Nachdem Dōgen im Jahre 1233
den Buddhismus und das buddhistische Leben sehr präzise dargestellt hatte,
vergingen einige Jahre, bis er 1238 den Text „Das ganze Universum ist eine
leuchtende Perle“ verfasste, das vierte Kapitel im Shōbōgenzō. Das japanische Wort ikka
bedeutet „eins“, myō heißt
„leuchtend“, „klar“, „strahlend“, und ju
ist im Deutschen die „Perle“.
Dieses Kapitel behandelt die
berühmten Worte des großen Meisters Gensa,
der immer wieder lehrte, dass das ganze Universum in allen Richtungen wie eine leuchtende, strahlende Perle ist.
Nishijima Roshi erklärt, dass Dōgen diese Aussage sehr schätzte. Das ist eine
ganz andere Erfahrung des Lebens und der Welt, als der heutige oft negative oder sogar nihilistische Zeitgeist!
Im Buddhismus wird großen
Wert darauf gelegt, dass man Theorie und Lehre sowie Vorstellungen und Ideen
nicht mit der Wirklichkeit und Wahrheit selbst verwechselt. Um das zu
verdeutlichen, wird häufig das folgende Gleichnis verwendet: Wenn der Finger
auf den Mond zeigt, darf man niemals den Finger
mit dem Mond verwechseln. Dieser ist zum Beispiel in seiner Rundheit das Symbol für ein erfülltes
Leben, das wir heute als den Zustand der Erleuchtung bezeichnen.
Die Lehre und Theorie, sei
es schriftlich oder mündlich im Vortrag, verweisen auf diese buddhistische
Wahrheit der Erleuchtung wie der Finger auf den Mond. Aber die Wirklichkeit des
Mondes ist unabhängig von dem Finger und existiert auch, wenn der Finger nicht
auf ihn zeigt. So können die buddhistische Lehre, buddhistische Bilder oder
Figuren von Gautama Buddha auf die Wirklichkeit und Wahrheit hinweisen, aber
sie können die Realität nicht ersetzen. Diese können wir nur selbst erfahren.
In der westlichen
Philosophie und auch Theologie fehlt aus meiner Sicht häufig diese wichtige
Unterscheidung, weil zwischen Ideen, Fantasien, Hoffnungen, Glauben und Ängsten
einerseits und der Wirklichkeit selbst andererseits zu wenig oder überhaupt
nicht getrennt wird. Das führt zwangsläufig zu Unsicherheiten im Leben und
macht die Menschen für falsche Ideen und gefährliche Ideologien anfällig.
Gensa war einer der
profiliertesten Zen-Meister und hat auf diesen Unterschied zwischen Theorie und
Wirklichkeit sehr deutlich hingewiesen. Dass er die Welt und die Menschen mit
einer leuchtenden Perle gleichsetzt,
zeigt seine positive Weltsicht und
seine Freude an der Schönheit der Natur. Ich kann mir kaum ein
aussagekräftigeres und schöneres Symbol für die Welt, unseren Körper und Geist
vorstellen als eine leuchtende Perle.
Gensa betont, dass der Geist nicht isoliert vom Körper und der
Wirklichkeit existiert, sondern immer eine Einheit mit ihnen bildet. Eine
leuchtende Perle wäre auch in der Tat ungeeignet als Symbol für einen
abstrakten, weltabgewandten Geist oder Weltgeist. Hegel, der Philosoph des
deutschen Idealismus, kam sicher nicht auf die Idee, den von ihm gelehrten Weltgeist als Perle zu
bezeichnen. Auch bei ihm vermisse ich die klare Unterscheidung zwischen
Wirklichkeit und Worten und Gedanken.
Es ist historisch
überliefert, dass Meister Gensa zunächst dem bürgerlichen Beruf eines Fischers
nachging und in seinem Boot auf dem Nantai-Fluss fischte. Wir können davon
ausgehen, dass er sich dabei hin und wieder auf dem großen Strom einfach
treiben ließ und sich an der großartigen Natur erfreute. Im Alter von 30 Jahren
fasste er den Entschluss, sein Leben
radikal zu verändern. Er verließ die anderen Fischer und den Fluss und ging
in die Berge, um einen buddhistischen Meister zu suchen. Davor hatte er kein Sūtra
gelesen und keine Lehrrede eines Buddhisten gehört.
Ich vermute, dass ihm in der
Mitte seines Lebens, denn damals war
die Lebenserwartung sehr viel geringer als heute, plötzlich bewusst wurde, dass
sein bisheriges Leben mit all seinen Unwägbarkeiten, Unsicherheiten und
Bedrohungen wenig sinnvoll war. Er hatte bis dahin die Klarheit der
Wirklichkeit und Wahrheit nicht erfahren. Ich kann mir vorstellen, dass er auch
Fische nicht mehr mit seinem Netz einfangen und töten wollte.