Sonntag, 15. September 2013

Die strahlende Klarheit von Körper und Geist


Die japanische Bezeichnung dieses Kapitels lautet Kōmyō, wobei „strahlend“ oder „hell“ bedeutet und myō „Klarheit“. Daher ist mit Kōmyō die strahlende Klarheit von Körper und Geist gemeint. Der Begriff Geist beinhaltet dabei nach heutiger Auffassung nicht zuletzt auch psychische Bereiche und Phänomene. Den Begriff der Psyche gab es so in Indien und in Ostasien zwar nicht, aber gerade bei Dōgen geht es beim Geist nicht nur um Denken oder besondere intellektuelle Fähigkeiten, sondern immer um das Ganze von Körper, Fühlen, Geist und Vernunft und geistigen Gegebenheiten, wie es schon in Buddhas Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit heißt. Vernunft übersteigt dabei immer Verstand, der Zen-Buddhismus ist immer im Einklang mit der Vernunft, z. B. nicht aber mit dem materiellen Verstand
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Dōgen erklärt in diesem Kapitel, dass das ganze Universum klar und strahlend ist und dass wir durch den Buddha-Dharma und die Übungspraxis daran teilnehmen können. In ähnlicher Weise werden die Welt und unser Leben im Lotos-Sūtra beschrieben. Durch die Lehre des reinen Handelns und des Gleichgewichts im Hier und Jetzt können wir uns für die strahlende Klarheit öffnen. Unser Körper-und-Geist erfahren eine unerwartete Stärkung durch Energien, die wir uns vorher nicht ausdenken konnten und die sich jäh ereignen.

Erwachte Menschen leben in der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie verlieren sich weder in idealistischen Träumereien, noch erhoffen sie sich von materiellen Gütern und Reichtum das Glück auf dieser Erde. Idealistische und einseitig spirituell orientierte Menschen tun sich schwer damit, die konkreten materiellen Wirklichkeiten dieser Welt – also die Dinge und Phänomene, wie Nishijima Roshi dies gern nennt – unverstellt zu beobachten und als wichtig zu schätzen. Umgekehrt glauben materiell orientierte Menschen nur an physikalisch-chemische, also materielle Wirklichkeiten und neigen dazu, spirituelle Lebensbereiche abzulehnen. Beide Lebensphilosophien sind für sich allein jedoch völlig unzureichend, um die Klarheit im Leben und in der Welt zu verwirklichen.

Wenn wir den Glauben an die unbeschränkten Fähigkeiten des unterscheidenden Denkens und die dadurch angeblich erzeugten angeblich klaren Erkenntnisse aufgeben müssen, und das ist heute sicher unbestritten, dann ergibt sich die Notwendigkeit, eine erweiterte, umfassende Klarheit und Vernunft zu suchen. Eine solche Klarheit umfasst vor allen Dingen das intuitive ganzheitliche Verstehen, Beobachten und Handeln. Dabei ist geistige Intuition keinesfalls abwertend zu verstehen, indem man sie zum Beispiel als ungenau, unlogisch oder nur als verschwommenes „Bauchgefühl“ einstuft. Was kann der Zen-Buddhismus dazu beitragen, dass wir eine solche umfassende Klarheit entdecken und erfahren?

Gerade Psychotherapeuten wissen, dass nur rationale und logische Erklärungen, Ratschläge und Diskussionen bei psychischen Krankheiten und Problemen wenig bewirken können. Ohne ein umfassendes Vertrauensverhältnis und die intuitive Klarheit des Therapeuten darüber, wo das psychische Problem des Patienten liegt und wie es in vorsichtigen Schritten gelöst werden kann, sind keine Heilungsprozesse zu erwarten. Darüber hinaus ist die intuitive Klarheit in jedem zwischenmenschlichen Handeln, sei es mit oder ohne Worte, von zentraler Bedeutung. Das gilt in noch stärkerem Maße für spirituelle Erfahrungen. Nur durch eine trans-intellektuelle Klarheit ist es zum Beispiel möglich, Illusionen von spiritueller Wirklichkeit zu unterscheiden. Dasselbe gilt, wenn man einen spirituellen Lehrer sucht und sich dabei vor Scharlatanen und Geschäftemachern zu schützen hat.

Intuitive Klarheit ist keine diffuse, verschwommene Geistigkeit, sondern sie überschreitet ganz im Gegenteil das nur logische und intellektuelle Verstehen, so wichtig dieses in Einzelfällen sein mag. Kreative Künstler kennen bei ihrer Arbeit eine solche nonverbale Klarheit, die sich selbst verwirklicht und keiner bewussten willensmäßigen Steuerung durch den Künstler unterliegt. Diese Klarheit und Ruhe des Augenblicks können wir auch beim Bogenschießen erleben, wenn im Augenblick der höchsten Spannung die große Klarheit und Ruhe da sind und der Pfeil mit erstaunlicher Genauigkeit sein Ziel erreicht, wie Herrigel dies in seinem berühmten Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens formuliert. Das ist eine Gefühle von Frteiheit und Offenheut.

Beim Spiel der japanischen Meditationsflöte Shakuhachi gibt es ebenfalls Augenblicke großer Klarheit ohne Worte, die man wohl auch als mystische Klarheit bezeichnen kann. Unsere westlichen Sprachen versagen allerdings im Allgemeinen dabei, einen solchen Zustand treffend zu beschreiben.