

Die zehn Himmelsrichtungen werden in diesem Gedicht mit diesem offenen Selbst in strahlender Klarheit gleichgesetzt. Das wahre Selbst hat die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden und sich zum ganzen Universum hin geöffnet. Es bildet eine großartige Einheit mit ihm. Bei dieser Öffnung entsteht laut Meister Keichin die strahlende Klarheit. Dieses so verstandene Selbst ist in allen Menschen ausnahmslos vorhanden und wirksam, es ist die Buddha-Natur.

Genau in diesem Sinne verstehe ich die häufig missverstandene Ich-Losigkeit, die im Buddhismus gelehrt wird. Es ist unsinnig zu behaupten, dass die Wirklichkeit des Körpers, der Gefühle und des Handelns nicht vorhanden wäre. Entscheidend ist, ob es sich um ein unklares und daher abgegrenztes Ego handelt, also um einen mehr oder weniger krankhaften Ich-Bezug und die übertriebene Zentrierung auf sich selbst.

Das ist das Gegenteil eines offenen Selbst, das Joanna Macy aufgrund ihrer langen Erfahrungen im Umgang mit vielfältigen und nicht zuletzt psychischen Leiden ihrer Schülerinnen und Schüler beschreibt. Wer sich hinter seinen engen Ich-Grenzen verbarrikadiert, verliert seine Lebendigkeit, Kreativität und Lebensfreude – und die lebende Verbindung zur Umwelt sowie zu anderen Menschen.

Bei ihm gibt es kein Fließen mehr. In Bezug auf die Dynamik der Psyche möchte ich nach Freud hinzufügen, dass eine derartige Abgrenzung und Verdrängungsleistung erhebliche Energien des Menschen verbraucht, die dann für andere Aufgaben und Lebensbereiche nicht mehr zur Verfügung stehen.

Verdrängungen sind keine optimalen Lösungen psychischer Probleme; sie ermöglichen zwar ein minimales Überleben im Alltag, sind aber doch psychische Krankheiten  und müssen zum Beispiel zusammen mit einem Therapeuten aufgearbeitet werden. Nicht zuletzt blockieren sie die wichtigen Lernprozesse der verschieden Lebensphasen: Buddhas Achtfacher Pfad zur Überwindung des Leiden ist dann verschlossen.


Dienstag, 24. September 2013

Intuitives Handeln: der Weg zur Klarheit


Von besonderer Bedeutung ist im Buddhismus das Handeln im Augenblick, bei dem weder die materielle, noch die gedankliche Seite des Lebens dominiert. Wir können genau in der intuitiven Klarheit handeln, die Denken und Fühlen übersteigt. Dabei geht es primär nicht um die Zielerreichung, die in der Management-Lehre so sehr im Vordergrund steht. Das Ziel wird durch diese Klarheit gewissermaßen intuitiv und automatisch erreicht, ohne dass wir uns speziell darauf konzentrieren und fokussieren: Wer klar und effizient handelt, kann das Ziel kaum verfehlen, gerade weil er nicht verkrampft und im Handeln seine Kreativität behält. Im Übrigen ist die Fehlerwahrscheinlichkeit beim intuitiven, klaren Handeln sehr gering.

Die willensmäßige Geistesschulung kann sicher einen wichtigen Beitrag zur Transformation des Selbst in Richtung spiritueller und ethischer Klarheit bringen. Aber wir dürfen dabei nie die untrennbare Einheit von Körper-und-Geist vernachlässigen, und häufig hat der denkende Geist für die intuitive Klarheit nicht einmal die Hauptbedeutung. Wir wissen heute auch durch die Hirnforschung, dass sehr viele Prozesse im Gehirn, also im neuronalen Netz, unbewusst ablaufen und nur ein kleiner Teil dem Bewusstsein überhaupt zugänglich ist.

Durch intensives Training ist es zweifellos möglich, den bewussten Teil des Erkennens, Beobachtens und Erinnerns nachhaltig zu vergrößern. Aber wir dürfen niemals vergessen, dass das nur ein begrenzter Teil der Informations- und Steuerungsprozesse des Menschen ist, denn der Geist kann niemals vollständig erfasst werden: der wahre Geist ist viel größer.

Nishijima Roshi spricht daher davon, dass es bei der Klarheit vor allem auf das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems ankommt, das bekanntlich durch das Bewusstsein und den Willen nur sehr eingeschränkt oder überhaupt nicht beeinflussbar und steuerbar ist. Beim intuitiven, klaren Handeln ist sicher das Bewusstsein nicht ausgeschaltet, sondern es nimmt Teil an den Vorgängen. Ich nenne das gern „mitlaufendes Bewusstsein“.

Im Zen hat die Meditation ohne Objekte des Denkens und Fühlens einen zentralen Stellenwert, denn die Zazen-Praxis ist „Nicht-Denken“. Dabei sind die besonderen Schwingungen des neuronalen Netzes beim Zazen sogar präzise messbar; sie unterscheiden sich signifikant von den Schwingungen beim konzentrierten Denken und bei objektbezogener Fokussierung. Zazen bewirkt nach meiner festen Überzeugung eine „Tiefen-Heilung“ des Menschen und führt genau zu der strahlenden Klarheit, die Dōgen in diesem Kapitel behandelt.


Nishijima und Cross betonen, dass das Universum unser eigenes Leuchten und die strahlende Klarheit ist und dass sich dies genau in unserem Verhalten und Handeln verwirklicht: „Es gibt nichts anderes als diese leuchtende Klarheit.“ Sie ist das buddhistische Licht, von dem viele Meditierende berichten.

Sonntag, 15. September 2013

Die strahlende Klarheit von Körper und Geist


Die japanische Bezeichnung dieses Kapitels lautet Kōmyō, wobei „strahlend“ oder „hell“ bedeutet und myō „Klarheit“. Daher ist mit Kōmyō die strahlende Klarheit von Körper und Geist gemeint. Der Begriff Geist beinhaltet dabei nach heutiger Auffassung nicht zuletzt auch psychische Bereiche und Phänomene. Den Begriff der Psyche gab es so in Indien und in Ostasien zwar nicht, aber gerade bei Dōgen geht es beim Geist nicht nur um Denken oder besondere intellektuelle Fähigkeiten, sondern immer um das Ganze von Körper, Fühlen, Geist und Vernunft und geistigen Gegebenheiten, wie es schon in Buddhas Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit heißt. Vernunft übersteigt dabei immer Verstand, der Zen-Buddhismus ist immer im Einklang mit der Vernunft, z. B. nicht aber mit dem materiellen Verstand
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Dōgen erklärt in diesem Kapitel, dass das ganze Universum klar und strahlend ist und dass wir durch den Buddha-Dharma und die Übungspraxis daran teilnehmen können. In ähnlicher Weise werden die Welt und unser Leben im Lotos-Sūtra beschrieben. Durch die Lehre des reinen Handelns und des Gleichgewichts im Hier und Jetzt können wir uns für die strahlende Klarheit öffnen. Unser Körper-und-Geist erfahren eine unerwartete Stärkung durch Energien, die wir uns vorher nicht ausdenken konnten und die sich jäh ereignen.

Erwachte Menschen leben in der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie verlieren sich weder in idealistischen Träumereien, noch erhoffen sie sich von materiellen Gütern und Reichtum das Glück auf dieser Erde. Idealistische und einseitig spirituell orientierte Menschen tun sich schwer damit, die konkreten materiellen Wirklichkeiten dieser Welt – also die Dinge und Phänomene, wie Nishijima Roshi dies gern nennt – unverstellt zu beobachten und als wichtig zu schätzen. Umgekehrt glauben materiell orientierte Menschen nur an physikalisch-chemische, also materielle Wirklichkeiten und neigen dazu, spirituelle Lebensbereiche abzulehnen. Beide Lebensphilosophien sind für sich allein jedoch völlig unzureichend, um die Klarheit im Leben und in der Welt zu verwirklichen.

Wenn wir den Glauben an die unbeschränkten Fähigkeiten des unterscheidenden Denkens und die dadurch angeblich erzeugten angeblich klaren Erkenntnisse aufgeben müssen, und das ist heute sicher unbestritten, dann ergibt sich die Notwendigkeit, eine erweiterte, umfassende Klarheit und Vernunft zu suchen. Eine solche Klarheit umfasst vor allen Dingen das intuitive ganzheitliche Verstehen, Beobachten und Handeln. Dabei ist geistige Intuition keinesfalls abwertend zu verstehen, indem man sie zum Beispiel als ungenau, unlogisch oder nur als verschwommenes „Bauchgefühl“ einstuft. Was kann der Zen-Buddhismus dazu beitragen, dass wir eine solche umfassende Klarheit entdecken und erfahren?

Gerade Psychotherapeuten wissen, dass nur rationale und logische Erklärungen, Ratschläge und Diskussionen bei psychischen Krankheiten und Problemen wenig bewirken können. Ohne ein umfassendes Vertrauensverhältnis und die intuitive Klarheit des Therapeuten darüber, wo das psychische Problem des Patienten liegt und wie es in vorsichtigen Schritten gelöst werden kann, sind keine Heilungsprozesse zu erwarten. Darüber hinaus ist die intuitive Klarheit in jedem zwischenmenschlichen Handeln, sei es mit oder ohne Worte, von zentraler Bedeutung. Das gilt in noch stärkerem Maße für spirituelle Erfahrungen. Nur durch eine trans-intellektuelle Klarheit ist es zum Beispiel möglich, Illusionen von spiritueller Wirklichkeit zu unterscheiden. Dasselbe gilt, wenn man einen spirituellen Lehrer sucht und sich dabei vor Scharlatanen und Geschäftemachern zu schützen hat.

Intuitive Klarheit ist keine diffuse, verschwommene Geistigkeit, sondern sie überschreitet ganz im Gegenteil das nur logische und intellektuelle Verstehen, so wichtig dieses in Einzelfällen sein mag. Kreative Künstler kennen bei ihrer Arbeit eine solche nonverbale Klarheit, die sich selbst verwirklicht und keiner bewussten willensmäßigen Steuerung durch den Künstler unterliegt. Diese Klarheit und Ruhe des Augenblicks können wir auch beim Bogenschießen erleben, wenn im Augenblick der höchsten Spannung die große Klarheit und Ruhe da sind und der Pfeil mit erstaunlicher Genauigkeit sein Ziel erreicht, wie Herrigel dies in seinem berühmten Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens formuliert. Das ist eine Gefühle von Frteiheit und Offenheut.

Beim Spiel der japanischen Meditationsflöte Shakuhachi gibt es ebenfalls Augenblicke großer Klarheit ohne Worte, die man wohl auch als mystische Klarheit bezeichnen kann. Unsere westlichen Sprachen versagen allerdings im Allgemeinen dabei, einen solchen Zustand treffend zu beschreiben.


Dienstag, 3. September 2013

Im Erwachen gibt es keinen zugesetzten Affen.



Wann haben wir die richtige und natürliche Bewegung, das richtige Fließen unseres Lebens verwirklicht?
Dōgen drückt sich so aus:
„Der Geist als Berge, Flüsse und die Erde sind nichts anderes als die (wirklichen) Berge, die Flüsse und die Erde.“

Es ist alles genau so, wie es ist, es wird dabei nichts in Form von Illusionen hinzugesetzt und nichts durch Täuschung weggenommen.

Das heißt: Es gibt (zur Wirklichkeit) keine zusätzlichen Wellen und keine (zusätzliche) Brandung (mit Gischt), keinen Wind oder Rauch.“

Dōgen macht sehr deutlich, dass dieser offene Geist eine Einheit mit dem Universum, also Sonne, Mond und Sterne bildet, aber gerade nicht mit Illusionen und Selbsttäuschungen. Diese werden uns häufig mit starken Bildern und Vorstellungen suggeriert, oft glauben die Suggerierer sogar selbst daran!

„Geist ist Leben-und-Sterben, Kommen-und-Gehen und ist nichts anderes als (wahres) Leben-und-Sterben, (wahres) Kommen-und-Gehen. Es gibt dann keine hinzugesetzte Täuschung oder (eingebildete) Verwirklichung.“

Die Wirklichkeit ist genau so, wie sie ist, und die scheinbar außerhalb von uns bestehenden Objekte wie Sonne, Mond und Sterne, Berge, Flüsse und die Erde existieren in der Einheit mit dem Geist, der erwacht ist und sich im Gleichgewicht befindet. Dies ist die zentrale Botschaft des Buddhismus, und es gilt, sie in unserem Leben handelnd zu verwirklichen und im Hier und Jetzt zu realisieren.

Der Geist sei nach Dōgen auch die Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine; und diese sind als Wirklichkeit genau so, wie sie sind. Es gibt in der Klarheit keine gedanklichen oder emotionalen Zusätze, und es wird nichts abgespalten oder weggelassen.

In diesem Zusammenhang zählt Dōgen auch die in der buddhistischen Lehre verankerten materiellen vier Elemente und fünf Komponenten (Skandas) des Menschen und der Welt auf: „Es gibt keinen zusätzlichen Schlamm oder (zusätzliches) Wasser.“

Dōgen führt weiter aus: „Es gibt kein zugefügtes Pferd oder (keinen zugesetzten) Affen.“ Im alten China war das Pferd ein Symbol für den rastlosen unnützen Willen und der Affe ein Symbol für den törichten hin und her springenden Verstand. Ein rastloser Wille schießt immer über das Ziel hinaus und besitzt keine Aufnahmefähigkeit für den natürlichen Zustand und die natürliche Bewegung. Er kann sich im Hier und Jetzt nicht öffnen und hat damit nicht teil an der Wirklichkeit. Dasselbe gilt für hektisches Denken und das törichte Arbeiten eines hin und her springenden Verstandes.

Ein Geist, der hier und jetzt Buddha ist, ist nicht befleckt:
Alle Buddhas sind unbefleckte Buddhas.“
Dōgen erklärt, dass die Buddhas mit genau diesem Geist hier und jetzt identisch sind. Sie erwecken den Willen zur Wahrheit, führen das praktische Training durch, verwirklichen das Erwachen, das die Erfahrung des Nirvāna ist. Er verstärkt diese Aussage, indem er sie in umgekehrter Form wiederholt:

Wenn wir niemals den Willen zur Wahrheit erweckt haben, also (niemals) das Training durchführen, das Erwachen (verwirklicht) und das Nirvāna (erfahren haben), dann ist (der Zustand) nicht Geist hier und jetzt. Und ist nicht Buddha.“

Das Nirvāna wird dabei nicht als ein jenseitiges Paradies verstanden, sondern als das erwachte Leben im Gleichgewicht des Hier und Jetzt, das identisch ist mit der Überwindung des Leidens.



Samstag, 17. August 2013

Der umfassende einheitliche Geist


Dōgen hebt hervor, dass es um den umfassenden einheitlichen Geist geht, wenn es heißt und authentisch an uns übermittelt wurde: „ein Geist als alle Dharmas und alle Dharmas als ein Geist“. Mit den Dharmas sind alle Dinge und Phänomene dieser Welt und unseres Lebens gemeint. Es gibt also für Dōgen keine Trennung der vielfältigen konkreten Einzelheiten von diesem umfassenden Geist. Das ist eine zentrale Lehre des Buddhismus: Gerade die Einzelheiten dieser Welt sind identisch mit dem wunderbaren umfassenden Geist, das wird z. B. im Lotos-Sutra beschrieben.

Nach einem Zitat des alten Meisters Chorei Shutaku gibt es
„auf der Erde nicht ein bisschen abgetrennten Boden, wenn sich ein Mensch des (wahren) Geistes bewusst wird.“
Was heißt das? Tatsächlich ist ein Fleckchen Boden, das zum Beispiel aus Erde besteht, in der Natur von dem übrigen Boden nicht abgetrennt, sondern bildet eine umfassende, natürliche Einheit mit ihm. Wenn man sich eines solchen Geistes vollkommen bewusst wird, verschwinden alte Vorstellungen und Ideen von Himmel und Erde, und insbesondere die materielle Sichtweise wird überschritten. Dadurch verändert sich auch die Wahrnehmung der Form der Erde; sie wird umfassender, bunter und auch größer.

Dōgen zitiert den alten Meister Isan Reiyu, der zu seinen Schülern sagte:
Was ist der feine, leuchtende und reine Geist? Er ist Berge, Flüsse und die Erde, die Sonne, der Mond und die Sterne.“
Der erwachte Geist macht zwischen der Umgebung und sich selbst keinen Unterschied mehr, der Dualismus ist überwunden, und die wahrgenommenen Objekte, die wir gewöhnlich als von uns getrennt sehen, bilden eine Einheit mit diesem erwachten Geist. Das ist der leuchtende, feine Geist. Dōgen bekräftigt diese Aussage und lässt keinen Zweifel daran, dass er selbst genau diese Erfahrung machte, nachdem er die theoretische Phase beim Buddha-Dharma beendet hatte und mithilfe seines eigenen Meisters Tendō Nyojō die Wirklichkeit und Wahrheit des Buddhismus erlernen konnte.

Er erinnert daran, dass die Worte gerade nicht identisch sind mit den Bewegungen der Wirklichkeit und des Lebens. Wenn wir auf dem Weg des Buddha-Dharma der Wirklichkeit vorwärtsschreiten wollen, ist die verbale Ebene der Worte nicht mehr ausreichend. Die Wirklichkeit der Bewegung geht darüber hinaus. Wenn wir allerdings beim Handeln unnötig zögern und die Praxis vernachlässigen, können Worte sehr wichtig werden, um wieder neu anzusetzen.


Restriktives, eingeschränktes Handeln kann die Aussage von „Geist hier und jetzt ist Buddha“ jedoch nicht erfassen. Es kommt also auf das natürliche Bewegen und Handeln an, damit der Zen-Geist mit der Wahrheit und Wirklichkeit übereinstimmt. Wenn wir uns zögerlich verhalten und von der Wirklichkeit getrennt sind, werden wir durch die Blume des Dharma gedreht, wir sind also passiv und sozusagen Spielball der Welt und unserer Umgebung. Das arbeitet Dōgen im Kapitel über das Lotos-Sūtra heraus. Wenn wir aber erwacht und im Gleichgewicht sind, drehen wir selbst die Blume des Dharma. Dann haben wir die richtige und natürliche Bewegung unseres Lebens verwirklicht.

Samstag, 10. August 2013

Der erwachte Geist überwindet den Dualismus


Dōgen betont, dass die sogenannte dreifache Welt, die nach damaliger Auffassung aus der Form, der Nicht-Form, z. B. Denken und Ideen, und dem Wollen besteht, wirklich existiert; sie schwindet nicht und erscheint nicht, denn ihre Wirklichkeit besteht ganz genau im gegenwärtigen Augenblick. Diese Welt „ist nicht nur Geist“, erklärt er, denn sonst würde man den Geist als vom Körper getrennt ansehen.

„Der Geist existiert als Zäune und Mauern, er wird niemals schlammig oder nass und ist niemals künstlich erzeugt.“

Diese umfassende Bedeutung des Geistes vertieft Dōgen im Shōbōgenzō besonders im Kapitel über die drei Welten. Die Trennung von Körper und Geist lehnt er vehement ab, da ein solcher Dualismus nicht der Wirklichkeit entspricht. Und er sagt: „Wir verwirklichen in der Praxis, dass Geist hier und jetzt Buddha ist.“ Diese Einheit von Geist und Buddha in der Praxis kommt auch in der folgenden Aussage deutlich zum Ausdruck:

„Geist-und-Buddha hier und jetzt sind richtig, und sie verwirklichen in der Praxis, dass dieser Buddha-Geist das Hier und Jetzt ist.“

Das klingt etwas ungewöhnlich; es bedeutet, dass es bei der Sein-Zeit keine Wirklichkeit außerhalb des gegenwärtigen Augenblicks geben kann und dass die Vergangenheit nur Erinnerungen in unserem Gehirn sind und die Zukunft nur Erwartungen, Hoffnungen oder Ängste, aber sie sind nicht die Wirklichkeit.

Es mag zwar sinnvoll sein, dass man die einzelnen Begriffe wie „Geist“, „Praxis“, „Wirklichkeit“ und „Zeit“ verwendet, weil sonst überhaupt keine Kommunikation und keine buddhistische Lehre möglich wären. Aber wir dürfen diese Begriffe niemals mit der unteilbaren Wirklichkeit verwechseln: Insbesondere eine idealistische und materialistische Sicht der Welt kann diese großartige Einheit nicht annähernd erfassen.

Die tiefgründigen Ausführungen Dōgens stehen damit im klaren Gegensatz zur Lehre alten indischen Lehre, die die Trennung von Körper und einer spekulativen und erfundenen „spirituellen Essenz“ behauptet. Das Gleiche gilt für buddhistische Strömungen im damaligen Süden von China, die zwar die Begriffe der buddhistischen Lehre verwenden, aber die authentische Lehre verwässern oder sogar in ihr Gegenteil verkehren.

Dōgen fasst zusammen, dass die Verwirklichung in der Praxis genau „Geist hier und jetzt ist Buddha“ ist:

„Die Verwirklichung in der Praxis wie diese ist genau ‚der Geist hier und jetzt des Buddha‘, die sich selbst erwirbt und sich überträgt auf ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“

Da diese große Wahrheit authentisch von einem Meister zum anderen übertragen worden ist, sei sie immer lebendig geblieben. Nishijima Roshi sagt dazu:

„Die buddhistische Lehre ist für uns nicht leicht zu verstehen, und sie wurde daher über 2.500 Jahre authentisch weitergegeben. Durch diese direkte Weitergabe von einem zum anderen wurden jeweils die vielfältigen möglichen Missverständnisse vermieden. Es ist daher unsere äußerst wichtige Pflicht, den wahren Buddhismus authentisch zu erhalten und für alle Zeiten die vielen möglichen Fehler zu vermeiden.“

Durch seine Formulierung im obigen Zitat will Dōgen den Eindruck vermeiden, dass ein solcher Geist so etwas wie ein Objekt ist, das wie ein Gegenstand von einem Menschen zum anderen weitergegeben wird. Es ist dagegen der natürliche Zustand des Menschen, der sich im Augenblick des Handelns verwirklicht und keine Trennung von Subjekt und Objekt duldet, sondern den Dualismus überwindet.

In dieser Formulierung wird ein Meister als Person nicht erwähnt, denn es geht um den umfassenden erwachten Köper-und-Geist, der unabhängig von der Individualität eines Menschen ist. Der Körper-und-Geist wird also nicht von einem individuellen Menschen wie eine Idee oder ein Gegenstand weitergereicht. Ein solches Übertragungsmodell wäre für den natürlichen, ganzheitlichen Zustand des Augenblicks völlig ungeeignet, denn es bliebe in der ersten Lebensphilosophie des Idealismus verhaftet. Und wenn der Geist wie ein quasi materielles Objekt betrachtet würde, wäre damit nur die Lebensphilosophie des Materialismus realisiert. Durch die romantisierende Trennung von Subjekt und Objekt, ist es demnach unmöglich, die Wirklichkeit selbst zu erfahren.


Samstag, 3. August 2013

Sind die Menschen von Natur aus schon Buddha?




Von zentraler Bedeutung auf dem Buddha-Weg ist der feste Wille zur Wahrheit. Eine bequeme, populistische Lehre, die eine Erleuchtung ohne Praxis vorgaukelt und vielleicht mit dem Ziel des eigenen Ruhmes und finanziellen Vorteils verbreitet wird, sei dafür völlig ungeeignet. Hier spielt Dōgen wohl auf die Lehre vom Brahmanen Senika an.

Nishijima Roshi verdeutlicht:
„Törichte Menschen denken, dass alle Menschen schon Buddha sind, und zwar auch diejenigen, die nicht im Gleichgewicht sind. Aber eine solche Interpretation ist vollständig falsch. In den (begrenzten) Philosophien, die nur auf dem Verstand beruhen, mag es diese Aussage geben, aber im buddhistischen Realismus geht es um die wahre Existenz des ganzen Menschen.“ Das sei mehr als nur logisches Denken und rhetorische Überzeugungs-Kraft

Dōgen sagt über die Ansicht der törichten Menschen:
„Dies ist die Folge davon, (dass ein solcher Mensch) niemals einem wahren Lehrer begegnet ist“, bei dem er den wahren Buddhismus hätte erlernen und erfahren können. Wer nur den unterscheidenden Verstand (linke Hälfte des Gehirns! ) und die Sinneswahrnehmungen als Geist definiert, habe das Wesentliche des Buddhismus nicht verstanden und schon gar nicht verwirklicht.

Nach der buddhistischen Lehre von Nishijima Roshi gibt es vier grundsätzliche Lebensphilosophien: Idealismus, Materialismus (Form), Handeln im Augenblick und das Erwachen. Denken und Wahrnehmung sind nur Teilwahrheiten des menschlichen Lebens, weil die dritte Dimension des Handelns und die vierte des Erwachens und Gleichgewichts fehlen. Bei aller Wertschätzung der westlichen Philosophie und ihrer großen denkerischen Leistungen sieht Nishijima darin eine wesentliche Ursache für die Verwirrungen des Westens, die letztlich auf die griechischen Philosophen zurückgehen.

Die Menschen würden zwischen den Weltanschauungen des Idealismus und Materialismus hin und her geworfen und könnten keine Ruhe und kein Gleichgewicht finden, denn der Mittlere Weg sei ihnen verschlossen. Gautama Buddhas Lehre geht jedoch über diese Kontroverse hinaus und eröffnet einen klaren Ausweg aus dem dadurch verursachten Leiden. Dies ist die buddhistische ganzheitliche Lehre und Praxis der Wirklichkeit und Verwirklichung, die Nishijima buddhistischen Realismus nennt. 

Sie schließt ausdrücklich intuitive Fähigkeiten mit ein, die im Übrigen trainierbar sind wie kaum eine andere Fähigkeit des Menschen. Mit ihrer Hilfe können wir aus den Wirren und Irrtümern des Lebens erwachen und die dadurch verursachten Probleme lösen oder zumindest deutlich abmindern. Wesentlich ist es allerdings, einen wahren Lehrer zu haben.

Nishijima Roshi erklärt:

„Das (obige) grundsätzliche Missverständnis (zum denkenden isolierten Geist) ist (auch) in China entstanden, weil es dort zu jener Zeit außerordentlich wenige wahre buddhistische Meister gab. Die Menschen haben deshalb zwangsläufig solche Fehler begangen.“

Mittwoch, 24. Juli 2013

Einheit des indischen- und des Zen-Buddhismus


Zweifellos geht es in dem Kapitel „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ um die Wirklichkeit des Geistes im gegenwärtigen Augenblick, die mit der Buddha-Natur identisch ist: Es geht um die Einheit von Körper-und-Geist.

Im alten Indien gab es beachtliche Strömungen, die sich als Naturalismus bezeichneten und behaupteten, dass man keine Anstrengungen, wie etwa die Meditation des Samādhi, auf sich nehmen müsse, um den Buddhismus und die Erleuchtung zu verwirklichen. Sie behaupteten ferner, dass jedes Handeln ganz natürlich sei und es daher überhaupt keiner Moral im Leben bedürfe. Auch die buddhistischen Gelöbnisse seien daher überflüssig. Nishijima Roshi betont, dass dieses Verständnis ein schwerwiegender Fehler ist, weil dann auch jedes kriminelle Handeln erlaubt wäre, da es „natürlich“ sei.

Es ist sicher nicht besonders schwierig, den Satz „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ auszusprechen oder zu zitieren und ihn theoretisch und intellektuell zu verstehen, aber dabei handelt es sich nur um dualistisches Denken. Gegenüber dem Verständnis eines vom Körper isolierten Geistes mag dies zwar ein gewisser philosophischer Fortschritt sein und der Wirklichkeit des Lebens und der Welt etwas näher kommen, aber Dōgen gibt sich damit nicht zufrieden. Nach seiner tiefen Erkenntnis, der ich folge, kann man ohne die Zazen-Praxis und ohne das konkrete Handeln im Augenblick nicht wirklich selbst erfahren, was dieser Satz tatsächlich bedeutet. Aber viele Menschen im Osten und im Westen glauben leider fest daran, dass es einen abgrenzbaren Geist gibt, der irgendwie in unserem Körper enthalten ist und sich vom Körper selbst unterscheidet. Dies kommt dem alten indischen Glauben an einen unveränderlichen Seelenkern, Atman, sehr nahe.

Durch die Betonung des Hier und Jetzt weist Dōgen aber auf die ganz konkrete Situation hin und macht klar, dass der Geist überhaupt nicht unabhängig vom Augenblick, von der Zeit und von diesem Ort ist. Damit führt uns der Zen-Buddhismus vom abstrakten theoretischen Denken und vielleicht liebgewordenen Glauben weg zum Hier und Jetzt des Handelns.

„Was jeder Buddha und jeder Vorfahre im Dharma bewahrt haben und worauf sie sich verlassen haben, ist genau und ohne Ausnahme: ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“

Mit diesem Satz beschreibt Dōgen die Grundlage aller Buddhas und aller großen Meister im Buddhismus, und er bezeichnet es als grundlegenden Irrtum, zu behaupten, dass diese Wahrheitsaussage im buddhistischen Indien nicht bekannt gewesen und gelehrt worden sei, sondern dass sie erst in China in der Zeit des Zen-Buddhismus herausgearbeitet und gelehrt wurde.

„Viele Schüler verstehen es jedoch falsch (und behaupten), dass ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘ in Indien (noch) nicht existiert habe, sondern zum ersten Mal in China gehört worden sei. Als Ergebnis erkennen sie ihren Irrtum nicht als (wirklichen) Irrtum. Weil sie den Irrtum nicht als Irrtum erkennen, fallen viele Menschen abwärts in den Nicht-Buddhismus.“

Wenn diese Aussage im alten Indien nicht bekannt gewesen wäre, würde das bedeuten, dass es im frühen indischen Buddhismus noch keine Klarheit über den menschlichen Geist gab, sondern eine idealistische und theoretische Vorstellung vorherrschte. Die Dimension des konkreten Hier und Jetzt wäre dann nicht einbezogen worden. Auch Nishijima Roshi zeigt auf, dass diese Ansicht falsch ist, denn damit würde behauptet, dass der Zen-Buddhismus mit dem frühen indischen Buddhismus nicht übereinstimmt und mit der Lehre von Gautama Buddha nicht identisch ist. Wer eine solche Meinung vertritt, ist nach Dōgens Überzeugung daher kein Buddhist:

„Wenn törichte Menschen den Satz ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘ hören, interpretieren sie ihn so, dass der (unterscheidende) Verstand und die Sinneswahrnehmung der gewöhnlichen Menschen, die niemals den Bodhi-Geist (der Wahrheit) erlangt haben, genau Buddha sind.“

Damit teilen sie das Schicksal der Menschen, die die Buddha-Lehre nicht verwirklichen können und deshalb keinen Ausweg in den Wirren des Lebens finden.


Donnerstag, 18. Juli 2013

Der Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko shin ze butsu)



In diesem Kapitel des Shōbōgenzō grenzt Dōgen die buddhistische Lehre des Körper-und-Geistes von der altindischen Philosophie des Atman ab, die zur Zeit Gautama Buddhas beispielhaft von dem Brahmanen Senika vertreten wurde. Nach dem tiefen Lebens-Verständnis Buddhas führt der Glaube an die Ideologie eines Atman zu Leiden, Ausweglosigkeit und Entfremdung von der Kraft der Wirklichkeit.

Mehrere Streitgespräche zwischen Buddha und Senika stellen die wesentlichen Kernpunkte der damals neuen buddhistischen Befreiungs-Lehre treffend dar und zeigen die Unterschiede zum Glauben des Brahmanismus, der Ausweg aus dem Leiden: Die vier Edlen Wahrheiten und die Himmlischen Verweilungen wie liebevolle Zuwendung und Gleichmut.

Senika vertrat den Glauben, es gebe einen ewigen, unveränderlichen Seelenkern (Atman), der auch als abstrakter und recht nebuloser ewiger Geist des Menschen verstanden wurde. Dieser Geist sei vom jeweiligen Körper unabhängig und müsse durch die verschiedenen Wiedergeburten von einem Körper zum anderen gehen. Er müsse sein schlechten Karma abarbeiten und immer wieder in den leidvollen Kreislauf des Lebens zurückkehren. Dieser Atman werde erst nach fast endloser Wiedergeburten vom Zwang der Wiederkehr des Leidens in der Welt erlöst und geht dann in den Weltgeist „Brahman“ ein, dann verliert er seine Individualität und verschwindet.

Es ist klar, dass damit eine ziemlich pessimistische Weltsicht verbunden ist: Erst nach vielen leidvollen Wiedergeburten als Individuum löst sich der Mensch schließlich auf und verschwindet im Welt-Geist. Das menschliche individuelle Leben sei von Krankheit, Tod, Jammer, Gram und Verzweiflung geprägt, Handeln im Leben bringe uns überwiegend schlechtes Karma, das die Wiedergeburt verschlechtert, die außerdem an die Kaste im altern Indien gekoppelt ist.

So müsse der leidende Geist den alten, „abgetragenen“ Körper verlassen und einen neuen ebenfalls leidvollen zu suchen. Dafür wird das Gleichnis einer Schlange verwendet: Sie häutet sich und lässt die alte Haut zurück, die unbrauchbar geworden ist. Sie lebt dann in der neuen Haut weiter, aber kann den Kreislauf des leidvollen Lebens nicht verlassen.

Laut Senika hat diese von ihm behauptete Geist-Substanz bestimmte Fähigkeiten, sie könne nämlich zwischen Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und Verwirrung unterscheiden. Sie sei absolut selbstständig, unveränderlich und auch nicht lernfähig. Ihre Aufgabe liegt darin, das schlechte Karma durch leidvolle Wiederkehr in der Welt abzuarbeiten und sich dann aufzulösen.

Dōgen lehnt diese brahmanische Lehre mit Nachdruck ab und erläutert das anhand des berühmten Satzes: „Geist hier und jetzt ist Buddha.“ Das heißt, der Zen-Geist existiert immer in der Einheit mit dem Körper und handelt genau im Hier und Jetzt. Dabei handelt er vor allem in der Einheit mit der Buddha-Natur, also der ursprünglichen befreiten Natur aller Menschen. Dabei geht es Dōgen nicht um Glauben, Wünsche und abstrakte Vorstellungen, sondern um die reale Wirklichkeit, ob wir sie nun mögen oder nicht.

Denn eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne Wunschträume oder böse Albträume sei vor allem eine wesentlich Ursache für das Leiden der Menschen. Dies betont im Übrigen nicht zuletzt der Psychologe Sigmund Freud: ohne Wirklichkeit keine Befreiung vom Leiden.

Der Geist ist nicht unabhängig von Ort und Zeit.
Im japanischen Titel dieses Kapitels, Soko shin ze butsu, bedeutet soku „hier und jetzt“, und shin heißt „Geist“; ze kann man übersetzen mit „ist“ und butsu mit „Buddha“. Dieser Satz und seine Bedeutung waren im alten China sehr berühmt, aber Dōgen erklärt, dass sich leider immer wieder erstaunliche Fehlinterpretationen eingeschlichen haben, die er in diesem Kapitel fundiert widerlegt. Dabei arbeitet er gleichzeitig die wahre Bedeutung heraus.

Nishijima Roshi warnt davor, diesen Satz nur oberflächlich und rein körperlich im Sinne des Materialismus zu verstehen. Denn dann würde es sich um den sogenannten „Naturalismus“ handeln, der vom Buddhismus klar abgegrenzt werden müsse. Buddha bedeutet in Nishijimas Interpretation nichts anderes als die Wahrheit, die sich nur im gegenwärtigen Augenblick offenbart. Im Augenblick der Wahrheit ist es völlig ausgeschlossen, dass Körper-und-Geist getrennt sind.

Das heißt im Klartext, dass der Geist im Zustand der Erleuchtung und Klarheit niemals isoliert sein kann, oder anders ausgedrückt: Wenn er abgetrennt ist, kann dies nicht der Zustand der Erleuchtung, also der Wahrheit, beziehungsweise der Zustand von Buddha sein!

Wer an einen getrennten Geist glaubt, dem ist der Weg zur Erleuchtung versperrt. Ein getrennter Geist existiert niemals in der Wirklichkeit des Handelns im Augenblick, sondern er gehört in den Bereich der Ideen und der Ideologien, ist deshalb in der Wirklichkeit nicht erfahrbar. Eine solche Illusion muss nach Gautama Buddha letztlich zum Leiden führen, da sie nicht stabil und tragfähig ist: Ideen sind nicht die Wirklichkeit, sondern Tätigkeiten unseres Gehirns. Idealisten haben meist nicht die Kraft, diesen Schritt zur Wirklichkeit zu vollziehen. Sie verbleiben in wirklichkeitsfremden Träumen, und wir müssen froh sein, wenn sie nicht zu Ideologen und Fanatikern werden, die anderen und sich selbst großes Leid zufügen.