Donnerstag, 30. August 2007

Die wahre Bedeutung des Sûtra-Lesens (Kankin)

Im Kapitel "Das Sûtra-Lesen" (Kap. 21, Kankin) geht Meister Dôgen im Einzelnen darauf ein, was es auf dem Buddha-Weg bedeutet, die alten Lehren also die Sûtra zu lesen, zu studieren und zu rezitieren.

Teebüsche beim Kloster Tokein


Er hält das Studium der Lehre des Buddha-Dharma für außerordentlich wichtig, ja für unbedingt notwendig. In diesem Kapitel werden mehrere alte Meister zitiert, die sich bei verschiedenen Anlässen und oft nach entsprechenden Fragen der Mönche oder Schüler zur wahren Bedeutung der Sûtra geäußert haben, was deren Lesen also bewirken kann und was nicht. In einigen buddhistischen Schulen wird dem Lesen und Rezitieren von Sûtra eine zentrale Bedeutung auf dem Weg des Buddha-Dharma gegeben. Dôgen warnt hier aber zu übertreiben, weil die Texte der Sûtra allein nur allzu leicht "Futter" für intellektuelle Spielereien und Fantasien sind und damit das Wesentliche der Buddha-Lehre nicht treffen können.
Gerade im Zen-Buddhismus wird der direkten Erfahrung und der Praxis des Zazen und täglichen Lebens eine außerordentlich große Wichtigkeit zuerkannt. Dies darf auf der anderen Seite aber auch auf keinen Fall zu einer Ablehnung oder Vernachlässigung der alten Schriften des Buddhismus führen und auch dies kann man leider z. T. in einigen buddhistischen Schulen beobachten. Dôgen empfiehlt uns einen mittleren Weg zu gehen, bei der die Sûtra ihre Bedeutung haben, aber mit der persönlichen Belehrung durch den Meister und vor allem mit den eigenen Erfahrungen in der Praxis zusammengehen müssen. Dann ist es möglich, durch das Lesen der Sûtra auf dem Weg wesentlich gestützt und bereichert zu werden, und sich dabei den Buddha-Dharma Schritt für Schritt zu erarbeiten und immer besser zu verstehen. Letztlich können aber nur Buddhas und wahre Meister die Sûtra der Buddhas und wahren Meister umfassend und intuitiv verstehen und begreifen.
Zu Bedeutung der Sûtra sagt Dôgen:

"Im Haus der Buddhas und Vorfahren im Dharma erfahren manche (die Wahrheit) direkt und manche indirekt. Trotzdem bleiben das Lesen der Sûtra und die Belehrung unsere (wesentlichen) Hilfsmittel des täglichen Lebens".

Mit der direkten Erfahrung meint Dôgen die Übungspraxis, vor allem das Zazen, aber auch des Handelns im täglichen Leben, während wir die indirekte Erfahrung des Geistes machen, wenn wir Sûtra lesen oder dem Meister zuhören. Dôgen hat selbst außerordentlich umfangreiche und hervorragende Schriften erarbeitet und uns hinterlassen, so dass wir daraus ersehen können, dass er die schriftlichen Texte der buddhistischen Lehre für notwendig und wertvoll hielt. Nishijima Roshi hat über sechzig Jahre seines Lebens "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Shôbôgenzô) und andere Schriften von Dôgen studiert, bis er sie, wie er es selbst formulierte, vollständig verstanden hatte. Erst mit seiner eigenen Lehre der vier Lebensphilosophien des Buddhismus (Idealismus, Materialismus, Handeln im Hier und Jetzt und der umfassende Lehre des Buddhismus) war es ihm dabei möglich, den großen Wert dieser Texte zu entschlüsseln und an uns weiter zu geben. Dafür gebührt ihm großer Dank!
Die Sûtra wurden in den Tempeln von China und Japan meist gemeinsam im Kloster gelesen oder rezitiert. Sie wurden dort auch abgeschrieben, bei verschiedenen Zeremonien empfangen und als wertvoller Schatz bewahrt. Aber das Lesen der Worte und Sätze der Sûtra allein reicht selbstverständlich nicht aus, um sie zu "verstehen". Trotzdem benötigen wir unbedingt die Lehre, um auf dem Buddha-Weg voran zu gehen, und die Praxis und Erfahrung stützt sich auch auf die Sûtra und auf die Lehren der wahren Meister. Dôgen sagt hierzu:

"Wenn ihr nicht selbst Buddhas oder Nachfolger im Dharma seid, dann seht, hört, lest, rezitiert und versteht ihr den Sinn der Sûtra nicht".

Es hat also keinen Sinn die alten Schriften nur zu lesen oder auswendig zu lernen, wenn man durch die praktischen Übungen und eigenen Erfahrungen nicht intuitiv und ganzheitlich den Sinn erfasst. Dies geht über das nur intellektuelle Begreifen hinaus und eine einseitige Verstandestätigkeit beim Lesen der Sûtra kann nicht nur hinderlich sein sondern das wirkliche Verstehen sogar unmöglich machen oder auch vergiften. Bei richtigem Lesen begleiten uns die Sûtra tagtäglich und steuern sozusagen, was und wie wir hören, sehen, riechen, tasten und was unser Geist erfährt und erlernt. In diesem Sinne sind auch die Berge, Flüsse, Seen, das Meer, die Bäume, die Gräser, die Kiesel usw. alle Sûtra, die uns lehren und mit denen wir im buddhistischen Sinn eine Einheit bilden.
Meister Dôgen führt in diesem Kapitel einige erstaunliche Zen-Geschichten an, in denen große alte Meister gebeten wurden, Lehrreden für die Mönche zu halten, Sûtra auf Bitten von Laien zu lesen oder auch für einen Spender Sûtra zu rezitieren, der dem Kloster Geschenke machte. Es wird berichtet, dass einige Meister in diesen Fällen stumm geblieben sind und z.B. ihr Zazen-Podest einfach ein- oder mehrmals umrunden, um dann zu sagen, dass sie alle Sûtra gelesen und rezitiert hätten. Dies kann man so erklären, dass mit diesen Geschichten deutlich gemacht werden soll, dass Buchstaben, Worte und Sätze allein nicht die Sûtra sind und dass sie in einer bestimmten Situation oder für einen bestimmte Menschen gerade nicht geeignet sind, um die buddhistische Lehre zu übermitteln. In der Tat kann die große Ausstrahlung eines Meisters beim unmittelbaren Handeln oft stärker und klarer sein, als beim Reden, denn dabei sind immer Missverständnisse möglich. Der Verstand ist nur ein bestimmter „Kanal“ zur Übertragung von Lehrinhalten, und kann oft gerade nicht die intuitive ganzheitliche Lehre des Buddha-Dharma übermitteln. Wenn ein Meister sein Podest umrundet, kann man dabei sein Gesicht, seine Gesten, sein Verhalten und seine Ausstrahlung genau beobachten und dies kann wesentlich stärker wirken als das gesprochene Wort. Liebe und Mietgefühl, die im Buddhismus eine so hohe Bedeutung haben, können durch direktes Handeln und direkte Bewegungen vermutlich deutlicher übermittelt werden als gelesene oder rezitierte Texte, denn man kann ja alles denken und sagen, ob es stimmt oder nicht.
Es wird berichtet, dass ein Mönch, der ein hervorragender Kenner des Lotus-Sûtra war, erst durch den großen Meister Daikan Enô den wirklichen Zugang zum Buddhismus fand, als er folgende Belehrung erhielt:

"Wenn der Geist verwirrt ist, dreht sich die Blume des Dharma,
wenn der Geist erwacht ist, dreht ihr selbst die Blume des Dharma,
wie lange ihr auch rezitiert, wenn ihr nicht selbst klar seid,
wird das Sûtra durch seinen Inhalt zum Feind für euch".


Dôgen erklärt, dass es gefährlich ist, wenn man mit vorgefassten Meinungen oder moralischer Selbstgefälligkeit die Sûtra lesen und verstehen will. Man muss über die Ebene von Worten und Texten hinausgehen, um wirklichen Zugang zur Lehre zu finden. Dann gelangen wir zur Freiheit und erwachen, indem „wir selbst die Blume des Dharma drehen“, das heißt wir gestalten unser Leben selbst und werden nicht von den Umständen und Bedingungen hin und her geworfen. Im Zusammenhang mit dem obigen Gedicht wird berichtet, dass der Mönch durch die Verse des Meisters Daikan Enô tief bewegt war, das große Erwachen erlebte und vor Freude herum tanzte. In einem spontanen Gedicht sagt er u. a.:

"Dreitausend Mal (habe ich) das Sûtra rezitiert, durch einen Satz von Daikan Enô ist alles vergessen",

und er fährt fort, dass er die wesentliche Bedeutung des Wortes Sûtra erst jetzt richtig verstanden habe. Er erhält darauf hin von dem Meister den Namen "Der Sûtra lesende Mönch". Aber das Lesen der Sûtra allein ist mit dieser Bezeichnung nicht gemeint, denn die Bedeutung geht darüber hinaus und ist nicht auf Worte und Sätze fixiert oder dass man vorgefasstes Wissen immer wiederholt. S. Suzuki sagt:„Zen-Geist ist Anfänger-Geist“ .
Ein indischer Meister und Lehrer des Buddha-Dharma wurde einmal von einem König zum Essen eingeladen und rezitierte aber nicht ein Sûtra vor der Mahlzeit, wie es sonst allgemein üblich war. Auf die Frage des Königs, warum er es unterlassen habe zu rezitieren, antwortete er, dass sein Ein- und Ausatmen als Handeln das Wesentliche sei und dass ihn dies unabhängig mache von äußeren Umständen und den Begrenzungen von Körper und Geist. Er sagte:

"So rezitiere ich täglich Hunderte, Tausende und Millionen von Sûtra,
so wie sie sind, und nicht nur eines oder zwei".


Mit dem Begriff "Umstände" meinte er u. a. , dass das Denken und Sehen den Körper und Geist einengt. Aber durch das Handeln wird man unabhängig und frei und lebt direkt in der Wirklichkeit, so dass man keine Restriktionen und Begrenzungen hat. Dadurch ist man in der Lage, den wahren Gesetzen des Universum und des Lebens zu folgen und in Harmonie mit ihnen zu leben und zu handeln. Durch das wahre Atmen ist man also im Einklang mit den Gesetzen der Natur und des Universums. Dies kann man auch so bezeichnen, dass man im wahren Sinn die Sûtra rezitiert. Mit dem Ein- und Ausatmen ist man also in der Wirklichkeit selbst und handelt je im gegenwärtigen Augenblick und im Hier und Jetzt. Dadurch macht man sich von den Gegebenheiten des Körpers, des Geistes und der anderen Komponenten des Menschen (Skanda) frei und wird auch nicht durch die äußere Umgebung oder Situation eingeengt und programmiert. Wenn der indische Meister von Hunderten, Tausenden und Millionen von Sûtra spricht, bedeutet das nicht, dass die Sûtra in Zahlen ausgedrückt werden können. Es soll vielmehr heißen, dass es unendlich viele sind und dass sie jenseits der Zählbarkeit liegen. Diese Unfassbarkeit der Wahrheit in den Sûtra wird durch ein einziges Ein- und Ausatmen schon verwirklicht und mit diesem Handeln übersteigt man alles, was mit Geist und Verstand bezeichnet werden kann. Daher sind Begriffe wie die „weise oder unweise Vernunft“ hierfür überhaupt nicht anwendbar, sondern es geht um

"die Praxis und Erfahrung aller Buddhas und Vorfahren im Dharma, es ist ihre Haut, ihr Fleisch, ihre Knochen und ihr Mark, es ist ihr Sehen, Handeln, Denken und Leben und es ist ihr Stock und ihr Hosso (für die Zeremonien). Alles dies springt aus dem Augenblick (wie Funken) hervor.“

In einer anderen Geschichte berichtet Dôgen, dass ein hoher Regierungsbeamter zu einem großen Meister kam und bat alle Sûtra zu rezitieren, nachdem er eine großzügige Spende an das Kloster übergeben hatte. Wir können dabei annehmen, dass der Regierungsbeamte in der Verwaltung viel mit Schriften und ausgeklügelten Argumenten zu tun hatte, dass er also wortgewandt war im Schreiben, Lesen und Zuhören. Dies mag wohl der Grund gewesen sein, dass der Meister sich vor ihm nur verbeugte und ihn einmal um das Zazen-Podest herum führte, um sich dann noch einmal vor ihm zu verbeugen. Der Beamte verstand dies zunächst natürlich nicht, weil er ja darum gebeten hatte, die Sûtra zu rezitieren. Der Meister handelte jedoch praktisch und ohne Worte und wollte den Beamten dadurch aus der Welt der Worte in die menschliche Wirklichkeit zurückführen. Dies war seine Art und Weise den Buddha-Dharma lebendig und unmittelbar zu lehren und dem Beamten damit zu helfen. Natürlich kann man dies nicht verallgemeinern, dass das Rezitieren der Sûtra immer die Bedeutung hat, das Zazen-Podest zu umrunden und dabei stumm zu bleiben. Es kommt immer auf den jeweiligen Menschen und auf die besondere Situation an, wie ein großer Meister handelt. Manchmal ist es das Beste stumm zu bleiben und durch Gesten und Handeln ganzheitlich die große Buddha-Lehre weiter zu geben.
In einer weiteren tiefgründigen Zen-Geschichte wird berichtet, dass ein alter Meister grundsätzlich verboten hatte, Sûtra im Kloster zu lesen, um den Verstand der Mönche nicht unnötig zu beschäftigen und zu "füttern" und sie zum unmittelbaren Handeln und Lernen zu bringen. Ein Mönch sah nun, dass der Meister selbst in einem Sûtra las und fragte daher, wie denn das mit dem allgemeinen Verbot in Einklang stünde, dass man im Kloster keine Sûtra lesen dürfe.
Der Meister antwortete:

"Ich muss nur meine Augen bedecken"
und auf die Frage des Mönchs, ob er dies genauso tun dürfe, antwortete er:
"Wenn du liest, würdest Du (mit deinem Scharfsinn) sogar die Haut eines Ochsen zerlöchern".

Was bedeutet nun diese Geschichte und diese Formulierung? Der Meister will sagen, dass er nicht die sinnliche Wahrnehmung des gewöhnlichen Sehens benutzt und formuliert dies nach altem chinesischem Sprachgebrauch so, dass er seine „Augen bedeckt“. Er überschreitet also das übliche Sehen der gewöhnlichen Menschen. Dadurch wird aber gerade das intuitive Verstehen des Sûtra im eigentlichen Sinn erst ermöglicht, denn es geht über die Buchstaben, Worte und Sätze hinaus und erfasst den wahren Sinn ohne etwas hinzu zu fantasieren und ohne etwas wegzulassen. Nach der Lehre von Nishijima Roshi sind die Ideen und die sinnliche Wahrnehmung nur zwei jeweils begrenzte Lebensphilosophien, die jede für sich oder auch zusammen nicht in der Lage sind, die ganze Wahrheit selbst zu erfahren. Diese ist erst durch Handeln im Hier und Jetzt und mit der umfassenden buddhistischen Lebensphilosophie möglich.
Die sicher eigenartige Formulierung: „Du würdest sogar die Haut eines Ochsen zerlöchern" können wir so deuten, dass der Mönch mit seinem Verstand und Scharfsinn die Wirklichkeit durchlöchert anstatt sie ganzheitlich zu erleben. Der durch Sûtra aktivierte Verstand würde demnach die Wahrheit löchern und sie weitgehend zerstören, anstatt sie zu erkennen und in das eigene Leben als Lernprozess einzubauen.
Dôgen vertieft dann in den folgenden Geschichten seine Deutungen weiter, dass es nämlich wesentlich sei, die alten überlieferten Lehren richtig und nicht vordergründig und oberflächlich zu „verstehen“, soweit dies überhaupt möglich sei. Dabei kommt es weniger darauf an, den Titel eines Sûtra zu kennen und das Sûtra teilweise oder ganz auswendig hersagen zu können, sondern es geht um den umfassenden Sinn und die wahre Bedeutung der Lehren. Daher greift eigentlich der Begriff „Sûtra-Lesen“ zu kurz, denn es geht um ein umfassendes Handeln des ganzen Menschen im Hier und Jetzt. Dôgen sagt, dass man auf dem Weg des Buddha-Dharma in der Tat "tödlichen Schlangen begegnet ", sich also Missverständnisse, vordergründige Erklärungen und alte Vorurteile einschleichen. Diese Gefahren müssen erkannt und vermieden werden
Im weiteren Verlauf des Kapitels beschreibt Dôgen, wie der genaue Ablauf des Sûtra-Lesens in einem Kloster durchzuführen ist, wenn z.B. der Spender anwesend ist. Dies zeigt wie pragmatisch und konkret Dôgen auch die alltäglichen Abläufe im Kloster versteht und übermittelt. Aber es wird auch immer deutlich, dass der formale Verlauf der Zeremonien und Rituale erst in der Einheit mit dem Sinn des Sûtra zur fruchtbaren Wahrheit führen kann.

Dienstag, 28. August 2007

Was ist das große Erwachen oder die Erleuchtung ? (Daigo )


Der Begriff der Erleuchtung oder des Erwachens hat im Buddhismus eine zentrale Bedeutung und meint, dass wir zur Wirklichkeit und Wahrheit gelangen und damit zu einem glücklichen und zufriedenen Leben kommen. Aber der Begriff der Erleuchtung wird vielfach missverstanden und wurde auch immer wieder missbraucht, so dass eine Klärung außerordentlich wichtig ist. Dôgen behandelt im Shôbôgenzô tiefschürfend die Verwirklichung des Menschen in diesem Kapitel "Das große Erwachen" (Kap. 26, Daigo). Dies wird im Allgemeinen als Erleuchtung bezeichnet.
Dogen spricht hier aus seiner eigenen tiefen und ehrlichen Erfahrung und seiner eigenen Sicht. Er macht klar, dass man bei diesem Thema
mit Denken und Theorie allein nicht zum Kern vorstoßen kann,
dass also die Ebene und Lebensphilosophie des Verstandes nur sehr begrenzt dafür geeignet ist. Aber auch eine Lebensphilosophie des Materialismus, also der Wahrnehmung bzw. des Genusses allein ist völlig ungeeignet,

vor allem wenn man glaubt, dass das Glück ohne eigene Anstrengung und von selbst zu uns kommt. Ich möchte hier auch an die Erklärungen zur ersten und zweiten Erleuchtung im Buddhismus von dem großen lebenden Meister Nishijima Roshi erinnern, die auch im Internet zugreifbar sind. Darin wird auch ausgeführt, dass die sogenannte plötzliche und die allmähliche Erleuchtung, die im Zen-Buddhismus bisweilen widerstreitend diskutiert wird, überhaupt nicht im Widerspruch zu einander stehen, sondern nur unterschiedliche zeitliche Sichtweisen kennzeichnen. Für Meister Dôgen steht auch bei der Frage der Erleuchtung vor allem das Handeln je im gegenwärtigen Augenblick im Mittelpunkt. Wie wir wissen, ist es ihm zunächst mit der Theorie des damaligen Buddhismus in Japan nicht gelungen, etwas Ähnliches wie die Erleuchtung selbst zu erfahren. Wir können dabei annehmen, dass er von großer Ehrlichkeit gegenüber sich selbst war und dass ihn dies sicher von manchen so genannten Meistern der damaligen Zeit unterschied. Bekanntlich reiste er dann selbst nach China, wo er durch die Zazen-Praxis das erlebte, was wir mit dem Begriff "Erleuchtung" bezeichnen. Dies ist im Lehrsystem von Nishijima Roshi die umfassende buddhistische Lebensphilosophie der Einheit von Lehre und Praxis, der intuitiven Weisheit und Klarheit im Augenblick und vor allem die Einheit mit Moral und Ethik. Das richtige Handeln erläutert Dôgen in einem gesonderten Kapitel:

"Erzeugt kein Unrecht, sondern tut die vielfältigen Arten des Rechten."

Dôgen fragt aber in diesem Zusammenhang danach, was passiert, wenn man aus dem Zustand des Erwachens wieder heraus fällt und erneut in Täuschungen und Illusionen verfangen ist.
Das große Erwachen ist der Alltag und das tägliche Handeln der Buddhas und Vorfahren im Dharma. Es wird nicht durch eine Theorie des Erwachens erreicht und dass man tiefsinnig darüber nachdenkt, und auch nicht dadurch, dass man es anderen vorspielt. Es ist wichtig, das Erwachen als Vorstellung und Begriff zu vergessen, es loszulassen und klar zu handeln. Genauso wie das aktive Handeln kann es auch sinnvoll sein, etwas geschehen zu lassen und zum Wohle des Ganzen gerade nicht einzugreifen. Dieses Höchste der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist unauflösbar mit der Zazen-Praxis und dem Leben im Alltag verbunden, und diese sprengen sogar den Rahmen der Vorstellung des großen Erwachens und gehen weit darüber hinaus.
Bei den Menschen gibt es große Unterschiede, aber alle verwirklichen das Erwachen durch verdienstvolles Tun je auf ihre eigene Weise und mit ihren eigenen Fähigkeiten. Dieses kann auf natürliches Wissen gegründet sein, wird durch Anstrengung entwickelt, verbindet sich mit der körperlichen Verwirklichung und befreit sich so aus der Sackgasse von Zwängen des Lebens. Andere beschreiten den Weg des Buddha-Dharma eher durch Studium, das aber mit Praxis verbunden wird. Manche haben bereits das tiefe Wissen der Buddhas, das weder angeboren noch erlernt ist und das die Trennung des Ich von den anderen oder von Subjekt und Objekt schon überwunden hat. Es gibt auch Menschen, die eine wunderbare und klare Ausstrahlung haben, ohne dass sie einen Lehrer hatten oder die buddhistischen Schriften studiert haben.
Es ist dabei unsinnig nach klugen und törichten Menschen zu unterscheiden, denn es geht vor allem um das Handeln und nicht um Theorie, Wissen und Bewertung. Daher ist es eventuell auch missverständlich zu sagen, dass ein Mensch dauerhaft erwacht ist oder nicht, weil dies bedeuten würde, dass er sozusagen die unveränderliche Eigenschaft des Erwachens besitzt oder nicht. Im Buddhismus sehen wir die erlangte Wahrheit jedoch nicht wie eine dauernde Eigenschaft eines Menschen, sondern sein wahres Handeln steht im Vordergrund. So ist auch die zunächst eigenartig anmutende Aussage des alten Meisters Rinzai zu verstehen, dass man nicht denken soll, es sei in ganz China schwierig einen Menschen zu finden, der nicht erwacht ist. Er will damit sagen, dass man nicht in theoretisches abstraktes Denken abschweifen sollte. Es wird berichtet, dass abstraktes Denken auch bei ihm selbst zunächst ein großes Hindernis war, zum Wirklichen und Konkreten vorzustoßen. Bekanntlich hat dieser Meister die Koan-Geschichten mit oft paradoxen Fragestellungen entwickelt, um über den denkenden und unterscheidenden Verstand hinaus zu kommen und zum Wesentlichen zu gelangen.
Dôgen zitiert dann einen alten Meister, der die Frage eines Mönches beantwortet, was denn passiert, wenn jemand, der das große Erwachen erfahren hatte, wieder in die Täuschung zurück fällt. Der Meister sagte dazu:

"Ein zerbrochener Spiegel reflektiert nicht mehr, heruntergefallene Blüten können nicht mehr auf den Baum zurückkehren."

Auch in diesem Zitat wird zunächst betont, dass man Erwachen oder Erleuchtung nicht als dauernde Eigenschaft ansehen kann, die man sich erwerben könne und dann sein ganzes Leben lang behält. Vielmehr kann sich dies von einem Augenblick zum anderen ändern und alles wird durch das jeweilige Handeln bestimmt. Wenn der Spiegel einmal zerbrochen ist, macht es auch wenig Sinn, lange darüber nachzudenken, wie schön er im früheren Zustand gewesen ist, als er noch heil war. Denn jetzt in der Gegenwart ist er in zerbrochenem Zustand, alles andere sind nur Erinnerungen und Bewertungen, die im Denken und im Bewusstsein auftauchen, aber denen keine Qualität der Wirklichkeit mehr zukommt. Wenn die Blüten von einem Baum, wie zum Beispiel einem Kirschbaum, heruntergefallen sind, bringt es auch nicht viel, sich traurig oder romantisch vorzustellen, dass sie wieder oben auf den Ästen sitzen, und es ist noch unsinniger, sie dort wieder anheften zu wollen. Die Tatsachen und die Wirklichkeit bestehen je im Hier und Jetzt und haben so ihren eigenen Platz in der Welt und im Universum und zwar genau so, wie sie gegenwärtig da sind; nicht mehr und nicht weniger.
Es macht auch wenig Sinn zu behaupten, im großen Erwachen gäbe es keine Augenblicke der Illusion und Täuschung. Die Klarheit, Reife und Reinheit beim großen Erwachen kann immer noch weiter entwickelt werden und die buddhistische Übungspraxis sollte immer das ganze Leben lang fortgeführt werden. Gerade Gautama Buddha hat betont, dass jeder Mensch die Erleuchtung erlangen kann, ganz gleich, wie tief er in Illusionen, Unklarheiten und falschem Handeln verstrickt ist. Es wird in diesem Zusammenhang sogar berichtet, dass ein ehemals bösartiger Massenmörder sich nach der direkten Begegnung mit Gautama Buddha entschloss, sein Leben vollständig zu ändern, sich der Sangha anschloss und das große Erwachen verwirklichte.
Dôgen fordert uns dann auf, dass wir uns dabei ganz gründlich mit verschiedenen Fragen und Möglichkeiten des Erwachens beschäftigen, z. B. wenn ein Erwachter wieder in die Täuschung zurückfällt. Es könnte sogar sein, dass ein solcher Mensch dadurch um so klarer erkennen kann, was Täuschung ist und anderen umso besser als Lehrer und Therapeut helfen kann, aus Selbstlügen, Verdrängungen und Illusionen heraus zu kommen. Wie häufig vertauschen wir alle in unserem Alltag den äußeren Anschein und die Wirklichkeit! Man kann sogar sagen, dass wir einen Räuber mit einem Kind verwechseln, und sind dann bei dem wirklichen Raub völlig überrascht. Umgekehrt können wir in einem Kind einen Räuber sehen, obgleich dies wahrscheinlich völlig unsinnig ist, weil das Kind rein ist. Wir sollten daran denken, dass sich grausame Diktatoren gern mit Kindern in den Medien abbilden lassen, um dem naiven Betrachter den Eindruck zu vermitteln, dass sie Kinder lieben und genauso harmlos sind wie diese. Nach buddhistischem Verständnis geht auch ein Kind bei umfassender Sichtweise über das weit hinaus, was wir mit dem Begriff „Kind“ bezeichnen. Wir vergessen dabei, dass auch ein Kind mit unserem eigenen Verstand überhaupt nicht vollständig begriffen werden kann. Wenn wir von einem Kind abwertend reden, so kann dies niemals die Lehre des Buddha-Dharma sein.
Ein großer alter Meister wurde gefragt:

"Stützt sich auch ein Mensch des Jetzt auf das Erwachen oder nicht?"
Dieser antwortete:
Das Erwachen existiert zweifellos, aber wie können wir vermeiden, in das (unterscheidende) zweite Denken zu fallen?"

Wenn man ganz im Hier und Jetzt lebt, also in der wirklichen Sein-Zeit, ist man bereits in der Wirklichkeit und Wahrheit angekommen, man ist also erwacht und erlebt die erste Erleuchtung. Man ist dann nicht durch das Denken auf vergangene Zeiten fixiert und verliert sich nicht in Spekulationen über die Zukunft. Das Handeln im Jetzt ist die buddhistische Wirklichkeit und gibt dem Menschen Befreiung und Glück, so wie es Gautama Buddha gelehrt hat. Der Mensch des Jetzt ist also erwacht und sein ganzes Leben, Handeln, Denken, Wahrnehmen und Empfinden ist von diesem Erwachen durchdrungen und baut darauf auf. Die erste Frage der obigen Zen-Geschichte kann also nur mit einem Ja beantwortet werden. Der alte Meister bestätigt dies auch, indem er sagt, dass das Erwachen zweifellos existiert und dass dies für den Menschen des Jetzt auch gilt. Er sieht aber die Gefahr, dass man in das unterscheidende und bewertende Denken zurück fällt und sich damit das Bewusstsein in ein Subjekt und ein Objekt spalten könnte. Oder dass eine Trennung in das Ich und die anderen und in das Ich und das Universum auftaucht. Dies ist im Leben der Menschen so häufig die Ursache für Leiden, Missverständnisse, Empfindlichkeiten, Verletzungen und Aggressionen. Allzu schnell betrachtet man den anderen dann als Feind und unterstellt ihm böse Absichten, die wiederum in der Rückkopplung bei dem anderen negative Reaktionen hervorrufen. Dann bauen sich gegenseitige Aggressionen und Vorwürfe auf und dies steuert bösartiges wechselseitiges Handeln. Das gespaltene Denken, wie es hier ausgedrückt wird, kann also bewirken, dass wir aus dem Erwachen herausfallen, es sei denn, wir erkennen dies in aller Klarheit. Dann können wir uns durch wahres buddhistisches Handeln befreien. Wir entlasten so unseren Geist von den Hemmnissen zur Erleuchtung, also vor allem von der Gier nach sinnlichen Genüssen zu Lasten anderer, vom Übelwollen anderen Menschen gegenüber, von dauernder Zweifelsucht, aufgeregter Hektik, unruhigem Leben usw. Wenn dies nicht gelingt, ist uns wirklich die intuitive buddhistische Weisheit verloren gegangen und wir können nicht mehr unmittelbar moralisch handeln.
Ob wir uns im Handeln und Denken auf das Erwachen stützen, sollen wir nach Dôgen gründlich im Herzen und im Geist prüfen und uns darüber Klarheit verschaffen. Dies geht natürlich nicht ohne eine gewisse Anstrengung und Mühe, satte Bequemlichkeit führt also nicht weiter. Wenn man denkt, das Erwachen kommt von allein, kann man lange warten, denn es wird bestimmt nicht kommen.
Man darf sich das Erwachen jedoch nicht wie ein Ding oder eine Entität vorstellen. Es kommt also nicht irgendwo her oder geht nicht irgendwo hin. Auch die Frage, ob das Erwachen schon vorher vorhanden war oder nicht, ist von völlig untergeordneter Bedeutung und würde nur das Denken unnütz anheizen und zu Spekulationen verführen. Erwachen heißt im Hier und Jetzt erwacht handeln und erwacht denken, erwacht empfinden und aus einem umfassenden Geist heraus und ohne innere Spaltung zu leben. Man könnte es fast als nüchtern und pragmatisch bezeichnen, und dies zeichnet den Buddhismus ja unter anderem aus. Die Frage nach dem ewigen Wesen des Erwachens bringt also nichts und jeder buddhistische Meister warnt uns davor, sich solchen gedanklichen Fantasiegebäuden hinzugeben, wenn es darum geht, Befreiung und Glück zu finden. Aus diesem Geist des Erwachens kann auch das gespaltene dualistische Denken von Ich und Du, von Gut und Böse, von Ich und Universum usw. aufgelöst und zur Harmonie gebracht werden. Dadurch verliert es seinen zerstörenden Einfluss. Auf diese Weise finden das unterscheidende Denken und das gespaltene Bewusstsein in einem erwachten Geist zur Einheit. Dann können auch Gedanken wie

"Ich bin erwacht" oder "Das Erwachen ist zu mir gekommen" verschwinden und sich in Harmonie im Geist zusammenfügen.

Wenn also dieses neue unterscheidende Denken aus dem Erwachen selbst hervorgeht und auf der Grundlage des Erwachens stattfindet, kann man es ohne Frage auch als Erleuchtung bezeichnen. Dann kann ich zum Beispiel ruhig darüber nachdenken, was ich gestern getan habe, ohne dass mein Ich von gestern wie ein anderes Objekt erscheint, das vom jetzigen Ich getrennt ist. Dann kann das Ich von gestern mit dem Jetzt eine harmonische Einheit bilden. Dies alles darf aber nicht nur gedacht werden, sondern muss wesentlich in der Übungspraxis und im Alltag erfahren werden.
Weitere Inormationen:

Sonntag, 26. August 2007

Erzeugt kein Unrecht ! (Shoaku makusa)


Im Shôbôgenzô erläutert Dôgen in diesem wichtigen Kapitel: "Erzeugt kein Unrecht!" (Kap. 10, Shoaku makusa), dass aus buddhistischer Sicht das Unrecht von Natur aus in der Welt gar nicht vorhanden ist, sondern vom Menschen durch unrechtes Handeln erzeugt also hinzu gesetzt ist. Das ist in der Tat verblüffend, denn in den meisten Religionen wird festgelegt, dass das Böse z. B. in Form des Teufels Teil dieser Welt und des Menschen ist und mit Gewalt bekämpft werden muss. Auch der Marxismus lebt nicht zuletzt von der Verdammung des Bösen als einer Art „Urkraft“ der Gesellschaft, die mit allen Mitteln ausgeschaltet werden muss. Genau genommen gibt es aber im Buddhismus das Unrecht als eine Art böse dauerhafte Essenz überhaupt nicht, sondern es gibt nur das unrechte Tun und Handeln der Menschen, das gegen Moral und vor allem gegen die Gesetze des Universums verstößt.
Es wurde schon mehrfach betont, dass Moral und Ethik, also richtiges Handeln, untrennbar mit der buddhistischen Lehre verbunden sind, dass der Buddhismus also keine „wertfreie“ Philosophie oder Theorie ist, sondern die Einheit von Körper, Geist, Handeln und Moral umfasst. Rechtes oder unrechtes Handeln im Hier und Jetzt des Augenblicks und Ortes sind also für den Buddha-Dharma ganz wesentlich, wobei das unrechte Handeln wie betont gerade gegen die Gesetze des Universums und damit gegen Moral verstößt und eigentlich in der Welt von Natur aus überhaupt nicht vorhanden ist. Wenn man also, wie häufig zu beobachten ist, abstrakt und meist empört über das Unrecht in der Welt oder der anderen diskutiert, ist dies viel zu allgemein und bleibt in der Dimension der Theorie und Philosophie. Deshalb kann man auch über Unrecht so gut diskutieren, sich streiten, sich besser fühlen als andere, aber in Wirklichkeit hat man dabei selbst Unrecht getan. Dann hat man eben gerade durch den Streit und die Verletzung des anderen die sozialen Gesetze des Buddhismus verletzt und derartige aggressive Diskussionen verhärten sich oft immer mehr zu einem Kampf mit Worten des einen Ego gegen das andere. Dies kann aber auf keinen Fall der Buddha-Dharma sein.
Ein alter Buddha lehrt:

„Vielfältiges Unrecht nicht zu erzeugen.
Die vielen Arten des Rechten achtungsvoll zu tun.
Macht Herz und Geist auf natürliche Weise rein.
Dies lehren alle Buddhas.“

Bei der Übersetzung der deutschen Fassung von "Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" (Shôbôgenzô) haben Frau Ritsunen Linnebach und ich gründlich überlegt, ob wir die häufig verwendete Fassung "Kein Unrecht tun" verwenden sollen oder nicht. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die präzise Übersetzung aus dem Japanischen eher dem deutschen Begriff "erzeugen" entspricht und dass Dôgen dies auch genau meint. Dadurch kommt besonders klar zum Ausdruck, dass das Unrecht sozusagen künstlich durch die Menschen erzeugt wird und eigentlich von Natur aus gar nicht existiert. Auch wenn man eine andere Übersetzung wählen würde wie: "Enthaltung von dem Übel", so beruht dies auf der Vorstellung, dass das Übel in der bereits Welt vorhanden ist und dass man sich davor in Acht nehmen soll, sich also dessen enthalten soll. Dies will Dôgen aber u. E. nicht sagen.
Die Behauptung, dass man das Unrechte und Übel erst erzeugt und es in der Harmonie des Universums und der Welt sonst gar nicht vorhanden wäre, mag zunächst wirklich überraschen. Wenn wir aber bedenken, dass der Buddhismus grundsätzlich auf das Handeln abstellt, und so dem Handeln die Qualität der Wirklichkeit und Wahrheit gibt, nicht aber einer abstrakten Idee oder gedachten Existenz, dann hat dies für unser Leben wirklich eine ganz große Bedeutung. Danach kommt es einfach darauf an, dass wir nichts Unrechtes tun und dass wir uns in unserem Leben und Handeln den vielen Möglichkeiten, Sinnvolles und Gutes zu tun, mit Sorgfalt und Achtung widmen.
Bisher wurde das aktive eigene Handeln betont. Aber wie Dôgen sagt, geht es auch darum, dass man das rechte Handeln geschehen lässt und das Unrechte nicht zulässt. Also auch ein eher passives Verhalten des Geschehen-Lassens muss bei der Frage des moralisch richtigen Handelns voll einbezogen werden. Mit unrechtem Handeln kommen wir in unserem Leben häufig in Berührung. Dies kann durch Freunde, Verwandte, aber auch Feinde und Konkurrenten geschehen. Damit sagt der Buddhismus in aller Klarheit, dass es moralisch nicht korrekt ist, zuzuschauen und es zuzulassen, wenn andere Unrechtes tun. Ein solches Verhalten kann auch nicht mit dem falsch verstandenen Satz: „Es ist wie es ist“ begründet werden, um sich aus der Verantwortung in der Welt zurückziehen zu können. Weiterhin gibt es nach Dôgen neben dem rechten und unrechten auch neutrales Handeln, das weder Recht noch Unrecht ist.
Da das Unrecht nicht als dauerhafte abstrakte Wirklichkeit besteht, sondern durch Handeln erzeugt oder nicht erzeugt wird, kann dies nur je im gegenwärtigen Augenblick geschehen. Das rechte oder unrechte Handeln existiert also nur im jetzigen Augenblick der Sein-Zeit und nicht auf Dauer. Aus buddhistischer Sicht ist das Unrecht der Vergangenheit, das wir erinnern, dem Unrecht des wirklichen Augenblicks nur ähnlich oder unähnlich, es ist aber nicht dasselbe. Das Gleiche gilt für erwartetes und vorgestelltes Unrecht in der Zukunft. Die Klarheit darüber wird uns durch die buddhistische Praxis, vor allem des Zazen, deutlich. Dôgen sagt hierzu, dass sich damit die Menschen des Buddha-Dharma und der gewöhnlichen Lebenswelt bei der Frage von Recht oder Unrecht mehr unterscheiden, als die Abweichungen innerhalb des Buddhismus selbst. Wie in dem Kapitel Sein-Zeit (Uji) im Shôbôgenzô im Einzelnen behandelt wird, ist die wahre Zeit des Augenblicks untrennbar mit dem Handeln von Recht und Unrecht verbunden.
Wenn man die Worte hört, dass man kein Unrecht erzeugen soll, verändert dies meistens schon das Verhalten und Handeln des Menschen. Wichtig ist, dass die buddhistische Praxis, z. B. des Zazen, hinzu kommt und dass ein moralischer Vorsatz nicht auf das Denken und Reden beschränkt bleibt. Denn die Kraft der Praxis ermöglicht es vor allem, dass wir an Klarheit gewinnen und unser Handeln und Verhalten umstellen. Dann gibt es eine intuitive moralische Klarheit im Augenblick, so dass es unmöglich wird, etwas Unrechtes zu tun. Da wir immer im gegenwärtigen Augenblick handeln, bedeutet dies die Klarheit und Kraft im Jetzt. Dieser Augenblick ist so kurz, dass wir nicht gleichzeitig über Recht und Unrecht reflektieren und handeln können. Indem wir recht handeln, kann sich eine Eigenständigkeit des Unrechten an keinem Ort und zu keinem Zeitpunkt entwickeln, selbst wenn wir in einer Umgebung leben und in eine Situation geraten, in der Unrechtes getan wird, sich also das Unrecht gegenüber dem Handeln verselbstständigt hat. Dann hat sich auch der Gedanke oder die Idee verselbstständigt und beherrscht den Geist. Dôgen drückt dies wie folgt aus:

"Wenn ihr euch mit eurem ganzen Geist und mit eurem ganzen Körper der Praxis (des Zazen) hingebt, verwirklicht sich achtzig oder neunzig Prozent (davon, dass kein Unrecht erzeugt wird) gerade vor diesem Augenblick und im folgenden Augenblick.“

Die Praxis des Zazen verwirklicht sich dabei körperlich und geistig durch das Handeln und es wird vermieden, dass wir unser Selbst verunreinigen. Da bei der buddhistischen Praxis die Einheit mit dem Universum und der Welt besteht und die Abgrenzung und Dualität überwunden wird, kann man sagen, dass wir auch die Berge, Flüsse, die Erde, Sonne, den Mond und die Sterne praktizieren und dass wir sie praktizieren lassen. In diesem Sinne haben die Buddhas und Vorfahren im Dharma die Praxis und Erfahrung niemals verunreinigt und sind dadurch frei und haben sich selbst niemals eingeschränkt. Dies bedeutet:
„Erzeugt kein Unrecht!“.
Das Unrecht ist nach buddhistischer Lehre als Faktum weder existent noch nicht existent, sondern es wird beim Handeln erzeugt. Genauso wenig hat es materielle oder immaterielle Qualität, denn es geht um das Erzeugen im Augenblick als Tun. Dies darf man nicht allgemein abstrakt verstehen, sondern es bedeutet wirklich das reale konkrete Handeln im Hier und Jetzt. Allzu leicht wird das Unrecht beschönigt und verkleinert, aber dies sind Bewertungen des Menschen, die Unklarheiten zur Folge haben. Indem wir bedauern, dass wir etwas Unrechtes getan haben, entwickelt sich die Kraft und das Streben nach dem Richtigen. Wenn man also durch die Übungspraxis Kraft und Klarheit gewonnen hat, ist es überhaupt nicht mehr möglich, willentlich Unrechtes zu erzeugen.
In dem obigen Gedicht heißt es dann, dass wir die vielen Arten des Rechten achtungsvoll tun. Dabei geht es also auch konkret um das Handeln im Augenblick und die Freiheit, die wir dann haben, Gutes und Rechtes zu tun. Denn das Rechte ist nicht unabhängig vom Tun und überhaupt nicht eigenständig vorhanden. Diskussionen darüber, ob das Rechte existiert oder nicht existiert, führen also nicht weiter und erstarren auf einer theoretischen Ebene, die vom Handeln im Alltag und Hier und Jetzt völlig getrennt sein kann. Es ist in der Tat erstaunlich zu sehen, dass Menschen ganz anders handeln, als sie glauben und denken zu handeln, und dass oft theoretische wohlklingende Moral damit verbunden ist, dass das Rechte gerade nicht getan wird. Überhaupt wird manches als Rechtes bezeichnet, was bei genauer Untersuchung des Handelns selbst wirklich nicht als richtiges Handeln bezeichnet werden kann. Dôgen betont an dieser Stelle auch, dass es viele verschiedene Wege gibt, Rechtes zu tun, nämlich die Glaubenspraxis des reinen Landes und die Zazenpraxis, die er selbst so sehr schätzt. Wichtig ist, dass man beim Rechten achtungsvoll handelt, das heißt also, Achtung vor anderen Menschen und vor ihrem Handeln hat. Wie Dôgen an anderer Stelle betont, gilt dies nicht nur für Freunde und Verwandte, sondern auch für Konkurrenten oder Feinde, hat also sowohl einen engen Bezug zum Leben in der Familie und zum Umgang mit Freunden als auch zum Beruf, bei dem häufig Konkurrenzkämpfe und Positionsneid vorherrschen. Auch das achtungsvolle Tun des Rechten vollzieht sich im Augenblick selbst und man kann die Entschuldigung, das Rechte nicht tun zu können, auch nicht auf die Umstände und Situationen abschieben. Was für das aktive Tun gilt, ist auch für das Geschehenlassen wahr, denn man kann Rechtes auch dadurch verwirklichen, dass man etwas geschehen lässt und nicht störend oder egoistisch eingreift und damit Unrecht erzeugt.
Im Gedicht heißt es weiter, dass sich das Herz und der Geist auf natürliche Weise öffnen und diese rein werden, wenn man kein Unrecht erzeugt und das Rechte achtungsvoll tut. Auch diese Aussage darf jedoch nicht in der Theorie und im begrifflichen Denken stecken bleiben, sondern muss erfahren und erforscht werden. Dann kann man lernen, wie Buddhas sein sollen und man verhält sich nicht wie gewöhnliche Menschen, die sich mit dem Leiden durch unrechtes Handeln abfinden und nicht zum rechten Tun vorstoßen. So kann auch im alltäglichen Leben ganz wirklich vermieden werden, das Unrechte zu erzeugen und es kann ermöglicht werden, das Rechte zu tun.

In einer berühmten Zen-Geschichte fragte ein bekannter Dichter einen großen Meister:
"Was ist der große Sinn des Buddha-Dharma?“
Der Meister antwortete:
"Kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun.“
Der Dichter, der auch ein bedeutender Gouverneur war, sagte darauf etwas abfällig:
"Wenn das so ist, kann dies sogar ein dreijähriges Kind sagen."
Der Meister sagte daraufhin:
"Ein dreijähriges Kind kann schon die Wahrheit sagen, aber selbst ein erfahrener Mann von 80 Jahren kann sie nicht konkret verwirklichen."

Der Dichter dankte daraufhin zwar dem Meister mit einer Niederwerfung, aber den tieferen Sinn der Aussage konnte er nicht verinnerlichen. Er war im Übrigen sehr berühmt wegen seiner großen Fähigkeiten als Dichter, und im Kreise der Schriftsteller und Dichter wurde er außerordentlich verehrt. Den tieferen Sinn der Aussage, dass man kein Unrecht erzeugen solle und das Rechte tun solle, konnte er jedoch nur als begriffliche Aussage, also auf der Wort- und Denkebene verstehen. Dies ist auch nicht verwunderlich, weil er ein Mann des Wortes und der Dichtung und nicht des Tuns war. Wesentlich ist jedoch die Praxis und das Handeln und dies unterscheidet sich leider häufig vom Reden und Denken. Seine hohen dichterischen Fähigkeiten hatten offensichtlich für ihn zur Folge, dass er von der buddhistischen Praxis im Zazen und im Alltag noch weit entfernt war. In der Tat ist es leicht zu sagen, was moralisch sinnvoll und richtig ist, nämlich kein Unrecht zu erzeugen und das Rechte zu tun. Es ist richtig, dass bereits ein Kind dies sagen kann, das sprechen gelernt hat und vernünftige Sätze redet. Aber die Verwirklichung eines solchen moralischen Vorsatzes erfordert eine ganz andere Dimension des Lebens, so dass selbst die Erfahrung eines sehr langen Lebens und das notwendige Lernen auf dem Weg des Dharma wohl nicht ausreichen, um dies vollständig zu verwirklichen. Für diese Verwirklichung ist eine intuitive Klarheit und umfassende Kraft des Handelns im Augenblick erforderlich. Dies kann man auch mit Dogen die wunderbaren Ursachen und Wirkungen oder die Buddha-Ursachen und Buddha-Wirkungen nennen. Auf diese Weise kann man sich befreien, indem man nichts Unrechtes erzeugt, selbst wenn in finsteren Zeitaltern das Unrecht immer mehr zunimmt und sich auf der ganzen Welt ausbreitet. Wenn man das Rechte tut, und es gibt viele Arten davon, verwirklichen sich das Wesen, die Form, der Körper und die positive Kraft. Aber selbst ein großer Dichter, der leider im Buddha-Dharma noch nicht weit vorangekommen ist, kann nach der obigen Geschichte eine solche Wahrheit nicht erfassen.
Es sei auch zu fragen, warum das dreijährige Kind überhaupt abgewertet wurde, weil der Dichter sagte, es könne schon eine solche Aussage zum Unrecht formulieren. Er wollte wohl damit sagen, dass das Ganze nicht sinnvoll ist. Dogen bezweifelt an dieser Stelle, dass der Dichter überhaupt weiß, was ein dreijähriges Kind wirklich ist. Denn wenn er es tastsächlich kennen würde, wäre ihm auch der Buddha-Dharma zugänglich. Er sagt hierzu:

"Wer ein Staubkorn wirklich kennt, kennt das ganze Universum und wer einen Dharma wirklich durchdringt, durchdringt die zehntausend Dharma".
Man kann sogar sagen, dass ein Kind sofort nach der Geburt an dem Löwengebrüll der buddhistischen Lehre teilhat und sich auf den Weg des Buddha-Dharma begibt. Dieses Löwengebrüll eines Kindes versteht der Dichter offensichtlich nicht und es scheint so, dass er das Reden des Kindes als kindliches Geplapper abtut. Aber schon ein dreijähriges Kind kann die Wahrheit ausdrücken und dies sollten wir gründlich erforschen und durchdringen. Ob und wann ein erfahrener Mann von 80 Jahren die Wahrheit verwirklicht oder nicht, sollten wir genauso untersuchen. Dabei ist es sinnvoll, dass wir uns nicht von Interpretationen leiten lassen, dass wir nichts wegnehmen und nichts hinzufügen, sondern die Wirklichkeit und damit die Wahrheit so verstehen und erfahren, wie sie sind.

Freitag, 24. August 2007

Der Geist kann mit dem Verstand nicht erfasst werden (Shin fukatoku)




Im Shôbôgenzô gibt es zwei Kapitel mit derselben Bezeichnung: "Der Geist kann nicht erfasst werden" (Kap. 18 u. 19, Shin fukatoku). Beide Kapitel haben so ziemlich den gleichen Inhalt, wobei eines etwas ausführlicher formuliert ist. Dieses möchte ich hier als Grundlage verwenden.
Nach dem gesunden Menschenverstand denken wir, dass es doch selbstverständlich sei, dass jeder Mensch einen Geist besitzt. Dabei haben wir die mehr oder minder klare Vorstellung von einer Art geistigen Kernsubstanz, die in jedem Menschen vorhanden ist. Häufig wird der eigene Geist auch mit dem eigenen Ich gleichgesetzt. Wenn wir uns jedoch genauer fragen, was der Geist des Menschen eigentlich wirklich ist, kommen wir schnell in Schwierigkeiten. Der deutsche idealistische Philosoph Hegel spricht sogar von einem „Weltgeist“, der also noch über den einzelnen Menschen und das Individuum hinausgeht. Was der Geist nun konkret ist, wird dabei allerdings nicht so klar. Auch die Philosophen Kant, Fichte und Schelling setzen einen Geist bei ihren Betrachtungen voraus und bauen ihre philosophischen Systeme entsprechend auf. Dôgen gibt sich mit einer solchen Annahme allerdings nicht zufrieden.
Häufig wird auch das Denken des Menschen mit dem Geist gleichgesetzt, zumindest haben wir sicher meist den Eindruck, dass wir durch das Denken den Geist erkennen und genauer beschreiben können. In der buddhistischen Lehre wird dagegen ganz klar zwischen dem Denken und dem Geist unterschieden. Der Geist geht weit über das Denken hinaus und häufig wird von der Einheit von Körper und Geist gesprochen. Gleichzeitig wird die unterscheidende Abgrenzung gegenüber dem Universum abgelehnt: Geist und Welt bilden eine unauflösbare Einheit. Dôgen stellt daher die Frage, ob der Geist überhaupt wirklich begriffen und erfasst werden kann, er kommt zu dem klaren Schluss dass der Geist nicht vollständig erfasst werden kann.
Meister Dôgen hat wie gesagt zwei Kapitel über den Geist in sein großes Werk, das Shôbôgenzô, aufgenommen, und die belegt auch, wie wichtig und zentral ihm dieses Thema ist. Dôgen bestreitet in aller Entschiedenheit, dass man den Geist überhaupt durch Denken, Theorien und Philosophien beschreiben kann, sondern für ihn steht das Handeln je im gegenwärtigen Augenblick und dem Hier und Jetzt im Mittelpunkt. Er beschreibt, dass dann man dann sozusagen intuitiv erfährt, was der Geist ist. Aber der Geist ist nicht wie ein konkretes Ding zu verstehen, das man identifizieren, erfassen oder anschauen kann. Der Geist ist also kein Objekt oder Subjekt des Denkens und hierin unterscheidet sich die buddhistische Lehre grundsätzlich von der westlichen Philosophie. In der Lehre der vier Lebensphilosohpien von Nishijima Roshi gehört der Geist also nicht zur ersten Ebene des Idealismus und der Ideen sondern zur vierten der umfassenden buddhistischen Praxis und Wahrheit.
Es gibt in der buddhistischen Lehre eine berühmte Geschichte zwischen einem etwas eitlen Gelehrten und einer einfachen Frau, die am Wegesrand Reiskuchen verkauft. Diese Geschichte hat die wesentliche Aussage des Diamantsutra als Grundlage:

"Der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, der gegenwärtige Geist kann nicht erfasst werden und der zukünftige Geist kann nicht erfasst werden".

Um zu erlernen was dieser Satz bedeutet und was es heißt, dass der Geist nicht fassbar ist, seien theoretische Studien nicht ausreichend, da die Lehre des Buddhadharma unauflösbar mit der Praxis und der authentischen Übertragung durch einen wahren Meister verbunden ist.
Dieser Zusammenhang wird durch die obige Geschichte der alten Verkäuferin für Reiskuchen erläutert. Wie gesagt gab es den sehr berühmten Gelehrten, der weit im Lande als der Beste von etwa achthundert wissenschaftlichen Kollegen der damaligen Zeit bekannt war und selbst umfangreiche Kommentare zum Diamantsutra verfasst hatte. Er rühmte sich, dass er jeden einzelnen Satz und jedes einzelne Wort dieses Sutra kannte und vollständig verstanden hatte. Als er erfuhr, dass es im Süden einen großen Meister gäbe, der auch die Wahrheit des Diamantsutra wirklich erfasst hatte, machte er sich auf den Weg, um sich mit ihm zu messen und es sei hinzugefügt, dass alles dafür spricht, dass er sich mit seinem intellektuellen Können sehr wichtig nahm und sich sehr bedeutsam fand. Auf dem Wege begegnete er nun der alten Frau, die auf seine Frage, wer sie eigentlich ist, sagte:

"Ich bin eine alte Frau, die Reiskuchen verkauft".
Der Meister fragte dann:
"Willst du mir einige Reiskuchen verkaufen? "
Die alte Frau stellte aber zunächst die Gegenfrage:
"Weshalb will der Meister einige Reiskuchen kaufen?"
Dieser sagte nicht ohne Stolz:
"Ich möchte Reiskuchen kaufen, um meinen Geist zu stärken".
Der Meister erklärte ihr dann weiter , dass er der „König des Diamant-Sutra“ sei und dass er die entsprechenden Kommentare bei sich hat. Schließlich sagte die alte Frau nach einigem Überlegen:


"Ich hörte einmal, dass im Diamantsutra folgendes geschrieben steht: Der vergangene Geist kann nicht erfasst werden, der gegenwärtige Geist kann nicht erfasst werden und der zukünftige Geist kann nicht erfasst werden. Welchen Geist will der Meister mit meinem Reiskuchen stärken? "


Sie fügte dann hinzu, dass sie ihm nur dann den Reiskuchen verkaufen wolle, wenn er die Frage beantworten könne.
Nach der alten Geschichte wusste der Gelehrte nicht, was er überhaupt sagen sollte, so dass es ihm tatsächlich die Sprache verschlug. Er bekam daher auch nicht den Reiskuchen von der alten Frau und empfand das Ganze als bittere Niederlage. Allerdings setzte er dann seine Reise zu dem großen Meister fort, wurde sein Schüler und erhielt schließlich die Dharma-Übertragung und Bestätigung als buddhistischer Meister, weil er seine bisherige rein theoretische Sicht überwunden hatte und die Praxis von Körper und Geist erlernte und damit Zugang zum wahren Inhalt des Diamantsutra gefunden hatte.
Was bedeutet nun die Aussage, dass der Geist nicht erfasst werden kann? Dôgen lehnt zunächst die Vorstellung ab, dass es überhaupt keinen Geist gäbe und dass man ihn allein deswegen nicht erfassen könne. Er lehnt auch den Gedanken ab, dass der Geist jedem einzelnen Menschen auf natürliche Weise schon immer innewohnt und daher nicht erfasst werden könne. Diese beiden Meinungen entspringen theoretischem Denken des Verstandes und kommen dem Buddha-Dharma überhaupt nicht nahe. Aber es sei auch nicht klar bei der obigen Geschichte, ob die alte Frau, die häufig von den Schülern so hoch gelobt wird, wirklich in der Wahrheit des Buddha-Dharma gewesen ist. Dann hätte nämlich der Gelehrte sie unbedingt befragen müssen, so dass sie ihrerseits zeigen musste, wie sie diese Aussage des Diamantsutra versteht. Das war aber nicht geschehen und Dôgen sagt, dass eine solche Frage auch nur jemand stellen kann, der

"das strahlende Licht und die klare Erscheinung eines ewigen Buddha hat".

Dabei müsse es zu einem buddhistischen Handeln des

Aufgreifens und wieder Loslassens“

kommen und man dürfe sich weder auf die eine noch auf die andere Idee und Antwort versteifen und daran festhalten.
Wie in dem Kapitel „Sein-Zeit des Hier und Jetzt“ behandelt wird, gibt es im Buddhismus eine unauflösbare Einheit der Wirklichkeit und Wahrheit einerseits mit der Zeit andererseits. Geist und Zeit sind daher ohne jeden Abstand und ohne jede Unterscheidung, so dass "kein Haar dazwischen passt". Unterscheidendes Denken basiert immer auf der Verstandestätigkeit, und kann daher nur die gedankliche und theoretische Teilsicht der Wirklichkeit und Wahrheit vermitteln. Die Gedanken und Ideen des Menschen sind damit auch nur ein kleiner Teil des Geistes und dürfen nicht mit ihm verwechselt werden. So kommen wir mit Dôgen zu einer ersten wesentlichen Aussage: Der Geist umfasst das ganze Leben und Sterben und Kommen und Gehen, ist also das Handeln und das Leben selbst. Diese totale Wirklichkeit kann nicht erfasst werden, sondern es gibt nur einen intuitiven Zugang je in der Gegenwart im Hier und Jetzt im tätigen Handeln. Damit verschiebt sich die Frage, ob man den Geist erfassen kann oder nicht dahin, dass die umfassende Wirklichkeit des Hier und Jetzt nicht begriffen und schon gar nicht mit dem Verstand gedacht werden kann.
Diese Wirklichkeit umfasst auch die Lehre des Buddhismus, und außerdem die konkreten Gegebenheiten und Dinge wie Mauern, Zäune, Ziegel und Kieselsteine. Dann ist diese Wirklichkeit also ganz konkret, vielfältig und Teil unseres Alltags. Der Geist offenbart sich also in der Wirklichkeit, der buddhistischen Praxis und im Alltag, ist aber nichts Dauerhaftes oder Statisches und bleibt nicht irgendwo konstant im Zeitablauf.
Das Denken über den Geist kann also verglichen werden mit dem Abbild des Reiskuchens, und dieses Bild kann man bekanntlich nicht essen, es ist sozusagen nur ein vereinfachtes Modell der Wirklichkeit und daher von bestimmtem Nutzen, weil man dieses „Modell“ ja nicht essen kann, um seinen Hunger zu stillen und sich zu ernähren. Bei der obigen Geschichte kann man also feststellen, dass der Gelehrte zunächst nur die Theorie kannte, also nur das Abbild oder Modell der Wirklichkeit erfasst hatte und erst durch das Lernen unter einem wahren buddhistischen Meister zur Wirklichkeit, Wahrheit und Freiheit vorgestoßen ist. Erst dadurch wurde er von einem Gelehrten zu einem buddhistischen Lehrer und Meister, der wiederum den Buddhadharma für andere lehren konnte.
Im Shôbôgenzô wird dann ein zweites Beispiel einer berühmten Begebenheit berichtet, bei der ein indischer Gelehrter nach China kam und von sich behauptete, dass er den Geist anderer erkennen kann. Der große Meister Daisho sollte dies auf Bitten des Kaisers der damaligen Tang-Dynastie prüfen und stellte dem Gelehrten die scheinbar einfache Frage:

"Sage mir wo bin ich, der alte Mönch, jetzt?"
Der Gelehrte antwortete darauf:
"Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes, warum seid ihr zum Westfluss gegangen, um ein Bootsrennen anzusehen?“
Da der Meister mit dieser Antwort überhaupt nicht zufrieden war, wiederholte er seine Frage und erhielt darauf die Antwort des Gelehrten:
"Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes, warum seid ihr auf die Tianjin-Brücke gegangen, um (jemanden) zu beobachten, der mit einem Affen spielt?"
Da dem großen Meister Daishu dies ebenfalls keineswegs befriedigte, wiederholte er seine Frage noch einmal und erhielt dann aber überhaupt keine Antwort mehr. Daraufhin kritisierte er den Gelehrten:

"Du (hast) den Geist eines wilden Fuchses, wo bleibt deine Fähigkeit, den Geist anderer zu erkennen"?

Auch bei dieser doch recht harschen Kritik blieb der indische Gelehrte sprachlos, weil er offensichtlich auf der Ebene des großen Meister überhaupt nicht in der Lage war, ein Gespräch im Sinne des Buddhadharma zu führen. Wenn man die beiden Antworten bedenkt, muss man in der Tat feststellen, dass sie doch recht platt und einfach sind und nur materielle und durch die Wahrnehmung direkt erkennbare äußere Tatsachen umfassen. Der Gelehrte konnte also den Geist des großen Meisters nicht erkennen, wie es vorher ausgemacht war. Es erwies sich also ganz klar, dass der Gelehrte keineswegs in der Lage war, den Geist des Meisters zu erkennen, wie er vorher behauptet hatte. Dôgen macht darüber hinaus deutlich, dass er noch nicht einmal in der Lage war, die Gedanken des anderen zu lesen, die doch im allgemeinen recht konkret sind und oft im direkten Kontakt in einer bestimmten Umgebung und einem bestimmten Zusammenhang einfach erraten werden können. Wie viel schwieriger sei es, den Geist eines anderen zu erkennen und zumal den Geist eines großen Meisters wie des Daishu. Gelehrtes Wissen und die Beherrschung mehrerer Sprachen haben also wenig damit zu tun, dass man den Geist von anderen oder sich selbst erkennen kann. Nach dem Diamant-Sutra gibt es hier grundsätzliche Grenzen, denn "der Geist kann nicht mit dem Verstand erfasst werden". Den Geist darf man auch nicht mit der Tianjin-Brücke oder dem Westfluss verwechseln, denn zunächst sind dies Objekte der Beobachtung und haben mit dem Geist des Meisters wenig zu tun. Dôgen betont, dass man den Körper und Geist der buddhistischen Lehre erkennen, bewahren und weitergeben kann, wenn man theoretische und praktische Übungen der Buddhawahrheit verbindet und er meint damit vor allem, dass man regelmäßig Zazen praktiziert. Die Unfähigkeit des indischen Gelehrten zeigt sich schon durch seine ersten beiden wenig treffenden Antworten, und weiterhin darin, dass er bei der dritten genau gleichlautenden Frage überhaupt nicht mehr antworten konnte. Trotz seines großen Wissens und seiner Gelehrsamkeit wurde er sprachlos und konnte sich auch nicht gegen die doch recht harsche Kritik des Meisters verwahren. Es sei aber vor allem zu bedauern, dass er die Chance nicht erkannte, bei einem wahren Meister zu lernen. Denn wie häufig begegnet man einem wahren Meister, dem der Buddha- Dharma authentisch übermittelt wurde und der ihn auch authentisch weitergeben kann. Darin liegt auch der grundsätzliche Unterschied bei den beiden Gelehrten in diesem Kapitel: Der erste lernte aus seinem Misserfolg bei der alten Frau, während der zweite beschränkt wie vorher weiter lebte und nicht einmal seine Lernchance erkannte.

Mittwoch, 22. August 2007

Sich waschen und den Körper-Geist reinigen (Senjô)


Im Buddhismus bilden Körper und Geist immer eine Einheit, so dass die im Westen häufig anzutreffende oft sehr grundsätzliche Unterscheidung zwischen beiden nicht besteht. Wenn man sich also körperlich wäscht und reinigt, ist dies im Buddha-Dharma auch gleichzeitig eine geistige und religiöse Handlung, so dass geistige Reinheit auch immer bedeutet, dass man den Körper rein hält.

Kleiner Wasserfall in Kyoto

Dôgen beschreibt in diesem Kapitel (Kap. 7, Senjô) des Shôbôgenzô sehr genau, wie man sich waschen und reinigen soll.
In einem berühmten Dialog zweier alter Meister geht es um diese Reinheit von Körper und Geist, dass man also immer so lebt und handelt, man nicht beschmutzt und verunreinigt ist. In dem Gespräch fragt der ältere Meister Daikan Enô seinen Schüler, der ebenfalls Meister ist:

"Stützt du dich auf die Praxis und Erfahrung oder nicht?"

Dieser antwortet darauf, dass die Praxis und Erfahrung nicht als Wahrheit verwirklicht werden kann, wenn nicht der Zustand der Reinheit besteht. Somit müssen Praxis, Erfahrung und Reinheit, also sowohl körperliche als auch geistige und moralische Sauberkeit zusammen kommen, damit Wirklichkeit und Wahrheit erlangt werden. Dies ist in der Tat bemerkenswert und unterscheidet sich von den westlichen Philosophien des Idealismus, in dem zwar moralische Reinheit angestrebt wird, aber häufig die Praxis des Lebens und sein körperlicher Bereich vernachlässigt werden. Auch die Philosophie des Materialismus, die ganz auf die Körperlichkeit abzielt, kann in diesem Licht nur als unzureichende und einseitige Lebensphilosophie gekennzeichnet werden, da sie als einseitige Theorie weder die Wirklichkeit ausgewogen einbezieht noch Ethik und Moral ausreichend berücksichtigt. Kennzeichnend dafür ist z. B. der alte Werbeslogan für Zigaretten: “Genuss ohne Reue“.
In dem obigen Gespräch unterstreicht daher der Meister Daikan Enô auch:

„Gerade diese Reinheit ist es, welche die Buddhas immer bewahrt und beherzigt haben. Du bist auch so, ich bin so und die alten Meister in Indien waren ebenso“.

Wie erwähnt, geht es in diesem Kapitel auf der Grundlage dieses bekannten Gesprächs der großen alten Meister darum, wie man den Körper mit Sorgfalt und ohne Hektik wäscht und säubert, und dies gilt gleichzeitig auch für den Geist und die Moral des Menschen.
Für den Westen erscheint es schon etwas verwunderlich, dass Dôgen sich in diesem Kapitel vor allem darauf bezieht, wie man die damalige Toilette benutzt und sich danach mit den damaligen Mitteln gründlich reinigt. Dôgen erwähnt z. B., dass man sich die Nägel schneiden soll und dass sich die Mönche im Kloster die Haare scheren und rasieren sollen. Eine solche Reinigung nach dem Stuhlgang auf der Toilette säubert nach seinem Verständnis damit zugleich den Geist und das Land, denn im Buddhismus gibt es auch keine Trennung zwischen dem einzelnen Menschen und dem Land, in dem er lebt. Ein solches Handeln wird als Übungspraxis des Dharma-Weges beschrieben, wird also keineswegs aus dem Leben des Buddha-Dharma ausgeschlossen, sondern ist untrennbarer Teil davon. Bei der Entleerung von Darm und Blase handelt es sich demnach um einen Vorgang und eine gute Handlung, bei denen man sich säubert und reinigt. Dabei solle man den Wunsch haben, dass auch andere Lebewesen und Menschen sauber und rein werden. Dôgen erwähnt an dieser Stelle das Beispiel des Wassers, das von Natur aus und ursprünglich weder rein noch verschmutzt ist. Das gleiche kann man für den menschlichen Körper und für alle Dharmas, also für die gesamte Welt, sagen: Das Wasser hat dabei keine Gefühle der Abneigung oder des Ekels und dies sollte auch für uns selbst und alle Dharmas gelten. Auch die Entleerung unserer Abfallstoffe nach der Verdauung ist eigentlich nur eine einfache Tatsache, zu denen wir unsere Gefühle des Ekels selbst hinzusetzen, und diese sind eigentlich weder vorhanden und auch nicht nötig. Die Wirklichkeit ist Handeln beim Waschen und Reinigen, wie Dôgen dies immer wieder heraus arbeitet. Die Verrichtung auf der Toilette wird nicht ausgeklammert oder "schamvoll" verschwiegen, sondern wird als natürlicher Teil des Lebens einbezogen. Durch das Waschen und Reinigen ergibt sich dann ein besonders enger Bezug zum Handeln selbst und dies wird als Übungspraxis des Buddha-Dharma beschrieben.
Meister Dôgen verurteilt die Mönche, die ungepflegt sind, viel zu lange Nägel und Haare haben und das Gebot der Reinheit nicht beachten. Er vergleicht solche Menschen sogar mit Tieren und hält sie auf keinen Fall für Buddhisten auf dem Weg der Übungspraxis. Besonders falsch ist aus seiner Sicht eine solche Nachlässigkeit, Willkür und Ungepflegtheit, wenn es sich um selbst ernannte Meister handelt. Er spricht diesen grundsätzlich ab, Meister und Lehrer für andere sein zu können. Da Körper und Geist eine Einheit sind, kann es danach keinen reinen Geist geben, wenn der Körper vernachlässigt und verschmutzt ist.
Dôgen beschreibt dann im Folgenden sehr genau, wie man sich auf der Toilette verhalten soll und dass man auch dort in Ruhe und Sorgfalt handelt. Bemerkenswert ist zum Beispiel, dass er dringend rät, rechtzeitig und nicht im letzten Augenblick zur Toilette zu gehen, um keine unnötige Hektik zu erzeugen und alles in Ruhe verrichten zu können. Man sollte auch kein Wasser verspritzen und es unbedingt vermeiden, die Toilette selbst zu verunreinigen. Schließlich sollte man die Hände an wohlriechendem Holz reiben, so dass sich ein natürlicher angenehmer Duft verbreitet. Dôgen sagt weiter:

"Die Menschen mit begrenztem Wissen denken nicht, dass Buddhas sich in der Toilette würdevoll verhalten".

Auf keinen Fall sollte man ungereinigt und ungewaschen Zazen praktizieren, sich in einem solchen Zustand vor den drei Kostbarkeiten verbeugen und Räucherstäbchen anzuzünden.
Schließlich beschreibt Dôgen sehr genau, wo sich die Toiletten auf dem Gelände eines Klosters befinden sollten und gibt damit genaue Anweisung für dessen Architektur und Betrieb. Er sagt, dass die Toiletten nicht im Osten oder Norden, sondern im Süden oder Westen der Gebäude liegen sollten.

Weitere Informationen:

Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Philosophische Grundlagen

Tägliches Leben in der Dogen-Sangha

Samstag, 18. August 2007

Tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung (Shinjin-inga)

In diesem Kapitel (Kap. 89, Shinjin-inga)beschreibt Meister Dôgen sein tiefes Vertrauen in das Gesetz von Ursache und Wirkung im Buddhismus, das nicht nur für die materielle oder wie wir heute sagen würden, die naturwissenschaftliche Sicht der Welt gilt, sondern darüber hinaus ganz allgemein eine umfassende Gültigkeit im Buddhismus und nicht zuletzt für Moral und Ethik hat.


Tempel Tokein in Shizuoka

Es gab und gibt immer wieder buddhistische Gruppen, die mit unterschiedlichen Begründungen das Gesetz von Ursache und Wirkung entweder ganz leugnen oder zumindest als unwichtig erklären. Es handelt sich dabei meist um spitzfindige Beweisführungen, z. B. mit dem falsch verstandenen Begriff der "Leerheit" im Mahayana-Buddhismus oder auch mit einem einseitig verstandenen Zeitbegriff des Augenblicks. Dann wird eine zeitliche Beziehung von Ursache und Wirkung abgelehnt, indem die einzelnen Augenblicke der Zeit vollständig gegeneinander abgrenzt werden und geleugnet wird, dass es auch eine Verbindung von der Vergangenheit zur Gegenwart und weiter in die Zukunft gibt. Das Gesetz von Ursache und Wirkung gründet sich auf die unmittelbare Erfahrung des Lebens und des Universums, ist also keine philosophische Spekulation, sondern beschreibt die Wirklichkeit selbst.
Wie schon erwähnt, verwendet die moderne Naturwissenschaft und Technik, die zweifellos eine wirklich große Kulturleistung des Westens ist und inzwischen die ganze Welt erfasst hat, gerade die Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung. Dies ist nach der Lehre des Buddha-Dharma von Nishijima Roshi die zweite Lebensphilosophie oder Lebensdimension, die alle materiellen, formgebundenen, farbbezogenen und sonstigen Merkmale der sinnlichen Wahrnehmung umfasst. Für diesen Bereich wird also kaum jemand das Gesetz von Ursache und Wirkung infrage stellen. Jede Planung und jedes pragmatische Vorgehen im Alltag hat zweifellos die Logik von Ursache und Wirkung zur Grundlage, auch dies ist sicher unbestritten. Ähnliches gilt für alle Lernprozesse, die gerade im Zen-Buddhismus so sehr geschätzt werden. Auf den scheinbaren Widerspruch zur buddhistischen Sein-Zeit des Hier und Jetzt soll noch in einem gesonderten Beitrag eingegangen werden.
Wie steht es nun mit moralischen und ethischen Fragen und dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung? Hier wird häufig die unauflösbare Beziehung von Ursache und Wirkung abgelehnt oder übergangen, es wird also von den guten oder schlechten Taten und den entsprechenden Rückwirkungen auf den Verursacher abgesehen. Beim sog. gesunden Menschenverstand wird nicht zuletzt in der gegenwärtigen Zeit sogar oft behauptet, dass Verbrecher ungeschoren davonkommen, wenn sie nur geschickt sind, ihre unmoralischen Handlungen verbergen können und diese nicht aufgedeckt werden. Sie haben also nur Vorteile von ihrem Verhalten. Wenn das so in Ordnung wäre, würde damit in der Tat das Gesetz von Ursache und Wirkung außer Kraft gesetzt. Nach der buddhistischen Lehre, die Meister Dôgen hier in aller Klarheit beschreibt, ist dies jedoch völlig falsch. Es mag allerdings sein, dass die negativen Wirkung von unmoralischem Handeln nicht sofort einsetzt, sondern verzögert auftritt. Nach Ursache und Wirkung bestraft sich nämlich ein Handelnder durch seine schlechten moralischen Taten früher oder später zweifellos selbst und die Wirkung seines Handelns schlägt wie bei einem Bumerang genau dort wieder ein, von wo sie ausgegangen ist.
Meister Dôgen erläutert das Gesetz von Ursache und Wirkung anhand des alten chinesischen Gleichnisses eines alten Meisters, der bei seiner eigenen früheren Lehrtätigkeit gegenüber seinen Schülern das Gesetz von Ursache und Wirkung abgestritten hatte. In dieser Geschichte heißt es, dass immer ein alter Mann, der nicht zu den Mönchen des Klosters gehörte, bei den Dharma-Reden des zuständigen Zen-Meisters anwesend war. Eines Tages erzählte dieser alte Mann dem Meister nun, dass er viele Wiedergeburten als wilder Fuchs erleben musste, weil er zu seiner eigenen Zeit als Meister gelehrt hatte, dass man bei

"der großen Praxis des Buddha-Dharma nicht unter das Gesetz von Ursache und Wirkung fällt“,

also davon unabhängig sei. Wegen dieser Irrlehre müsse er nun immer wieder als Fuchs geboren werden, denn das Gesetz von Ursache und Wirkung, dies sei ihm jetzt völlig klar, dulde keine Ausnahme und sei immer gültig. Auf die entsprechende Frage des alten Mannes an den Meister, ob das Gesetz wirklich gültig sei, hatte dieser wörtlich geantwortet:

"Sei nicht unklar über Ursache und Wirkung".

Der alte Mann bat dann darum, dass der Meister und die Mönche für ihn eine ordentliche Beerdigungszeremonie abhalten sollten, damit er endlich erlöst werden könne Dies wurde ihm vom Meister auch zugesagt. Am nächsten Tag wurde hinter dem Kloster ein toter wilder Fuchs gefunden, der dann entsprechend den Beerdigungszeremonien eingeäschert wurde. Damit war der alte Mann erlöst. Was bedeutet dieses Gleichnis nun und wie interpretiert es Dôgen?
Dieses Gleichnis wurde in der Geschichte des Zen-Buddhismus von verschiedenen großen Meistern gedeutet und vertieft behandelt. Dabei ergab sich vor allem die Notwendigkeit, den Satz: " Sei nicht unklar über Ursache und Wirkung" zu erklären und zu kommentieren. Manche waren z. B. der Meinung, dass damit die Aufhebung und nicht die Bestätigung des buddhistischen Gesetzes von Ursache und Wirkung gemeint sei. Dôgen macht aber ganz deutlich, dass dieser Satz unmissverständlich Klarheit schafft, dass es überhaupt keine Ausnahme in diesem Gesetz gibt, und zwar, wie er sagt, nicht von einem Hundertstel oder einem Tausendstel. Daher solle ein Buddhist ein unerschütterliches Vertrauen in Ursache und Wirkung haben.
Ein alter großer indischer Meister machte in diesem Zusammenhang deutlich, dass es für das Gesetz von Ursache und Wirkung drei verschiedene Zeitenspannen gibt, die beachtet werden müssen. Z. B. werde häufig behauptet, dass ein gewalttätiger und aggressiver Mensch lange lebt während ein moralisch guter Mensch schon bald sterben müsse und daher das Gesetz von Ursache und Wirkung nicht gelten könne. Dieses sei aber nicht richtig, denn die Wirkung folgt manchmal nicht sofort, sondern mit Sicherheit dann mittel- oder langfristig. Dôgen betont anschließend, dass wir besonders in dem Fall dieses Gesetzes bei der Übernahme der Lehren und Lebensweisen der alten Meister nicht nachlässig sein sollen, sondern im Gegenteil, uns anstrengen sollen, ihrem guten Beispiel zu folgen. Es sei ganz besonders bedauerlich, wenn buddhistische Lehrer oder gar Meister die falsche Lehre an ihre Schüler übermitteln, dass es Ausnahmen von
Ursache und Wirkung gibt. Sie würden damit einen nicht wieder gut zu machenden Schaden anrichten und viele Schüler in die Irre führen.
Besonders würden sich oft bestimmte Zen-Buddhisten, die nicht an die Wiedergeburt glauben, von diesem Gesetz abwenden, da es für dieses eine überschaubare Leben nicht anwendbar sei. Sie beziehen sich dabei auf die Geschichte des wilden Fuchses, der immer wieder in dieser Tierform wiedergeboren worden sei. Da sie aber nicht an die Wiedergeburt glauben , sondern nur an den gegenwärtigen Augenblick kann dieses Gesetz nicht richtig sein! Dôgen lässt diese Begründung überhaupt nicht gelten und unterstreicht noch einmal den Grundsatz, dass wir mit Sicherheit eine bestimmte Wirkung erfahren, wenn eine bestimmte Ursache in Gang gesetzt worden ist.
Dôgen zitiert dann im Folgenden den großen indischen Meister Nagarjuna, der ganz allgemein sagt, dass es ohne das Gesetz von Ursache und Wirkung überhaupt keine Zukunft geben kann und dass die gesamte buddhistische Lehre des Erwachens und der Überwinden des Leidens ohne dieses Gesetz zerstört würde.

Wir könnten dann der Gier nach Profit, Ruhm und Macht sowie der Beschränktheit des Geistes nicht entkommen, und diese Gier ist in der Tat die Ursache für so vieles Unrecht und Leid auf dieser Welt.

Dadurch gäbe es nach Nagârjuna überhaupt keine richtige Gegenwart, die erst den jetzigen Augenblick des Handelns, der Wirklichkeit und Wahrheit offenbart. Meister Nagarjuna geht dabei auf verschiedene spirituelle und materialistische Lehren seiner Zeit ein, die nach seiner Erfahrung in die Irre führten und sich in bezeichnender Weise auf die Ablehnung des Gesetzes von Ursache und Wirkung stützten und dadurch ihre zweifelhafte Nahrung erhielten. Es sei daher notwendig, selbst durch die Übungspraxis diese Wahrheit zu erfahren und gute Lehrer auf dem Weg des Buddha-Dharma zu finden.
Der Begriff der Leerheit (shunyata) dürfe auf keinen Fall dazu führen, dass man das große Gesetz von Ursache und Wirkung ablehnt oder nur auf die leichte Schulter nimmt, denn man würde, wie ein alter Meister sagt,

"in einem Morast der Nachlässigkeit"

versinken und Unglück und Fehler gewaltig anziehen. Wenn man das eigene Handeln und Denken genau und unverstellt betrachtet, braucht man in der Tat viel Mut und einen festen Willen, um sich selbst ungeschminkt zu sehen. Nur all zu leicht macht man sich selbst was vor, beschönigt das eigene Handeln und entwickelt eine subjektive Sichtweise zu Lasten der anderen und meint dann, dies sei die objektive Wahrheit. Dies ist aber nur eine subjektive „Wahrheit“, die psychologisch das eigene Ego schützen und erhöhen soll. Dies bestätigen auch Psychologen in aller Klarheit. Man findet ein solches Verhalten natürlich auch in bestimmten buddhistischen Gruppen, wo das Gesetz von Ursache und Wirkung ebenfalls deformiert wird, um sich selbst aufzuwerten, indem andere entsprechen abgewertet werden. Dies gibt es meist in der Lebensphilosophie der Ideen und des Denkens, wie Nishijima häufig betont. Die moralischen Fehler der anderen werden also von uns Menschen meist besonders klar gesehen und auch vergrößert, um dadurch das eigene Denken und Handeln gerade moralisch aufzuwerten. Dies führt natürlich auf dem Weg des Buddha-Dharma nicht weiter.
Dôgen beklagt am Ende dieses Kapitels, dass es bei vielen Meistern und Kommentatoren wirklich an Klarheit fehlt, wenn es um das Gesetz von Ursache und Wirkung geht. Er sagt:

"Wenn man die Praxis des Buddha-Dharma lernt, ist von höchster Priorität, das Gesetz von Ursache und Wirkung zu klären".

Wer diesen Zusammenhang leugnet, erzeuge sehr wahrscheinlich eine falsche Sichtweise, die nach Vorteil und Profit strebt und die guten Wurzeln des eigenen Lebens zerschneidet. Ursache und Wirkung unterliegen nicht der Willkür eines Menschen und sind nicht beliebig zu manipulieren. Es ist ein Gesetz von lebendiger Klarheit: Menschen, die Schlechtes begehen, sinken, und die Gutes praktizieren, steigen auf. Dies gilt ohne Ausnahme und ohne eine Abweichung von einem Hundertstel oder einem Tausendstel. Ohne das Gesetz von Ursache und Wirkung wäre es unmöglich, dass die Menschen überhaupt dem Buddha begegnen und den Dharma hören. Wenn man Ursache und Wirkung ablehnt oder vernachlässigt, wird das Gift dieser falschen Sichtweise in der Tat wirksam sein. Daher ist die Klarheit über Ursache und Wirkung so außerordentlich wichtig und steht am Anfang auf dem Buddha-Weg.

Weitere Informationen:

Das Gesetz von Ursache und Wirkung

Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Ratschläge für das Streben nach der Wahrheit (Gakudo-yojin-shu) von Meister Dogen

Donnerstag, 16. August 2007

Was bedeutet der ewige Spiegel als Symbol der intuitiven Weisheit im Buddhismus? (Kokyô)


Im Shôbôgenzô wird in dem tiefgründigen und poetischen Kapitel "Der ewige Spiegel" (Kap. 20, Kokyô) vor allem durch berühmte Geschichten und Gleichnisse des Zen-Buddhismus ein ganzwesentlicher Bereich der buddhistischen Lehre ausgebreitet und erläutert.



Teich im Kloster von Kamakura

Schon lange vor dem Eintreffen des Buddhismus in Ostasien wurden den Spiegeln in Indien und in China ganz besondere Eigenschaften zugeschrieben und sie dienten als wichtige Gleichnisse. Sie sind Symbole der intuitiven und umfassenden Weisheit und des reinen Geistes der Menschen und sogar allgemein der Lebewesen. Dieser intuitive Geist überschreitet den kalkulierenden Verstand und die Intelligenz bei Weitem, die im Westen so sehr verehrt werden und auch so großartige Leistungen erbracht haben. Aber eine solche übertriebene Theorie des Verstandes ist einseitig und auch etwas lebensfremd.
Die damaligen Spiegel wurden in einem aufwendigen Arbeitsprozess hergestellt, indem zunächst eine dünne Platte aus Messing oder Bronze gegossen wurde, die dann in mehreren immer feiner werdenden Arbeitsgängen spiegelblank poliert werden musste, bis alle Unebenheiten verschwunden waren und man sich selbst im Spiegel selbst sehen konnte, was damals auf andere Weise kaum möglich war. Diesen Spiegeln wurde oft auch magische Kraft zugewiesen, um zum Beispiel die Vergangenheit und Gegenwart in aller Klarheit zu erkennen und dem Kaiser die nötige Weisheit zur Führung des Landes zu geben.
Dôgen beschreibt zunächst einen frühen buddhistischen indischen Meister, von dem gesagt wurde, dass er seit der Geburt einen Spiegel mit sich führt, der ihn bei allen Handlungen und Bewegungen des Tages und auch in der Nacht begleitet und als Symbol für die große intuitive Weisheit gilt, die bereits ein Kind haben kann. Anhand dieses Gleichnisses will Dôgen uns erklären, dass die intuitive Weisheit des Spiegels nicht angelerntes Wissen ist, und auch nicht intellektuelle Kombinationsfähigkeit, denn Kinder haben diese beiden Fähigkeiten noch gar nicht. Wer Kinder genau beobachtet ist in der Tat immer wieder erstaunt, wie verständig und offen sie für alles Neue sind und dass eine Überheblichkeit der Erwachsenen völlig unangebracht ist. Durch diesen Spiegel konnte der indische Meister als Kind die Gegenwart und die Vergangenheit vollkommen klar und transparent erkennen und, wie es immer in diesen Geschichten heißt, zeigt sich im Spiegel alles ohne jede Verzerrung, also ohne etwas wegzulassen und ohne etwas hinzu zu fantasieren. Diese intuitive klare Sicht ist genau die Weisheit, die auch im Zen-Buddhismus so hoch geschätzt wird und die es ermöglicht, die ganze umfassende Wirklichkeit so zu erkennen wie sie ist und sie nicht durch Fantasien, Hoffnungen, Theorien usw. zu verstellen, zu verkleinern oder zu vergrößern. Dieser große runde Spiegel der Buddhas hat keinen trüben Fleck und durch ihn können zwei Menschen im Buddha-Dharma dasselbe sehen, sie haben denselben Geist und ihre Augen sind vollkommen dieselben. Der Spiegel wird so zum Symbol dieser wirklichen Wahrheit, die jenseits von Wissen, Vernunft, Intelligenz, von Begriffen wie Essenz oder Form ist und er wird als Eigenschaft der Buddhas schlechthin bezeichnet. Wohlgemerkt werden Denken und schöpferische Fantasie im Buddhismus keineswegs gering geschätzt oder gar abgelehnt, es wird jedoch betont, dass damit nur ein Teil der Wirklichkeit erfasst werden kann.
Der große Zenmeister Daikan Enô wird im Buddhismus mit einem berühmten Gedicht hoch verehrt, das seine eigene Antwort auf eine damals übliche aber verengte Sicht des ewigen Spiegels war, und wie folgt lautet:

“Im Bodhi-Zustand gibt es keinen Baum. Der klare Spiegel braucht keinen Ständer. Eigentlich gibt es kein einziges Ding. Wo sollen Staub und Schmutz existieren?“

Was soll mit diesem bekannten buddhistischen Gedicht gesagt werden? Widerspricht es nicht der herkömmlichen Vorstellung, dass wir uns selbst wie einen Spiegel immer reinigen und polieren sollen, um die Erleuchtung zu erlangen? Der japanische Name Daikan bedeutet „Großer Spiegel“ und soll auf die umfassende buddhistische Weisheit des Geistes und des Handelns dieses Meisters hinweisen, der zu den herausragenden Persönlichkeiten des Zen-Buddhismus überhaupt gehört. Er konnte nicht lesen und nicht schreiben, hatte also keine gute Ausbildung im Sinne von Schulen und Universitäten, verfügte aber über eine große intuitive Kraft und Klarheit des Buddhismus. In dem Gedicht wird deutlich, dass der klare Spiegel über die materielle Sicht der Dinge hinausgeht und auch die Vorstellung des Bodhi-Baumes, unter dem Gautama Buddha einst Erleuchtung gefunden hatte, nicht so wichtig ist und eher vom intuitiven Geist des Hier und Jetzt ablenkt. Staub und Schmutz sind Bewertungen, die vom Menschen erzeugt werden und das großartige Universum, so wie es ist, nicht angemessen beschreiben, sondern eher durch Bewertungen verzerren. Meister Dôgen schätzte dieses Gedicht außerordentlich. Aber er warnt uns auch, das Ziel des Polierens des eigenen Spiegels nicht vordergründig abzulehnen und herabzusetzen, wenn sich darin der Wille zur Wahrheit offenbart.
Allerdings darf die Idee und Vorstellung eines Spiegels als Symbol für den intuitiven Geist nicht dazu führen, dass man sich in Abstraktionen, Bildern und Idealisierungen verliert. Der Zen-Buddhismus weist immer wieder darauf hin, dass man zum wirklichen Hier und Jetzt kommen muss, und dass nichts hinzu fantasiert und weggelassen werden darf. Deshalb sind z. B. Fragen, wo denn der Glanz eines Spiegels bleibt, wenn das Metall in eine Figur umgegossen wird, theoretischer abstrakter Natur und führen nicht weiter. Im Gegenteil, verirrt sich der Geist auf der Suche nach einer verstandesmäßigen Erklärung immer weiter und wird dabei klein und unsicher. Dann entwickelt sich der übliche intellektuelle Verstand, der zergliedert, bewertet, kritisiert, zweifelt und anderen Menschen sogar oft übel will.
Der Spiegel wird häufig im Buddha-Dharma so beschrieben, dass sich in ihm alles genau so spiegelt, wie es wirklich ist. Dies wird am Beispiel eines Fremden oder eines Chinesen erläutert, die sich jeweils genau als Fremder oder Chinese spiegeln. Dabei wird zwischen der äußeren, materiellen Form, die sich als bloße Erscheinung widerspiegelt, und dem wahren umfassenden Menschen unterschieden und nur dieser entspricht dem ewigen Spiegel, also dem intuitiven Geist in seiner ganzen Wirklichkeit und Unfassbarkeit.
Dôgen betont dabei, dass das Kommen und Gehen, also das Handeln im gegenwärtigen Augenblick, beim intuitiven Geist von zentraler Bedeutung ist, denn dieses ist das Erleben, Erfahren und Handeln im Hier und Jetzt. Wenn ein Fremder kommt oder geht, spiegelt sich dieser genau so wieder und wenn eine Chinese kommt oder geht, gilt dasselbe. Das Vorher und Nachher, also die lineare Zeit, haben insofern beim Spiegel aber keine Bedeutung, denn das wirkliche Erleben und die Wahrheit der Sein-Zeit gibt es nur im gegenwärtigen Augenblick. Dieser wird vom Spiegel ganz genau reflektiert.
In einem anderen berühmten Dialog zwischen zwei Zen-Meistern fragt der erste ältere:

"Was passiert, wenn plötzlich ein klarer Spiegel kommt?“,

also vor dem Spiegel erscheint und sich in ihm spiegelt. Vorher hatte er erläutert, dass sein eigenes Gesicht wie ein ewiger Spiegel sei, er also intuitive buddhistische Weisheit habe und dass ein Fremder bei ihm genau als Fremder und ein Chinese genau als Chinese erscheint, wenn sie kommen. Damit will er sagen, dass er die Wirklichkeit genau so sieht, wie sie ist. Der jüngere zweite Meister ist mit dieser Aussage jedoch nicht ganz zufrieden, denn er möchte noch stärker zwischen Vorstellung und Wirklichkeit unterscheiden. Er sagt daher als Antwort:

"In tausend Stücke zersprungen!"

Dies erscheint zunächst in der Tat unverständlich oder gar zerstörerisch. Warum zerbirst der ewige Spiegel in tausend Stücke, wenn vor ihm ein anderer Spiegel erscheint? Meister Nishijima deutet diese Aussage so, dass im konkreten Hier und Jetzt der ewige Spiegel auch eine Idee ist und so verstanden werden muss. Diese Idee hat aber in Bezug auf die Wahrheit und Wirklichkeit selbst keinen eigenständigen Bestand. So schön also das Gleichnis des ewigen Spiegels für den intuitiven Geist auch sei, so sehr muss man sich davon auch wieder lösen, um die volle Wirklichkeit und Wahrheit der Gegenwart zu erfahren und zu erfassen. Daher sagte der jüngere zweite Meister, dass der Spiegel als Gleichnis in tausend Stücke zerspringt, wenn er mit der Wirklichkeit selbst verglichen wird. Denn Gleichnisse und Worte können die Wirklichkeit des Buddha-Dharma immer nur teilweise beschreiben und dürfen nicht mit der Wirklichkeit selbst verwechselt werden. Worte dienen der Verständigung zwischen den Menschen und auch der Weitergabe der Lehre des Buddhismus. Sie sind wichtig und unverzichtbar in der menschlichen Kultur, aber sie haben auch ihre Grenzen und Gefahren. Im Zen-Buddhismus geht es daher darum, durch die Praxis, vor allem des Zazen, zur Wirklichkeit selbst durchzustoßen, die durch Worte zwar in einem gewissen Umfang beschrieben und vorbereitet aber nicht ersetzt werden kann. So sind Gleichnisse und das Symbol des ewigen Spiegels wie ein Fingerzeig auf den Mond, aber nicht die Wirklichkeit des Mondes selbst.
Dôgen stellt am Ende seiner Erläuterung zur Aussage: "In tausend Stücke zersprungen"
selbst die rhetorische Frage an den Meister dieser Koan-Geschichte:

“Hat er damit aber nur die materielle Sicht und Verständnisweise der Welt zum Ausdruck gebracht hat? Ist dies z. B. nur die materielle Wahrnehmung von Sand, Kieselsteinen, Zäunen oder Mauern?“

Dann hätte er in der Tat zwar die sehr abstrakte Sichtweise des ewigen Spiegels kritisiert, wäre aber selbst nicht über ein viel zu begrenztes Verständnis der äußeren Form und des Materialismus hinaus gekommen.
In einem anderen berühmten Gleichnis begegnen zwei große alte Meister einer Herde Affen, und der eine sagt.

„Auch die Affen tragen den ewigen Spiegel auf dem Rücken.“

Diese doch recht eigenartige Aussage soll sicher im Kern bedeuten, dass auch Tiere, also andere Lebewesen als der Mensch, die intuitive Weisheit besitzen, auch wenn sie nicht reden und nicht schreiben können und auch keinen Verstand wie wir Menschen haben.
Man kann den Sinn dieses Verses auch so deuten, dass er die vollständige Übereinstimmung des Universums mit unserem Handeln im gegenwärtigen Augenblick ausdrückt. Der Buddhismus sagt in aller Klarheit, dass unser Handeln im gegenwärtigen Augenblick stattfindet und dass es keine Trennung von Subjekt und Objekt gibt, wenn man vom wirklichen Erfahren und Erleben ausgeht. In der obigen Aussage zu den Affen wird zu dem die hohe Wertschätzung im Buddhismus deutlich, die allen Lebewesen ohne Unterschied entgegen gebracht wird. Haben wir nicht oft bei Tieren den Eindruck, dass sie an einer höheren intuitiven Weisheit teilhaben? Diese Geschichte sagt also gerade nicht, dass der menschliche Verstand in jeder Hinsicht einzigartig und allem überlegen ist und dass der Mensch daher den Tieren grundsätzlich überlegen ist. Sondern im Gegenteil: die intuitiven Fähigkeiten der Affen werden mit dem ewigen Spiegel in Verbindung gebracht. In diesem Kapitel über die intuitive Weisheit werden auch andere Lebewesen wie Hunde einbezogen und nicht abgegrenzt.
Dôgen sagt in seinen Gleichnissen also zusammenfassend, dass ein Kind, ein Meister, der nicht schreiben und nicht lesen kann und die Affen den ewigen Spiegel besitzen. Damit will er sagen, dass erlerntes Wissen und Schärfe des Verstandes nicht das Wesentliche der intuitiven Weisheit sind. Er warnt davor, voreilig und unbedarft „schöne“ Begriffe zu verwenden und diese mit der intuitiven Weisheit selbst zu verwechseln, da immer die Gefahr besteht, dass die Worte und Begriffe sich verselbstständigen und ein ungutes Eigenleben in der Kommunikation entwickeln. Dies bringt uns eventuell nicht zur Wirklichkeit und Wahrheit, sondern führt uns von ihr weiter weg. Gleichwohl hält er Fragen und Antworten zum Buddha-Dharma für außerordentlich wichtig, wenn man sich dieser Grenzen und Möglichkeiten bewusst ist. Denn ohne Fragen bleibt vieles ungeklärt und kommt nicht aus der Beliebigkeit heraus. Dabei schätzt er das gütige Verhalten der buddhistischen Meister auch bei dummen oder sogar unverschämten Fragen, denn die Meister lassen sich nicht provozieren und es liegt ihnen fern, den Fragenden trotz seines eventuell ungebührlichen Verhaltens zu erniedrigen und abzustrafen.
In einem andern berühmten Koan-Gespräch sagt der große chinesische Meister Seppô:

"Wenn die Welt zehn Fuß breit ist, ist der ewige Spiegel zehn Fuß breit und wenn die Welt einen Fuß breit ist, ist der ewige Spiegel einen Fuß breit".

Mit dieser Aussage wird davor gewarnt, den ewigen Spiegel als etwas Imaginäres, Unendliches und Fantastisches zu sehen, sondern dass er mit der realen Welt eine Einheit ist, in der wir leben. Auch die nur materielle Sicht des ewigen Spiegels, wie z.B. als einer für die damalige Zeit ungewöhnlich dünnen Metallplatte, greift zu kurz. Dôgen drückt dies wie folgt aus:

"Der ewige Spiegel ist nämlich (auch) jedes einzelne Ding und Ereignis in der Länge und Breite dieser leuchtend klaren (Welt) und dies unabhängig davon, ob ein Fremder oder ein Chinese kommt und erscheint".


Am Ende dieses tiefgründigen und wichtigen Kapitels gibt Dôgen die berühmte Koan-Geschichte vom Polieren eines Ziegels wieder: Der alte Meister Nangaku besuchte seinen hervorragenden Schüler Baso, der später selbst ein berühmter Zen-Meister wurde, als dieser in einer einfachen Hütte unter oft widrigen Bedingungen etwa zehn Jahre lang praktizierte. Er fragte den Schüler, was er denn gerade macht und dieser antwortete:
"In diesen Tagen mache ich nichts anderes als Zazen".
Daraufhin fragte der Meister:
"Was beabsichtigst du damit"?
und der Schüler antwortete:
"Ich beabsichtige, durch Zazen ein Buddha zu werden".
Darauf nahm der Meister einen Ziegel und schliff und rieb ihn an dem dortigen Felsen. Als der Schüler dies sah, fragte er verwundert, was der Meister denn da tut. Und dieser antwortete:
"Ich poliere einen Ziegel".
Der Schüler benutzte dieselbe Formulierung wie vorher der Meister und sagte:
"Was beabsichtigst du damit?"
Und der Meister antwortete:
"Ich poliere ihn, um einen Spiegel daraus zu machen".
Der Schüler Baso sagte dann:
"Wie kannst du durch das Polieren eines Ziegels einen Spiegel erzeugen?"
Der Meister antwortete mit einer Gegenfrage:
"Wie kann Zazen dich zu einem Buddha machen?"
Dôgen warnt uns bei der Untersuchung dieses berühmten Koan-Gespräches zunächst, sich mit einfachen und schnellen Antworten zufrieden zu geben, weil er den großen Wert dieses Gesprächs zweier herausragender Meister zur Lehre des Buddha-Dharma außerordentlich hoch schätzt. In der Tat hat diese Koan-Geschichte eine große Kraft im Buddhismus entwickelt und hat sie auch heute noch.
Durch das direkte Handeln ohne viele Worte wollte der Meister seinem hervorragenden Schüler zur intuitiven Klarheit verhelfen. Der Sinn dieses Koans liegt vor allem darin, dass sowohl beim Zazen als auch beim Polieren des Ziegels das Ergebnis überhaupt nicht maßgeblich ist, sondern der Vorgang und das Tun selbst. Ohne ausdauerndes Zazen ist es unmöglich, den Buddhismus ganzheitlich mit Körper und Geist zu begreifen. Das Handeln im Zazen wird nachhaltig gestört, wenn man mit aller Anspannung des Willens das Ziel der Erleuchtung anstrebt, denn das Zazen-Sitzen selbst bedeutet nichts anderes, als dass man die erste Erleuchtung erfährt und damit Buddha ist. Man darf aber nicht vergessen, dass der Schüler hier mit aller Intensität und Eindeutigkeit Zazen praktiziert und dass er zum Zeitpunkt dieses Gesprächs schon einen weiten Weg im Buddhismus gegangen ist. Durch Zazen erfährt man also den ewigen Spiegel, der als Symbol der geistigen Intuition zu verstehen ist. Dôgen sagt, dass es dasselbe ist, einen Spiegel zu erzeugen und ein Buddha zu werden. Durch das Handeln und Praktizieren entsteht der ewige Spiegel, also die intuitive Klarheit des Geistes und dies kann auch durch das Schleifen eines Ziegels geschehen. Genau dies hat sich auch dann bei dem Schüler ereignet, denn ihm ist schlagartig klar geworden, dass die Zazen-Praxis selbst das wesentliche Handeln ist und genau dies ist der ewigen Spiegel. So kann man sagen, dass der Ziegel durch den Meister Nangaku zum Spiegel geworden ist und dass dadurch die Menschen zu Buddha werden. Wenn wir die Ziegel nur als gebrannte Tonklumpen ansehen, gilt sicher auch, dass wir die Menschen nur als Tonklumpen erfahren. Dôgen beschließt dieses Kapitel wie folgt:

"Wer aber kann wirklich erkennen, dass es einen Spiegel gibt, in dem ein Spiegel erscheint, wenn ein Ziegel kommt. Und wer kann wirklich erkennen, dass es einen Spiegel gibt, in dem ein Spiegel erscheint, wenn ein Spiegel kommt? "

Der erste Satz bezieht sich wie in der obigen Geschichte dargestellt darauf, dass bei dem Schüler durch das Polieren des Ziegels die intuitive Weisheit, also der Spiegel, entstanden ist. Den zweiten Satz könnte man so deuten, dass es sehr selten vorkommt, dass einem intuitiv klaren Geist ein anderer gleich klarer Geist wie der ewige Spiegel begegnet und dass sich beide als solche erkennen.










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