Die
japanische Bezeichnung dieses Kapitels lautet Kōmyō, wobei kō
„strahlend“ oder „hell“ bedeutet und myō
„Klarheit“. Daher ist mit Kōmyō die strahlende Klarheit von Körper
und Geist gemeint. Der Begriff Geist beinhaltet dabei nach heutiger Auffassung
nicht zuletzt auch psychische Bereiche und Phänomene. Den Begriff der Psyche
gab es so in Indien und in Ostasien zwar nicht, aber gerade bei Dōgen geht es
beim Geist nicht nur um Denken oder besondere intellektuelle Fähigkeiten,
sondern immer um das Ganze von Körper, Fühlen, Geist und Vernunft und geistigen
Gegebenheiten, wie es schon in Buddhas Sūtra von den Grundlagen der Achtsamkeit heißt. Vernunft übersteigt dabei
immer Verstand, der Zen-Buddhismus ist immer im Einklang mit der Vernunft, z.
B. nicht aber mit dem materiellen Verstand
.
Dōgen
erklärt in diesem Kapitel, dass das ganze Universum klar und strahlend ist und
dass wir durch den Buddha-Dharma und die Übungspraxis daran teilnehmen können.
In ähnlicher Weise werden die Welt und unser Leben im Lotos-Sūtra beschrieben.
Durch die Lehre des reinen Handelns und des Gleichgewichts im Hier und Jetzt
können wir uns für die strahlende Klarheit öffnen. Unser Körper-und-Geist
erfahren eine unerwartete Stärkung durch
Energien, die wir uns vorher nicht
ausdenken konnten und die sich jäh ereignen.
Erwachte
Menschen leben in der klaren Wirklichkeit des Hier und Jetzt. Sie verlieren
sich weder in idealistischen Träumereien, noch erhoffen sie sich von
materiellen Gütern und Reichtum das Glück auf dieser Erde. Idealistische und einseitig spirituell orientierte
Menschen tun sich schwer damit, die konkreten materiellen Wirklichkeiten dieser
Welt – also die Dinge und Phänomene, wie Nishijima Roshi dies gern nennt – unverstellt zu beobachten und als
wichtig zu schätzen. Umgekehrt glauben materiell orientierte Menschen nur an
physikalisch-chemische, also materielle Wirklichkeiten und neigen dazu,
spirituelle Lebensbereiche abzulehnen. Beide Lebensphilosophien sind für sich allein
jedoch völlig unzureichend, um die Klarheit im Leben und in der Welt zu
verwirklichen.
Wenn wir den Glauben an die
unbeschränkten Fähigkeiten des unterscheidenden Denkens und die dadurch
angeblich erzeugten angeblich klaren Erkenntnisse aufgeben müssen, und das ist
heute sicher unbestritten, dann ergibt sich die Notwendigkeit, eine erweiterte, umfassende Klarheit und Vernunft
zu suchen. Eine solche Klarheit umfasst vor allen Dingen das intuitive ganzheitliche Verstehen,
Beobachten und Handeln. Dabei ist geistige Intuition keinesfalls abwertend
zu verstehen, indem man sie zum Beispiel als ungenau, unlogisch oder nur als verschwommenes
„Bauchgefühl“ einstuft. Was kann der Zen-Buddhismus dazu beitragen, dass wir
eine solche umfassende Klarheit entdecken und erfahren?
Gerade Psychotherapeuten
wissen, dass nur rationale und logische Erklärungen, Ratschläge und
Diskussionen bei psychischen Krankheiten und Problemen wenig bewirken können.
Ohne ein umfassendes Vertrauensverhältnis und die intuitive Klarheit des
Therapeuten darüber, wo das psychische Problem des Patienten liegt und wie es
in vorsichtigen Schritten gelöst werden kann, sind keine Heilungsprozesse zu
erwarten. Darüber hinaus ist die intuitive Klarheit in jedem zwischenmenschlichen Handeln, sei es mit
oder ohne Worte, von zentraler Bedeutung. Das gilt in noch stärkerem Maße für
spirituelle Erfahrungen. Nur durch eine trans-intellektuelle
Klarheit ist es zum Beispiel möglich, Illusionen von spiritueller
Wirklichkeit zu unterscheiden. Dasselbe gilt, wenn man einen spirituellen
Lehrer sucht und sich dabei vor Scharlatanen und Geschäftemachern zu schützen
hat.
Intuitive Klarheit ist keine
diffuse, verschwommene Geistigkeit, sondern sie überschreitet ganz im Gegenteil
das nur logische und intellektuelle Verstehen, so wichtig dieses in
Einzelfällen sein mag. Kreative Künstler kennen bei ihrer Arbeit eine solche
nonverbale Klarheit, die sich selbst verwirklicht und keiner bewussten
willensmäßigen Steuerung durch den Künstler unterliegt. Diese Klarheit und Ruhe
des Augenblicks können wir auch beim Bogenschießen erleben, wenn im Augenblick
der höchsten Spannung die große Klarheit und Ruhe da sind und der Pfeil mit
erstaunlicher Genauigkeit sein Ziel erreicht, wie Herrigel dies in seinem
berühmten Buch Zen in der Kunst des
Bogenschießens formuliert. Das ist eine Gefühle von Frteiheit und
Offenheut.
Beim Spiel der japanischen
Meditationsflöte Shakuhachi gibt es
ebenfalls Augenblicke großer Klarheit ohne Worte, die man wohl auch als mystische Klarheit bezeichnen kann.
Unsere westlichen Sprachen versagen allerdings im Allgemeinen dabei, einen
solchen Zustand treffend zu beschreiben.