Dienstag, 24. September 2013

Intuitives Handeln: der Weg zur Klarheit


Von besonderer Bedeutung ist im Buddhismus das Handeln im Augenblick, bei dem weder die materielle, noch die gedankliche Seite des Lebens dominiert. Wir können genau in der intuitiven Klarheit handeln, die Denken und Fühlen übersteigt. Dabei geht es primär nicht um die Zielerreichung, die in der Management-Lehre so sehr im Vordergrund steht. Das Ziel wird durch diese Klarheit gewissermaßen intuitiv und automatisch erreicht, ohne dass wir uns speziell darauf konzentrieren und fokussieren: Wer klar und effizient handelt, kann das Ziel kaum verfehlen, gerade weil er nicht verkrampft und im Handeln seine Kreativität behält. Im Übrigen ist die Fehlerwahrscheinlichkeit beim intuitiven, klaren Handeln sehr gering.

Die willensmäßige Geistesschulung kann sicher einen wichtigen Beitrag zur Transformation des Selbst in Richtung spiritueller und ethischer Klarheit bringen. Aber wir dürfen dabei nie die untrennbare Einheit von Körper-und-Geist vernachlässigen, und häufig hat der denkende Geist für die intuitive Klarheit nicht einmal die Hauptbedeutung. Wir wissen heute auch durch die Hirnforschung, dass sehr viele Prozesse im Gehirn, also im neuronalen Netz, unbewusst ablaufen und nur ein kleiner Teil dem Bewusstsein überhaupt zugänglich ist.

Durch intensives Training ist es zweifellos möglich, den bewussten Teil des Erkennens, Beobachtens und Erinnerns nachhaltig zu vergrößern. Aber wir dürfen niemals vergessen, dass das nur ein begrenzter Teil der Informations- und Steuerungsprozesse des Menschen ist, denn der Geist kann niemals vollständig erfasst werden: der wahre Geist ist viel größer.

Nishijima Roshi spricht daher davon, dass es bei der Klarheit vor allem auf das Gleichgewicht des vegetativen Nervensystems ankommt, das bekanntlich durch das Bewusstsein und den Willen nur sehr eingeschränkt oder überhaupt nicht beeinflussbar und steuerbar ist. Beim intuitiven, klaren Handeln ist sicher das Bewusstsein nicht ausgeschaltet, sondern es nimmt Teil an den Vorgängen. Ich nenne das gern „mitlaufendes Bewusstsein“.

Im Zen hat die Meditation ohne Objekte des Denkens und Fühlens einen zentralen Stellenwert, denn die Zazen-Praxis ist „Nicht-Denken“. Dabei sind die besonderen Schwingungen des neuronalen Netzes beim Zazen sogar präzise messbar; sie unterscheiden sich signifikant von den Schwingungen beim konzentrierten Denken und bei objektbezogener Fokussierung. Zazen bewirkt nach meiner festen Überzeugung eine „Tiefen-Heilung“ des Menschen und führt genau zu der strahlenden Klarheit, die Dōgen in diesem Kapitel behandelt.


Nishijima und Cross betonen, dass das Universum unser eigenes Leuchten und die strahlende Klarheit ist und dass sich dies genau in unserem Verhalten und Handeln verwirklicht: „Es gibt nichts anderes als diese leuchtende Klarheit.“ Sie ist das buddhistische Licht, von dem viele Meditierende berichten.

Sonntag, 15. September 2013

Die strahlende Klarheit von Körper und Geist


Die japanische Bezeichnung dieses Kapitels lautet Kōmyō, wobei „strahlend“ oder „hell“ bedeutet und myō „Klarheit“. Daher ist mit Kōmyō die strahlende Klarheit von Körper und Geist gemeint. Der Begriff Geist beinhaltet dabei nach heutiger Auffassung nicht zuletzt auch psychische Bereiche und Phänomene. Den Begriff der Psyche gab es so in Indien und in Ostasien zwar nicht, aber gerade bei Dōgen geht es beim Geist nicht nur um Denken oder besondere intellektuelle Fähigkeiten, sondern immer um das Ganze von Körper, Fühlen, Geist und Vernunft und geistigen Gegebenheiten, wie es schon in Buddhas Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit heißt. Vernunft übersteigt dabei immer Verstand, der Zen-Buddhismus ist immer im Einklang mit der Vernunft, z. B. nicht aber mit dem materiellen Verstand
.
Dōgen erklärt in diesem Kapitel, dass das ganze Universum klar und strahlend ist und dass wir durch den Buddha-Dharma und die Übungspraxis daran teilnehmen können. In ähnlicher Weise werden die Welt und unser Leben im Lotos-Sūtra beschrieben. Durch die Lehre des reinen Handelns und des Gleichgewichts im Hier und Jetzt können wir uns für die strahlende Klarheit öffnen. Unser Körper-und-Geist erfahren eine unerwartete Stärkung durch Energien, die wir uns vorher nicht ausdenken konnten und die sich jäh ereignen.

Erwachte Menschen leben in der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie verlieren sich weder in idealistischen Träumereien, noch erhoffen sie sich von materiellen Gütern und Reichtum das Glück auf dieser Erde. Idealistische und einseitig spirituell orientierte Menschen tun sich schwer damit, die konkreten materiellen Wirklichkeiten dieser Welt – also die Dinge und Phänomene, wie Nishijima Roshi dies gern nennt – unverstellt zu beobachten und als wichtig zu schätzen. Umgekehrt glauben materiell orientierte Menschen nur an physikalisch-chemische, also materielle Wirklichkeiten und neigen dazu, spirituelle Lebensbereiche abzulehnen. Beide Lebensphilosophien sind für sich allein jedoch völlig unzureichend, um die Klarheit im Leben und in der Welt zu verwirklichen.

Wenn wir den Glauben an die unbeschränkten Fähigkeiten des unterscheidenden Denkens und die dadurch angeblich erzeugten angeblich klaren Erkenntnisse aufgeben müssen, und das ist heute sicher unbestritten, dann ergibt sich die Notwendigkeit, eine erweiterte, umfassende Klarheit und Vernunft zu suchen. Eine solche Klarheit umfasst vor allen Dingen das intuitive ganzheitliche Verstehen, Beobachten und Handeln. Dabei ist geistige Intuition keinesfalls abwertend zu verstehen, indem man sie zum Beispiel als ungenau, unlogisch oder nur als verschwommenes „Bauchgefühl“ einstuft. Was kann der Zen-Buddhismus dazu beitragen, dass wir eine solche umfassende Klarheit entdecken und erfahren?

Gerade Psychotherapeuten wissen, dass nur rationale und logische Erklärungen, Ratschläge und Diskussionen bei psychischen Krankheiten und Problemen wenig bewirken können. Ohne ein umfassendes Vertrauensverhältnis und die intuitive Klarheit des Therapeuten darüber, wo das psychische Problem des Patienten liegt und wie es in vorsichtigen Schritten gelöst werden kann, sind keine Heilungsprozesse zu erwarten. Darüber hinaus ist die intuitive Klarheit in jedem zwischenmenschlichen Handeln, sei es mit oder ohne Worte, von zentraler Bedeutung. Das gilt in noch stärkerem Maße für spirituelle Erfahrungen. Nur durch eine trans-intellektuelle Klarheit ist es zum Beispiel möglich, Illusionen von spiritueller Wirklichkeit zu unterscheiden. Dasselbe gilt, wenn man einen spirituellen Lehrer sucht und sich dabei vor Scharlatanen und Geschäftemachern zu schützen hat.

Intuitive Klarheit ist keine diffuse, verschwommene Geistigkeit, sondern sie überschreitet ganz im Gegenteil das nur logische und intellektuelle Verstehen, so wichtig dieses in Einzelfällen sein mag. Kreative Künstler kennen bei ihrer Arbeit eine solche nonverbale Klarheit, die sich selbst verwirklicht und keiner bewussten willensmäßigen Steuerung durch den Künstler unterliegt. Diese Klarheit und Ruhe des Augenblicks können wir auch beim Bogenschießen erleben, wenn im Augenblick der höchsten Spannung die große Klarheit und Ruhe da sind und der Pfeil mit erstaunlicher Genauigkeit sein Ziel erreicht, wie Herrigel dies in seinem berühmten Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens formuliert. Das ist eine Gefühle von Frteiheit und Offenheut.

Beim Spiel der japanischen Meditationsflöte Shakuhachi gibt es ebenfalls Augenblicke großer Klarheit ohne Worte, die man wohl auch als mystische Klarheit bezeichnen kann. Unsere westlichen Sprachen versagen allerdings im Allgemeinen dabei, einen solchen Zustand treffend zu beschreiben.


Dienstag, 3. September 2013

Im Erwachen gibt es keinen zugesetzten Affen.



Wann haben wir die richtige und natürliche Bewegung, das richtige Fließen unseres Lebens verwirklicht?
Dōgen drückt sich so aus:
„Der Geist als Berge, Flüsse und die Erde sind nichts anderes als die (wirklichen) Berge, die Flüsse und die Erde.“

Es ist alles genau so, wie es ist, es wird dabei nichts in Form von Illusionen hinzugesetzt und nichts durch Täuschung weggenommen.

Das heißt: Es gibt (zur Wirklichkeit) keine zusätzlichen Wellen und keine (zusätzliche) Brandung (mit Gischt), keinen Wind oder Rauch.“

Dōgen macht sehr deutlich, dass dieser offene Geist eine Einheit mit dem Universum, also Sonne, Mond und Sterne bildet, aber gerade nicht mit Illusionen und Selbsttäuschungen. Diese werden uns häufig mit starken Bildern und Vorstellungen suggeriert, oft glauben die Suggerierer sogar selbst daran!

„Geist ist Leben-und-Sterben, Kommen-und-Gehen und ist nichts anderes als (wahres) Leben-und-Sterben, (wahres) Kommen-und-Gehen. Es gibt dann keine hinzugesetzte Täuschung oder (eingebildete) Verwirklichung.“

Die Wirklichkeit ist genau so, wie sie ist, und die scheinbar außerhalb von uns bestehenden Objekte wie Sonne, Mond und Sterne, Berge, Flüsse und die Erde existieren in der Einheit mit dem Geist, der erwacht ist und sich im Gleichgewicht befindet. Dies ist die zentrale Botschaft des Buddhismus, und es gilt, sie in unserem Leben handelnd zu verwirklichen und im Hier und Jetzt zu realisieren.

Der Geist sei nach Dōgen auch die Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine; und diese sind als Wirklichkeit genau so, wie sie sind. Es gibt in der Klarheit keine gedanklichen oder emotionalen Zusätze, und es wird nichts abgespalten oder weggelassen.

In diesem Zusammenhang zählt Dōgen auch die in der buddhistischen Lehre verankerten materiellen vier Elemente und fünf Komponenten (Skandas) des Menschen und der Welt auf: „Es gibt keinen zusätzlichen Schlamm oder (zusätzliches) Wasser.“

Dōgen führt weiter aus: „Es gibt kein zugefügtes Pferd oder (keinen zugesetzten) Affen.“ Im alten China war das Pferd ein Symbol für den rastlosen unnützen Willen und der Affe ein Symbol für den törichten hin und her springenden Verstand. Ein rastloser Wille schießt immer über das Ziel hinaus und besitzt keine Aufnahmefähigkeit für den natürlichen Zustand und die natürliche Bewegung. Er kann sich im Hier und Jetzt nicht öffnen und hat damit nicht teil an der Wirklichkeit. Dasselbe gilt für hektisches Denken und das törichte Arbeiten eines hin und her springenden Verstandes.

Ein Geist, der hier und jetzt Buddha ist, ist nicht befleckt:
Alle Buddhas sind unbefleckte Buddhas.“
Dōgen erklärt, dass die Buddhas mit genau diesem Geist hier und jetzt identisch sind. Sie erwecken den Willen zur Wahrheit, führen das praktische Training durch, verwirklichen das Erwachen, das die Erfahrung des Nirvāna ist. Er verstärkt diese Aussage, indem er sie in umgekehrter Form wiederholt:

Wenn wir niemals den Willen zur Wahrheit erweckt haben, also (niemals) das Training durchführen, das Erwachen (verwirklicht) und das Nirvāna (erfahren haben), dann ist (der Zustand) nicht Geist hier und jetzt. Und ist nicht Buddha.“

Das Nirvāna wird dabei nicht als ein jenseitiges Paradies verstanden, sondern als das erwachte Leben im Gleichgewicht des Hier und Jetzt, das identisch ist mit der Überwindung des Leidens.