Montag, 28. Dezember 2015

Plötzlich kommt ein klarer Spiegel daher



Dōgen zitiert einen berühmten Dialog zwischen den beiden großen Zen-Meistern Seppō und Gensa. Der ältere Seppō fragte:

„Wenn plötzlich ein klarer Spiegel daherkommt, was dann?“

Damit wird das Gleichnis des Spiegels aus einer anderen Perspektive betrachtet: der Spiegel kommt daher und nicht ein Mensch. Vorher hatte Meister Seppō erläutert, dass sein eigenes Gesicht wie ein ewiger Spiegel sei, er also über den intuitiven buddhistischen Weisheits-Geist verfüge und deshalb einen Fremden genau als Fremden und einen Chinesen genau als Chinesen sehe, wenn sie kommen. Damit will er ausdrücken, dass er die Wirklichkeit genau so sieht, wie sie ist.

Der jüngere Meister Gensa war mit dieser Aussage jedoch nicht ganz zufrieden, denn er wollte noch stärker zwischen Vorstellung und Wirklichkeit unterscheiden. Daher antwortete er:

„Zerschlagen in hundert Teile und Stücke!“

Diese Bemerkung klingt zunächst unverständlich oder gar unhöflich. Warum zerbirst der ewige Spiegel in hundert Stücke, wenn vor ihm ein anderer Spiegel erscheint? Also zwei ewige Spiegel begegnen sich wirklich, sie sind dann in Wechsel-Wirkung. M. E. ist das ein Super-Kōan.

Nishijima Roshi deutet diese Aussage so, dass im konkreten Hier und Jetzt auch der ewige Spiegel nur eine Idee ist und so verstanden werden muss. Diese Idee habe in Bezug auf die Wirklichkeit und den Körper-und-Geist selbst keinen eigenständigen Bestand. So tiefgründig und poetisch das Gleichnis des ewigen Spiegels für den intuitiven klaren Geist auch sei, so sehr müsse man sich davon auch wieder lösen, um die volle Wirklichkeit und Wahrheit der Gegenwart zu erfahren und zu erfassen. Die Idee eines Geistes ist etwas anderes als der wirkliche Körper-und-Geist.


Deshalb sagte Meister Gensa, dass der Spiegel als Gleichnis und Idee in hundert Stücke zerspringt, wenn er mit der Wirklichkeit selbst konfrontiert wird. Denn Gleichnisse und Worte können die Wirklichkeit des Buddha-Dharma immer nur teilweise beschreiben und dürfen nicht mit der Wirklichkeit selbst verwechselt werden. Worte dienen der Verständigung zwischen den Menschen und auch der Weitergabe der Lehre des Buddhismus. Sie sind wichtig und unverzichtbar in der menschlichen Kultur, aber sie haben auch ihre Grenzen und bergen Gefahren.

Im Zen-Buddhismus geht es darum, durch die Praxis, vor allem des Zazen, zur Wirklichkeit selbst zu gelangen, die durch Worte zwar in einem gewissen Umfang beschrieben und vorbereitet, aber nicht ersetzt werden kann. So sind Gleichnisse wie zum Beispiel das Symbol des ewigen Spiegels wie ein Fingerzeig auf den Mond, aber nicht die Wirklichkeit des Mondes selbst.

Am Ende seiner Erläuterung zu diesem Kōan stellt Dōgen selbst eine Frage an den damals jungen Meister Gensa:

„Mag es sein, dass das, was sich vor uns offenbart, nur die Zungenspitze als Sand, Kieselsteine, Zäune und Mauern (materielle Wahrnehmung) geworden ist und auf diese Weise zu ‚Zerschlagen in hundert Teile und Stücke‘ wurde. Welche Form nimmt das ‚Zerschlagen‘ an? Ewige blaue Tiefe; der Mond im Raum.“

Vielleicht hatte Gensa in der Tat zwar die symbolische und abstrakte Sichtweise des ewigen Spiegels kritisiert, wäre aber selbst nicht über ein begrenztes Verständnis der äußeren Form und des Materiellen und der sie beschreibenden Sprache hinausgekommen. Dem folge ich nicht.

Dōgen selbst antwortet im selben Sinne poetisch, man könnte wohl sagen paradox. Dem möchte ich gerne folgen:

"Ewige blaue Tiefe; der Mond im Raum !"

Freitag, 18. Dezember 2015

Der klare Spiegel braucht auch keinen Ständer


Der große Zen-Meister Daikan Enō (Hui Neng) wird im Buddhismus auch wegen eines Gedichts verehrt, das er verfasste, um seine tiefe Erfahrung zur Frage des ewigen Spiegels in Worte zu fassen. Er erhielt daraufhin die Dharma-Übertragung und wurde Nachfolger des fünften Vorfahren im Dharma, obgleich er nur Arbeiter (!) im Kloster und nicht als Mönch ordiniert gewesen war.[i] Dōgen zitiert Daikan Enōs berühmtes Gedicht an dieser Stelle:

„Im Bodhi-Zustand gibt es ursprünglich keinen Baum.
Der klare Spiegel braucht auch keinen Ständer.
Ursprünglich haben wir kein einziges Ding.
Wo können Staub und Schmutz existieren?“

Diese Zeilen sind von großer einfacher Kraft, aber wurden oft missverstanden von selbstgerechten Schülern. Widerspricht die Aussage nicht der herkömmlichen Lehre, dass wir uns selbst wie einen Spiegel immer reinigen und polieren sollten, um die Erleuchtung zu erlangen? Gibt es nicht viele Übungen, die authentisch auf Gautama Buddha zurückgehen, um den eigenen Geist zu reinigen?

Der japanische Name Daikan bedeutet „Großer Spiegel“ und soll auf die umfassende buddhistische Weisheit und den klaren Geist dieses Meisters hinweisen, der zu den herausragenden Persönlichkeiten des Zen-Buddhismus gehört. Er hatte zwar keine Ausbildung im Sinne von Schulwissen und Universitätsgelehrsamkeit, verfügte aber über die große intuitive Kraft und Klarheit des Buddha-Dharma.

In dem Gedicht wird deutlich, dass der klare Spiegel über die materielle Sicht der Dinge hinausgeht und dass auch die Vorstellung von Gautama Buddha, der unter dem Bodhi-Baum Erleuchtung gefunden hatte, nicht die jetzige Wirklichkeit ist, sondern eine Überlieferung, ja ein metaphysischer Glaube. Aber so kommen wir nicht weiter. Diese lenkt eher vom intuitiven klaren Geist des Hier und Jetzt ab. Erlerntes und angehäuftes Wissen ist nicht der klare intuitive Geist. Staub und Schmutz sind Bewertungen, die vom Menschen hinzugefügt werden und die das großartige Universum, so wie es ist, nicht wirklich beschreiben, sondern eher verzerren. Sie sind unklare psychisch gesteuerte Sichtweisen. Gleichwohl werden diese Verschmutzungen in der buddhistischen Lehre häufig zu sehr betont und dienen manchmal sogar der Abwertung anderer: „Du bist unklar und nicht rein!“

Meister Dōgen schätzte dieses Gedicht außerordentlich, und er bezeichnet es als Herz-Geist des Zen und ich folge ihm. Aber er warnt uns auch davor, die Aufgabe und Praxis des „Polierens“ und Reinigens des eigenen Geist-Spiegels leichtfertig abzulehnen und herabzusetzen, denn in diesem Reinigen offenbare sich der Wille zur Wahrheit.


Allerdings darf die Idee und Vorstellung eines Spiegels als Symbol für den intuitiven Geist nicht dazu führen, dass man sich in Abstraktionen, Bildern und Idealisierungen verliert. Der Zen-Buddhismus weist nämlich ganz klar darauf hin, dass man zum wirklichen Hier und Jetzt gelangen muss und nichts hinzufantasiert und weggelassen werden darf. Am gefährlichsten sind für uns Ideologien und Dogmen.

Deshalb sind zum Beispiel Fragen danach, wo denn der Glanz eines Spiegels bleibt, wenn das Metall in eine Figur umgegossen wird, nur theoretischer, abstrakter Natur und führen für unsere eigene Klarheit meist nicht weiter. Im Gegenteil: Der Geist verirrt sich auf der Suche nach einer logischen Erklärung immer mehr und wird dabei kleinlich und unsicher. Dann überwiegt der gewöhnliche unterscheidende Verstand, der zergliedert, bewertet, kritisiert, immer stärker zweifelt und anderen Menschen sogar Übles wünscht.

Über den Spiegel wird im Buddha-Dharma häufig gesagt, dass sich in ihm alles genau so spiegelt, wie es wirklich ist. Dies wird am Beispiel eines Fremden oder eines Chinesen erläutert, die sich jeweils genau als Fremder oder Chinese spiegeln. Dabei unterscheidet man zwischen der äußeren, materiellen Form eines Menschen, die sich als bloße Erscheinung widerspiegelt, und dem wahren, umfassenden Menschen, denn nur dieser entspricht dem ewigen Spiegel, also dem intuitiven klaren Geist in seiner ganzen Wirklichkeit und Unfassbarkeit.

Vorher und Nachher – also die lineare Zeit – haben beim ewigen Spiegel keine Bedeutung, denn das wirkliche Erleben und die Wahrheit der Sein-Zeit gibt es nur im gegenwärtigen Augenblick. Dieser wird vom Spiegel ganz genau reflektiert.
Wer das direkt und unmissverständlich erlebt, hat ein Erleuchtungserlebnis, so wie es ist.




[i] vgl. Kap. 12, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 120 ff: „Das Verdienst des buddhistischen Kesa-Gewandes (Kesa kudoku)

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Der ewige Spiegel: intuitiver, klarer Weisheitsgeist (Kokyō)


In diesem tiefgründigen und poetischen Kapitel[i] erläutert Dōgen anhand berühmter Kōan-Geschichten und Gleichnisse des Zen-Buddhismus einen ganz wesentlichen Bereich der buddhistischen Lehre, nämlich den intuitiven, klaren Weisheits-Geist.

Schon in alten Zeiten und lange, bevor sich der Buddhismus in Süd- und Ostasien verbreitete, schrieb man dort den Spiegeln ganz besondere Eigenschaften zu, sie dienten als wichtige Gleichnisse. Spiegel sind Symbole für die intuitive, umfassende Weisheit und den klaren Geist der Menschen, aber auch aller anderen Lebewesen. Das ist für den Westen verblüffend: Haben also zum Beispiel auch Tiere diesen Weisheitsgeist?

Mit der griechischen Tradition ist es geradezu das Privileg des Menschen, dass er im Gegensatz zu den Tieren ein geistiges Wesen ist, und darauf gründet er seine Überlegenheit. Ob Sklaven auch den griechischen und römischen Freiheitsgeist und eine Seele hatten, war damals ein umstrittenes Diskussionsthema der Intellektuelle; die meisten lehnten eine solche Idee rundweg ab. Der intuitive Geist, den Dōgen meint, überschreitet aber bei Weitem den denkenden Verstand und die unterscheidende Intelligenz, die im Westen so sehr geschätzt werden.

Die Spiegel wurden zur Zeit Dōgens in China und Japan in einem aufwändigen und langwierigen Arbeitsprozess hergestellt: Zunächst goss man eine dünne Platte aus Messing oder Bronze, die dann in zahllosen, immer feiner werdenden Arbeitsgängen geschliffen und spiegelblank poliert werden musste, bis alle Unebenheiten verschwunden waren und man die sich darin spiegelnden Dinge klar sehen konnte. Den Spiegeln wurde oft magische Kraft zugeschrieben.

So nahm man zum Beispiel an, dass in einem Spiegel die Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft klar erkennbar seien, sodass der Kaiser mithilfe des Spiegels sein Land mit großer Weisheit und Umsicht in die Zukunft führen könne. Er könne damit auch Lügner und gefährliche Aufrührer erkennen und somit sich und den Staat schützen. Im Zen-Buddhismus hat das keine Bedeutung, denn dort liegt der Schwerpunkt auf der intuitiven Klarheit des Augenblicks; dort ist der Spiegel ein ganz wichtiges Symbol für einen klaren, offenen Geist.

Dōgen erzählt vom frühen buddhistischen indischen Meister Geyāshata, von dem berichtet wurde, dass er seit seiner Geburt einen Spiegel mit sich führte, der ihn bei allen Handlungen und Bewegungen während des Tages und der Nacht begleitete. Dies war ein Symbol für die große intuitive Weisheit, die Geyāshata bereits als Kind besessen haben soll. Haben wir nicht alle einen solchen Weisheits-Spiegel seit der Geburt mit uns?

Anhand dieses Gleichnisses erklärt uns Dōgen, dass der Geist dieser intuitiven Weisheit des Spiegels kein oberflächlich angelerntes Wissen und auch keine intellektuelle Kombinationsfähigkeit ist, denn Kinder hätten diese mentalen Fähigkeiten noch nicht. Wer Kinder genau beobachtet, ist immer wieder erstaunt, wie verständig und offen sie für alles Neue sind, und stellt fest, dass die Überheblichkeit mancher Erwachsener ihnen gegenüber völlig unangebracht ist. Shunryu Suzukis berühmtes Buch hat nicht zufällig den Titel Zen-Geist, Anfänger-Geist.[ii] Kinder besitzen oft eine intuitive Klarheit, über die wir nur staunen können.

Durch den Spiegel konnte der indische Meister Geyāshata nach der Legende bereits als Kind die Gegenwart und die Vergangenheit klar und transparent erkennen. Wie es in dieser Geschichte heißt, zeigte sich im Spiegel alles ohne jede Verzerrung, also ohne dass etwas weggelassen oder hinzugesetzt wurde. Der reine Geist sei wie ein klarer Spiegel.

Eine solche intuitive, klare Sicht ist genau die Weisheit, die auch im Zen-Buddhismus hoch geschätzt wird und die es ermöglicht, die ganze umfassende Wirklichkeit so zu erkennen, wie sie ist. Sie wird nicht durch Fantasien, Hoffnungen, Theorien usw. verstellt, verkleinert oder vergrößert. Dieser große, runde Spiegel der Buddhas weist laut Dōgen keinen trüben Fleck auf. Durch ihn können zwei Menschen im Buddha-Dharma dasselbe sehen. Sie haben denselben Geist, und ihre Augen sind vollkommen gleich.

 Der Spiegel wird so zum Symbol der echten Wahrheit, die jenseits von angehäuftem Wissen, kalter Intelligenz und Logik sowie auch von Begriffen wie Substanz, âtman, Ich-Kern oder Form ist. Der ewige Spiegel wird im Gleichnis treffend als die überragende Eigenschaft der Buddhas bezeichnet; das ist der erwachte, klare Geist. Dabei sollten wir uns erinnern, dass im Buddhismus das Denken und die schöpferische Kreativität keineswegs gering geschätzt oder gar abgelehnt werden, ganz im Gegenteil. Aber man muss sich immer bewusst sein, dass man damit nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen kann.





[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 1, S. 270 ff.; englische Fassung, Bd. 1, S. 239 ff.
[ii] Suzuki, Shunryu: Zen-Geist, Anfänger-Geist

Donnerstag, 26. November 2015

Das Es jenseits des bewegten Windes


Dōgen schildert eine wichtige Kōan-Geschichte des ES, die allerdings häufig Anlass zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen gegeben habe. Er berichtet, dass Meister Daikan Enō (Hui Neng) hinzukam, als sich zwei Mönche ein heftiges Wortgefecht lieferten.

Die beiden stammten aus Indien, also aus dem Land, von dem der Buddhismus nach China gekommen war und das dort ein hohes Ansehen genoss. Man könnte demnach meinen, dass diese Mönche in der Lehre und Praxis des Buddhismus besonders klar und erfahren gewesen waren.

Der eine behauptete:
„Die Flagge bewegt sich!“

Der andere widersprach vehement:
„Der Wind bewegt sich!“

So ging die erhitzte Diskussion hin und her. Wer hatte recht? Daikan Enō war zu jener Zeit einfacher Laienarbeiter, also von tiefem Rang im Klostern, er besaß, aber ohne Zweifel bereits die große Klarheit im Buddha-Dharma. Er sagte:

„Jenseits des sich bewegenden Windes und der sich bewegenden Flagge ist das ES. Ihr selbst seid (nur) der sich bewegende Geist.“

Was bedeutet nun dieses berühmte Kōan? Ist es nicht richtig, dass Wind und Flagge sich bewegen? Haben vielleicht beide recht? Aber wozu dann der heftige Streit?

Häufig wird dieses Kōan viel zu eng verstanden, dass Daikan Enō nämlich die Mönche berichtigte, weil sie ein nur materielles Verständnis der Situation von Wind und Flagge hatten aber beide einen unruhigen, streitsüchtigen subjektiven Geist besaßen. Laut Dōgen trifft dies jedoch nicht zu. Er betont, dass Daikan Enō sagte,

„dass der Wind, die Fahne und das Bewegen alles der Geist (des umfassende ES) ist.“

Er unterschied also nicht vordergründig nach Ursache und Wirkung, nach Subjekt und Objekt, nach diskutierenden Mönchen und deren streitendem subjektiven Geist, sondern sprach von der umfassenden Wahrheit, die Dōgen hier als das Es bezeichnet. Die große Einheit von Menschen, Wind, Fahne, Flaggenmast usw. übersteigt eine spitzfindige Diskussion auf der physikalisch-materiellen aber auch auf der subjektiven Ebene, ob sich der Wind oder die Fahne bewegt.

Streitende Menschen verlieren sich im Streit der Egos. Das ES ist die Einheit der großen wunderbaren Wirklichkeit; das Es ist beruhigt wie Buddha im sutta des Mittleren Weges sagt.

Dōgen zitiert weiterhin den berühmten Dialog zwischen dem großen Meister Sekito Kisen und Yakusan Igen. Letzterer kannte sich mit der Lehre und Praxis des Buddhismus sehr gut aus und fragte Sekito Kisen, was es bedeute, dass das direkte Zeigen auf den menschlichen Geist die Verwirklichung der Natur und des Buddha-Werdens ist. Dies habe er noch nicht klären können. Der große Meister Sekito antwortete scheinbar paradox:

"Wie jenes ES zu sein, ist unmöglich. Aber wie jenes ES nicht zu sein, ist (ebenfalls) unmöglich."

Auch beides zusammen sei nicht möglich. Dieses Kōan ist nicht leicht zu verstehen, was bedeutet es?

Dōgen erläutert, dass mit der begrenzten Möglichkeit von Worten und der Logik das ES, das uns je als Wahrheit begegnet, unmöglich ausgedrückt werden kann. Das ist mit der Formulierung gemeint, direkt auf den Geist und das Herz des Menschen zu zeigen. Die Wirklichkeit dieses Geistes ist eine andere Ebene und eine andere Lebensdimension als Denken und Reden. Solche Grenzen des Denkens und Redens sollten wir in aller Klarheit anerkennen, um der Wirklichkeit des ES und des Geistes zu begegnen, sie zu erfahren und mit ihr eins zu werden.

„Das ES (vollständig) zu verstehen, ist unmöglich. Das ES (vollständig) zu erkennen, ist unmöglich“,

hält Dōgen abschließend fest. Und Geist und ES sind klare Wirklichkeit. Aber ohne das Reden diesseits des ES geht es oft nicht, gerade durch diese Grenze können wir eine Ahnung vom ES bekommen.


Montag, 16. November 2015

Ist es der Klang des Windes?




Dōgen erzählt eine im Buddhismus berühmte Geschichte von dem indischen Meister Samghanandi und seinem Dharma-Nachfolger Geyāshata. Der Meister hörte die Glocken in einer Halle des Klosters läuten, weil der Wind hindurchwehte. Er fragte seinen Schüler:

„Ist es der Klang des Windes? Ist es der Klang der Glocken?“
Geyāshata antwortete:
„ES ist jenseits des Läutens des Windes und jenseits des Läutens der Glocken. ES ist das Läuten meines Geistes.“

Der große Meister Samghanandi fragte:
„Was ist dann der Geist?“
Und der Schüler erwiderte:
„Der Grund (dass ES läutet) liegt darin, dass alles ruhig ist.“

Der Meister war sehr zufrieden über die klaren Aussagen seines Schülers, der später auch sein rechtmäßiger Nachfolger wurde.

Dōgen untersucht nun diese Geschichte und legt dabei den Schwerpunkt auf die Frage: Warum ist es mein Geist, der läutet? Seine Antwort lautet:

"Mein läutender Geist ist das ES“,

das uns jäh begegnet und unfassbar ist. Es ist dabei die Frage, um wessen Geist es sich eigentlich handelt. Ist es der subjektive Geist des Schülers? Wie kann man den Widerspruch erklären, dass das Läuten gerade nicht geräuschlos ist, es aber heißt, das Läuten des Geistes des Schülers sei ganz ruhig.

Mit diesem Geist sei das unfassbare ES gemeint, erläutert Dōgen, also die Wahrheit oder die Wirklichkeit. In dem Augenblick, in dem die Glocken durch die Einwirkung des Windes läuten, öffnet sich unvermittelt der Geist zur großen Wahrheit, die ruhig ist wie der Geist selbst, der nicht mehr individuell zu verstehen ist. Dann kann man zwischen dem Wind, den Glocken und dem Geist nicht mehr unterscheiden, denn die gesamte unmittelbar erlebte Situation überschreitet die Trennung von Subjekt und Objekt, übersteigt also die Dualität.

Es geht dabei nicht um philosophische Fragen der Existenz oder der Nicht-Existenz des Geistes, sondern beim Läuten der Glocken ereignet sich die Verwirklichung dieser beiden großen Meister jäh im Augenblick. Die Ruhe kann dabei nicht physikalisch verstanden werde, denn das Läuten ist ja deutlich zu hören. Wenn sich der wahre Geist nicht ereignet hätte, bliebe es bei einer „objektiven“ Beschreibung des physikalischen Zustandes mithilfe der Schallwellen oder beim subjektiven Empfinden der beiden Zuhörenden. Dies wäre nach Dōgen aber nur ein oberflächliches Erlernen der Wahrheit und nicht die Klarheit des Buddhismus.

Der höchste Zustand der Bodhi-Wahrheit und der Schatz des wahren Dharma-Auges werden als Ruhe und Stille bezeichnet. Sie sind die Ausgeglichenheit und Balance bei der Zazen-Praxis, in welcher der gewöhnliche denkende Geist und der gewöhnliche empfindende Körper abfallen. Der läutende Geist ist also der Zustand im Zazen, er ist vom denkenden Verstand nicht vollständig erfassbar und mit Worten nur begrenzt sagbar.

Ein solcher Zustand ist ganz selbstverständlich und natürlich.


Mittwoch, 4. November 2015

Das Es ist der klare Zen-Geist


Den Augenblick, wenn sich zwei Menschen jäh und wirklich begegnen, vergleicht Dōgen damit, dass der Frühling die Frühlingszeit des Augenblicks trifft und dass sich eine solche Weisheit ohne großartige Planung und ohne egoistische Absicht unmittelbar ereignet. Denken und Bewusstsein spielen dabei eine untergeordnete Rolle, und es ist unwichtig, ob ein solcher Vorgang im Augenblick bewusst ist oder nicht.

„Das ES ereignet sich, weil der Körper-und-Geist (der Menschen), die solche Weisheit haben, schon nicht ihr eigener ist. Dies ist der Zustand, von dem es heißt, der Mensch könne  vertrauen und sofort verstehen.“

Bei unseren oft nutzlosen und planlosen Anstrengungen des Lebens wissen wir nicht, dass wir diese Perle der Weisheit und des klaren Zen-Geistes, der den Körper einschließt, besitzen. Dōgen spricht davon, dass dieser Körper-und-Geist einem Juwel gleicht, der von einem ganz gewöhnlichen Stein umschlossen ist.
Und weder der äußere Stein noch der innere Juwel wissen voneinander, denn der Juwel ist noch nicht zur klaren Wirklichkeit geworden. Eine solche Verwirklichung bedarf jedoch nicht des angehäuften Wissens und nicht der intellektuellen Schärfe des Verstandes.

Es gibt die Worte: "Jene (Menschen), die ohne Weisheit sind und (immer) zweifeln, verlieren (die Weisheit des Geistes) für immer.“

Nishijima und Cross erklären an dieser Stelle unmissverständlich:

„Verwirklichung im Zazen ist zum Beispiel die innewohnende Funktion des Menschen, die den erlernten mentalen Fähigkeiten wie Erwartung, Wissen und Denken überlegen ist.“[i]

Solche Augenblicke des Zen-Geistes sind von unmittelbarer Kraft und Klarheit. Dōgen vergleicht sie mit der Existenz der Pinien im Frühling und den Chrysanthemen im Herbst. Diese Augenblicke sind keine Idealisierungen, Fantasiegebilde oder spektakuläre Visualisierungen. Sie sind von direkter Energie und Kraft wie der Schuss, der sich vom Bogen wie von selbst löst und nicht den geringsten Raum für Zweifel oder intellektuelle Spitzfindigkeiten lässt.

„Weil (Daikan Enō) ein Mensch des Es ist, ist er erleuchtet.“

Dōgen schildert die berühmte Begegnung von Daikan Enō (Hui Neng) mit dessen eigenen Meister, die deshalb etwas ganz Besonderes ist, weil Daikan Enō nicht als angesehener Mönch im Kloster lernte und praktizierte. Dazu fehlten ihm die formalen Voraussetzungen, deshalb lebte er nur als einfacher Arbeiter im hinteren Teil des Klosters und hatte die Aufgabe, Reis für die Anderen zu stampfen und zu sieben.

Eines Tages kam sein Meister Daiman um Mitternacht heimlich, ohne dass es die anderen Mitglieder des Klosters bemerkten, in den Raum, wo Daikan Enō arbeitete, und fragte ihn, ob der Reis schon weiß sei oder nicht. Daikan Enō antwortete:

 „Er ist weiß, aber noch nicht gesiebt.“

Das war der große Augenblick des gemeinsamen ES! Erstaunlicherweise ergriff sein Meister Daiman daraufhin selbst den Reisstößel und stampfte einmal in den Mörser; Daikan Enō siebte dann den Reis mit dem geflochtenen Korb: Nicht zwei sondern einer.

Laut der Überlieferung war dies der Augenblick, als der Zustand der Wahrheit des Zen-Geistes zwischen dem Meister und dem Schüler zur Einheit kam. Es war ihnen selbst wohl nicht bewusst, und es übersteigt das Verstehen anderer. Aber die Übertragung des Dharma und die Übertragung der buddhistischen Robe fanden genau in diesem Augenblick der Wirklichkeit statt. Und damit nahm das "goldenen Zeitalter" des Zen-Buddhismus seinen Lauf.






[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 124, Fußnote 29

Montag, 26. Oktober 2015

Das ES des Meisters ließ den Kosmos aufleuchten


Der große Meister Zen-Daikan Enō (Hui Neng) war zunächt als Waldarbeiter und Holzsammler in den Bergen und Wäldern in Shinnshu zu Hause. Ich vermute, dass er mit größter Offenheit und Klarheit in und mit der Natur lebte. Er kannte den Wald, die Pflanzen und Berge, ohne viel darüber zu reden, sie waren seine Freunde. Sein Vater war früh gestorben, und mit seinen kleinen Verdiensten ernährte er auch seine mittellose Mutter.

„Durch seine Anstrengung und seinen Fleiß unter den grünen Pinien hatte er die Wurzeln (der Täuschungen) ausgerottet, aber wie konnte er von den ewigen Lehren wissen, die den Geist erleuchten?“ 

Daikan Enō konnte, so schildert es die Überlieferung, weder lesen noch schreiben und hatte daher niemals in einem Kloster oder an irgendeinem Ort in den Sūtras gelesen. Und er hatte keinen buddhistischen Lehrer, unter und mit dem er sich in der Praxis „reinigen“ konnte. Das ist eine ganz erstaunliche Ausgangslage für diesen äußerst kreativen und klaren Zen-Meister, der später große Schüler hatte, die selbst Meister wurden und durch die der Zen-Buddhismus seine goldene Zeit in China erlebte.

Es wird berichtet, dass Daikan Enō auf einem Marktplatz zufällig ein Sūtra von einem Zen-Mönch hörte, nachdem er aus dem Wald zurückgekehrt war. Bis dahin wusste er überhaupt nichts vom buddhistischen Weg. Niemand hatte ihn ermutigt oder auch nur dazu angeregt, die buddhistische Lehre und Praxis zu erlernen.

„Er wusste nicht, dass in seinem Gewand (eines einfachen Waldmannes) eine verborgene Perle lag, die den Kosmos aufleuchten lassen wird. Plötzlich (durch das Diamant-Sūtra) erleuchtet (und unmittelbar ergriffen), verließ er seine alte Mutter und machte sich auf den Weg, einen Lehrer zu suchen.“

Bevor er sich aufmachte, war es ihm noch gelungen, seine Mutter zu versorgen. Der Buddha-Dharma hatte ganz plötzlich in seinem Leben das größte Gewicht bekommen:

Das ES war in jäh begegnet. Er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass sein Leben nach dieser Begegnung mit dem Es des Zen-Geistes eine neue Richtung genommen hatte, der er nun mit aller Konsequenz und Klarheit folgte.

„Dies ist genau die Wahrheit jener Menschen, die Weisheit haben, wenn sie (den Dharma) hören. Sie sind fähig zu vertrauen und verstehen sofort.“

Dōgen erläutert, dass eine solche Weisheit des Geistes nicht von anderen Menschen erlernt wird und auch nicht durch uns selbst entsteht:

„Weisheit kann Weisheit direkt aus Weisheit herausholen.“

Eine wirklich echte und wahre Lehre wie der Zen-Buddhismus kann uns also unmittelbar und unerwartet erfassen, und plötzlich stehen wir an einer Weggabelung unseres Lebens. Ganz neue Möglichkeiten, Fähigkeiten und Freiheiten eröffnen sich plötzlich. Ein solches Ereignis lässt sich nur unzureichend auf Umstände und Ursachen zurückführen,

"aber weil eine solche Wahrheit im Inneren und direkt in unseren Körpern gegenwärtig ist, verstehen sie die Dharma-Wahrheit sofort, wenn sie diese hören.“


Montag, 19. Oktober 2015

Das ES begegnet uns unvermittelt



Durch die Worte von Herrigels Meister, „Es hat geschossen“, können wir besser nachvollziehen, wie sich das

ES bei der Zazen-Praxis ereignet, das über Worte und Denken hinausgeht,

aber gerade der umfassende Zen-Geist ist. Dieses ES wird vielleicht intellektuell als vage und nicht konkret fassbar empfunden, aber es ist genau die Wahrheit der buddhistischen Lehre,

denn das ES existiert in der Wirklichkeit.

Wenn man es erlebt, ist man locker, frei und klar, ohne lasch oder träge zu sein, und erlebt einen Zustand des Friedens und der Freude, wie Dōgen dies für die Zazen-Praxis und den Zen-Geist formuliert. Dieses ES oder die Wahrheit jenseits von Denken und Wahrnehmen oder von Worten und Sätzen geschieht je im gegenwärtigen Augenblick, hebt die Trennung von Subjekt und Objekt auf und löst damit auch die Grenzen des isolierten Ich auf, sodass sich die umfassende Einheit mit dem Universum verwirklicht, das große Mysterium unseres Lebens:

„Das Selbst empfängt das (wahre) Selbst.“

Ich möchte noch hinzufügen, dass wir auch in den westlichen Sprachen bestimmte Formulierungen haben, die für Situationen verwendet werden, in denen man nicht einfach ein Subjekt oder Objekt bezeichnen kann. Beispiele hierfür sind: es regnet, es schneit, es stürmt, es ereignet sich usw. Grammatikalisch gesehen gehören diese Formulierungen weder zum Aktiv, bei dem jemand etwas tut, noch zum Passiv, bei dem jemand etwas erleidet, sondern sie liegen in der Mitte.

 In einem solchen Augenblick gibt es kein Subjekt mehr, das handelt, und kein Objekt, mit dem etwas getan wird, denn eine solche Unterscheidung kann das Wesentliche dieser Wirklichkeit, die uns oft unvermittelt und unerwartet begegnet, nicht sinnvoll beschreiben. Die tiefe Wirklichkeit ist mehr als Subjekt und Objekt!

Der Augenblick des Abschießens eines Pfeils ist viel kürzer als ein Gedanke. Er entwickelt eine unmittelbare wirkliche Energie für Körper-und-Geist, die der Mensch direkt erfährt. Ist das ein kosmische Energie? Genau in diesem gegenwärtigen Augenblick offenbart und verwirklicht sich nach meinem Verständnis der Zen-Geist. Ein solcher Augenblick der Wirklichkeit, wenn uns der wunderbare und zugleich reale Geist begegnet und erfasst, besitzt eine direkte Klarheit, fast möchte ich sagen Selbstverständlichkeit:

Das ist es!“

Im nächsten Beitrag möchte ich die bisherigen Überlegungen zum Zen-Geist und zur unfassbaren Wirklichkeit des ES vertiefen und von einer Kōan-Geschichte über Daikan Enō, den wohl größten Zen-Meister vor Dōgen, berichten.


Mittwoch, 14. Oktober 2015

ES hat geschossen




Das japanische Japanischen Wort Inmo.[i] bedeutet ursprünglich „etwas ganz Selbstverständliches“, das „Etwas“ und das „Es“. Häufig wird es mit „Soheit“ übersetzt und meint damit etwas Tatsächliches, das so selbstverständlich ist, dass man es eigentlich nicht erklären müsste. Und in der Tat kann man es mit Worten nur unzureichend beschreiben. Nach Zen-buddhistischer Lehre sind die Wirklichkeit und Wahrheit durch Denken und Überlegen nicht vollständig fassbar und mit der Sprache nicht oder nur sehr begrenzt auszudrücken.

Der Zen-Geist kann nicht erfasst werden, aber er ist wirklich und real. Genau um diese Wirklichkeit geht es auf dem Buddha-Weg zum Erwachen, zur Klarheit und zur Freiheit in unserem Leben; das ist der Zen-Geist. Für europäisches Denken mag die Unbestimmbarkeit der umfassenden Wahrheit einerseits und deren klare Realität andererseits ein unüberbrückbarer Widerspruch sein. Dieser besteht aber nur auf der Ebene des unterscheidenden Denkens, nicht im Augenblick des Handelns selbst.

Ich möchte nun die Bedeutung von Inmo, also des Etwas, anhand des bekannten Buches Zen in der Kunst des Bogenschießens von Eugen Herrigel erläutern.[ii] Er kam als deutscher Philosoph in den 1920er-Jahren nach Japan, um dort zu lehren und den Buddhismus, insbesondere den Geist im Zen-Buddhismus, zu studieren. Seine dortigen Freunde überzeugten ihn, dass er eine praktische, buddhistische Disziplin erlernen müsse, um diesen Geist zu „verstehen“, und so wählte er die Kunst des Bogenschießens.

n seinem Buch berichtet er, wie er sich unter der Leitung eines erfahrenen Meisters Schritt für Schritt in die körperlichen und geistigen Bereiche des Bogenschießens einarbeitete und dabei so manche schwerwiegende, grundsätzliche Fehler beging, die nicht zuletzt durch seine europäische kulturelle Herkunft und seine Philosophie bedingt waren. Unter anderem bereitete es ihm ein großes Problem, dass sich der Schuss des Pfeils in der höchsten Spannung des Körpers und Bogens wie von selbst lösen sollte, was ihm immer wieder gründlich misslang. Sein bewusster Wille, den Schuss zu lösen, erbrachte nicht die erstrebte Wirkung, dass der Schuss „wie eine reife Frucht“ fallen sollte.

Je angestrengter er versuchte, den Schuss willentlich auszulösen, desto mehr verkrampfte er, und desto mehr wich er von dem Geist der „reifen Frucht“ ab, den sein Meister ihm vorgegeben hatte. Dies führte schließlich dazu, dass der Meister den Unterricht abrupt beenden wollte, weil sein Schüler, wie er meinte, zu eigensinnig vorging, um endlich „Erfolge“ zu erzielen, wodurch er gerade die Aufmerksamkeit für das richtige Spannen und Auslösen des Schusses vernachlässigte. Nur durch Vermittlung seiner japanischen Freunde konnte Herrigel sein Training bei dem Meister doch noch fortsetzen, und er wurde dabei viel einfacher und bescheidener, so schreibt er.

Eines Tages löste sich dann ein Schuss wie von selbst genau im Augenblick der höchsten Spannung des Bogens und des Körper-und-Geistes, die gleichzeitig locker und natürlich war. Das war es! Das war das lange gesuchte „Etwas“! In der vollständig lockeren Haltung von Körper-und-Geist und gleichzeitig in der höchsten Spannung des Bogenschützens musste sich der Schuss von selbst lösen. Zur größten Überraschung des Philosophen Herrigel verneigte sich dann sein Meister vor ihm und dem Bogen und sagte:

ES hat geschossen.“

Der Meister erläuterte anschließend, dass die Ehrung durch die Verbeugung nicht ihm als Person gegolten habe, sondern dem Umstand, dass sich das „Etwas“ des Körper-und-Geistes verwirklicht habe. Er wollte damit ausdrücken, dass dieses Etwas genau die buddhistische Wahrheit ist, die beim Handeln über das Denken, die Wahrnehmung und alles Persönliche hinausgeht. Es ist zugleich die Spannung, Klarheit und das entspannte Gleichgewicht des Geistes und des Körpers.

In diesem Sinne verwendet der Zen-Meister Kurt Österle (KyuSei) als Titel für sein Buch über den Bogenweg den Kōan-Ausspruch

Wenn der Bogen zerbrochen ist – dann schieß!“[iii]

Damit wird klar, dass nicht ein materielles, physikalisches Verständnis des Bogens gemeint ist. Der isolierte, unnatürliche Geist „schießt“ nicht. Der Bogen steht hier aus meiner Sicht für das alte Ego, das zerbrechen muss, damit es wirklich schießt.






[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 2, S. 151 ff.; englische Fassung, Bd. 2, S. 119 ff.
[ii] Herrigel, Eugen: Zen in der Kunst des Bogenschießens. Der Zen-Weg
[iii] Österle, Kurt: Wenn der Bogen zerbrochen ist – dann schieß! Mit dem Bogenweg die Kunst des Lebens meistern

Montag, 5. Oktober 2015

Der Geist wandert gerade nicht in ferne Zeiten und Welten ab


Die Bilder im Geist des Menschen, die entstehen, wenn er im Gleichgewicht der Wirklichkeit ist,[i] werden je im Augenblick in der Einheit mit der wahrgenommenen Umwelt erzeugt. Sie sind also keine eingebildeten Illusionen oder Imaginationen, sondern die Wirklichkeit selbst ohne Dualität.

Sie sind dann real, weil der Geist nicht aus der Gegenwart und vom jeweiligen Ort in ferne Zeiten und Welten abwandert. Es sind keine ungenauen oder verzerrten Bilder der Erinnerung aus der Vergangenheit oder Vorstellungen von der Zukunft, die häufig mit der jetzigen Realität verwechselt werden und sich vor die Wahrnehmung der Bilder der jeweiligen Gegenwart schieben, indem sie diese verdecken oder verzerren.

Nishijima und Cross betonen, wie schwer es oft ist, diese beiden Typen von Bildern zu unterscheiden.[ii] Der gelehrte Inder Sanzō war sicher überhaupt nicht in der Lage, eine solche Unterscheidung zu treffen.

„Die Geist-Leser mögen die Bilder (zwar) verschwommen in den äußeren Umrissen mit der Wahrnehmung erkennen, die im Geist (der anderen) aufsteigen. Bei Abwesenheit (solcher) Bilder im Geist sind sie jedoch verblüfft (und hilflos), das muss lachhaft sein.“

Bekanntlich verschwinden Gedanken, Vorstellungen und Bilder gerade im Zustand des Zazen. Die bisweilen gepriesenen übernatürlichen Kräfte sollten daher aus Dōgens Sicht nicht weiter beachtet werden, und er erklärt zusammenfassend, „dass die Kraft, den Geist anderer zu lesen, nicht (einmal) die Außenbereiche der Weisheit Buddhas erreichen kann“. Deshalb sei der indische Gelehrte Sanzō ein gewöhnlicher Mann. Ein wirklicher Austausch, ein Dialog und eine wirkliche Begegnung mit dem Landesmeister seien daher unmöglich.

Mit Nachdruck erläutert Dōgen, dass Meister Daisho denselben Stand wie Gautama Buddha selbst erlangt habe; auch unter den Vorfahren im Dharma des alten China sei er ein ganz herausragender großer Meister. Eine mutige Aussage Dōgens, denn im Buddhismus wird Gautama Buddha häufig fast göttergleich und unerreichbar für alle anderen Menschen verehrt. Dies widerspricht allerdings der buddhistischen Grundlehre, dass jeder Mensch die Fähigkeit besitzt, die Wahrheit und Erleuchtung zu erlangen, also den Geist der Buddha-Natur verwirklichen kann.

Dōgen seine Überlegungen noch einmal zusammen: Die Kritik des nationalen Meisters Daisho an dem Gelehrten Sanzō sei vollkommen berechtigt, weil dieser niemals den Buddha-Dharma gesehen, gehört und gelernt habe. Er habe damit die große Chance vertan, selbst von Meister Daisho auf dem Weg des Buddha-Dharma zu lernen und sich auf seiner China-Reise von den dortigen Vertretern des Zen anregen zu lassen.
 Durch seine Anmaßung, selbst zu glauben und öffentlich zu verkünden, er könne den Geist des Landesmeisters erkennen, habe er sich vollständig ins Abseits gestellt. Es nütze ihm auch nichts, dass er aus Indien gekommen war, das im China der damaligen Zeit sehr geschätzt wurde, weil dort Buddha gelebt hatte und die Lehre von dort durch Bodhidharma in den Osten gebracht worden war.

„Wenn wir jetzt sagen, dass es die Kraft gibt, den Geist der anderen im Buddha-Dharma zu erkennen, muss es die Kraft geben, den Körper der anderen zu kennen, muss es die Kraft geben, die Faust (das Handeln) der anderen zu kennen, und es muss die Kraft geben, die Augen der anderen zu erkennen.“

Für Dōgen gibt es eine Einheit, welche die hoch entwickelten Zen-Meister, die zur Wahrheit gelangt sind, unauflösbar verbindet:

„Geist, Körper, Handeln und Erkennen mit den Augen müssen auf dem Buddha-Weg so weit entwickelt worden sein, dass (es möglich ist), einen anderen im Buddha-Dharma zu erkennen.“

Dies leuchtet auch unmittelbar ein: Wenn wir einem wahren Zen-Meister oder einer wahren Zen-Meisterin direkt begegnen, findet ein unmittelbares intuitives und klares Erkennen des Zustandes des anderen Menschen statt. Genau im Augenblick besteht dann eine Einheit zwischen den Menschen, also eine Verschmelzung des Geistes beider. Dadurch sind Dialoge möglich, die über die enge Bedeutung der Worte und Sätze hinausgehen. Der Dialog überschreitet dann die Grenzen der Worte und des üblichen Denkens. Der Austausch von Worten und Begriffen geht in einen Zustand einer höheren lebenden Einheit über, die durch Klarheit, Kreativität und hohe Relevanz für beide gekennzeichnet ist.

„(Weil) das so ist, muss es die Kraft geben, den eigenen Geist zu erkennen, und muss es die Kraft geben, den eigenen Körper zu erkennen. Wenn ein solcher Zustand schon besteht, mag die Selbststeuerung unseres eigenen Geistes nichts anderes als die Kraft sein, den eigenen Geist zu erkennen.“

Grundlage der Fähigkeit, den Geist anderer zu „erkennen“, ist die Fähigkeit, sich selbst klar zu erkennen, und zwar in der Ganzheit von Körper-und-Geist. Aber letztlich kann der Geist niemals vollständig erfasst werden.





[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 4, Seite 94, Fußnote 30
[ii] vgl. ZEN Schatzkammer, Bd. 3, Kap. 73, S. 111 ff.: „Die 37 Elemente des Erwachens (Sanjūshichi-bon bodai bunpō)

Montag, 28. September 2015

Was war die Absicht von Meister Daisho?


Dōgen geht auf die Absicht des großen Landesmeisters Daisho ein. Dieser forderte den indischen Gelehrten Sanzō auf:

„Sag mir, wo ich jetzt bin, (dieser) alte Mönch?“

Dies zielte darauf ab, ob der indische Gelehrte Sanzō wahre Augen hatte, um den Buddha-Dharma wirklich zu sehen und zu hören. Denn mit theoretischem Wissen allein besitzt man nicht die Kraft, sich selbst und den Geist anderer richtig zu erkennen! Das wissen wir auch aus der neueren Gehirnforschung. Dies gilt umso mehr, wenn es sich um den Geist der Lehre und Praxis des Buddha-Dharma handelt.

Nun verfolgt Dōgen eingehend die Frage, was genau in diesem Augenblick und an diesem Ort wirklich geschieht. Das führt zu der wichtigen Aussage von Meister Fuke, die im Kapitel „Die Wirklichkeit des Raumes“[i] erläutert wird:

„Dies ist ein Ort, wo etwas Unfassbares existiert.“

Meister Fuke ist der große Meister, auf den sich die Meditations-Flöte der Shakuhachi beruft. Da ich fast täglich selbst auf dieser Bambus-Flöte spiele, muss ich häufig an ihn denken: ein ganz ungewöhnlicher ehrlicher ´Zen-Knochen´.

Die Antworten des Inders Sanzō sind allerdings viel zu vordergründig und materiell, weil sie die angeblich äußere Welt zum Inhalt haben. Sie basieren daher auf dem Dualismus, also auf der Trennung von Subjekt und Objekt, und gehören nur der zweiten Lebensphilosophie nach Nishijima Roshi an. Der Dualismus wird bei der Shakuhachi gerade ausgeschaltet.

Für den Meister Daisho stand nun fest, dass der Gelehrte keine Fähigkeit besaß, den Geist eines buddhistischen Meisters zu erkennen oder sogar in dessen Geist zu lesen. Dies musste sich der indische Gelehrte gefallen lassen, ohne dass er den verbalen Angriff parieren konnte. Sein Ansehen war damit sicherlich ruiniert, und dies wurde wohl auch dem Kaiser übermittelt.

Damit unterstreicht Dōgen, dass der Inder gegenüber dem Kaiser und dem Landesmeister mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten geprahlt hatte, und er macht deutlich, dass sich Sanzō zu keinem Zeitpunkt des Gesprächs im Zustand des Buddha-Dharma, also des Erwachens oder der Erleuchtung, befand. Dafür findet er drastische Worte:

„Es ist der höchste Schwachsinn zu meinen, dass (der Körper-und-Geist des Meisters) auf demselben Niveau eines Lehrers der Sūtras und Kommentare ist.“

Dōgen spitzt seine Kritik weiter zu:
„Was in Indien ‚die Kraft, den Geist anderer zu kennen‘ genannt wird, sollte außerdem (besser wie folgt) bezeichnet werden: ‚Die Kraft, Bilder im Geist der anderen zu erkennen‘.“

Derartige Bilder und Ideen sind aber nach Zen-buddhistischer Lehre weitgehend Illusionen und Vorstellungen. Sie sind nicht in der Einheit der Wirklichkeit des offenen Selbst[ii] mit anderen Menschen und der Umwelt, sondern isolierte Tätigkeiten des Gehirns; sie bleiben also nach der Lehre Nishijima Roshis auf der ersten Ebene der Ideen und des Idealismus hängen. Auf dieser Ebene gibt es vor allem die Traumbilder, wenn der Geist aus dem Hier und Jetzt in erträumte oder gefürchtete Scheinwelten abwandert.

Laut Dōgen mag es in Indien bestimmte Bevölkerungsgruppen geben, die sich eine Kraft erarbeitet haben, die Gedanken anderer zu lesen. Aber ohne den Bodhi-Geist zu erwecken und ohne die wahre Sichtweise und Praxis des großen Fahrzeugs (Mahāyāna) als Grundlage zu besitzen, ist diese Kraft für den Buddha-Weg nicht hilfreich. Er bezeichnet solche Menschen nicht als Buddhisten, sondern als gewöhnliche Menschen, die in die Wahrheit Buddhas nicht eingegangen sind.

Er begründet dies auch damit, dass die großen Meister und Vorfahren im Dharma sich nicht darum gekümmert haben, als Erstes die Kraft zu erlernen, den Geist anderer zu erkennen und in ihm zu lesen. Wenn dieser Fähigkeit eine so hohe Bedeutung zukäme, hätten die Meister sie sicher am Anfang auf dem Weg des Buddha-Dharma gelernt und praktiziert. Dōgen stellt also fest, dass diese sogenannten übernatürlichen Kräfte auf dem Buddha-Weg völlig nutzlos sind und keine Bedeutung haben.

Der entscheidende japanische Begriff nen, der hier im japanischen Text verwendet wird, hat noch eine wichtige Bedeutung im Zen: nämlich die Bilder im Geist des Menschen, die dann entstehen, wenn er im Gleichgewicht der Wirklichkeit ist.[iii]




[i] Kap. 77, ZEN Schatzkammer, Bd. 3, S. 162 ff.: „Die Wirklichkeit des Raumes (Kokū)
[ii] vgl. Macy, Joanna: Geliebte Erde, gereiftes Selbst. Mut zu Wandel und Erneuerung
[iii] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 4, Seite 94, Fußnote 30

Montag, 21. September 2015

Koan-Gespräche sind fruchtbare Dialoge


In dem berühmten Kōan-Gespräch des Zen-Meisters Daisho und des indischen buddhistische Gelehrten Sanzō geht es darum zu zu prüfen, ob Sanzō selbst überhaupt die Kraft und Klarheit hat, sich grundsätzlich mit dem wahren Geist, hier des Meisters Daisho, anderer zu beschäftigen und wesentliche Inhalte oder Bereiche dieses Geistes zu „erkennen“.

Darauf aufbauend kann es dann zu einem fruchtbaren und kreativen Dialog kommen. So vermute ich, dass Meister Daisho durchaus die Hoffnung hatte, ein weiterführendes Kōan-Gespräch mit dem Inder zu führen, um sich seinerseits von ihm anregen zu lassen.

Eine solche Situation wird häufig in den Kōan-Geschichten überliefert, denn sie sind keine einseitige Dharma-Lehre eines Meisters, sondern gewinnen ihre Kraft im Dialog, wobei scheinbare oder tatsächliche Gegensätze von zentraler Bedeutung sind und weiterführen: das ist die Einheit der Differenz. Nicht zuletzt gewinnen die Kōans dadurch für nachfolgende Schüler ihre große pädagogische Kraft.

In ähnlicher Weise lässt sich die Wirkung der philosophischen Dialoge des griechischen Denkers Platon erklären, der seine Lehre nicht systematisch, sondern weitgehend in Form von Dialogen konzipierte und an die Nachwelt übermittelte. Dabei liegt jedoch ein gravierender Unterschied zu den Kōan-Gesprächen des Zen vor: Platons Dialoge werden von fingierten Gesprächspartnern geführt, sie entspringen also allein seinem eigenen Geist, es findet kein realer geistiger Austausch zweier verschiedener Menschen statt.

Die Partner in den meisten Kōan-Gesprächen haben eine solide gemeinsame Basis der Lehre und Praxis, die bei dem Inder Sanzō allerdings fehlt. Deshalb ist es hier schwierig, überhaupt einen inhaltsreichen und weiterführenden Dialog zu führen.
Niklas Luhmann nennt dies die „Anschlussqualität“ des einen Gesprächspartners, die kreative Impulse für den anderen setzt, sodass dadurch eine wirkliche, innovative Kommunikation in Gang kommt, die mehr ist als die Addition des Denkens und Wissens der Einzelnen.

Eine solche soziale Kommunikation hat m. E. auch der Philosoph und Sozialkritiker Habermas im Sinn; er betont dabei die repressionsfreie Dialogführung. Allerdings fehlt bei ihm häufig ein wirklicher Dialog mit fundierten Antithesen, sodass die von ihm herausgearbeitete Fundmentalkritik zuweilen einseitig bleibt. Eine ausgewogene Argumentation würde für Manche vielleicht fruchtbarere Anregungen ergeben und Ähnlichkeiten zum Mittleren Weg aufweisen. Manche Schriften aus seinem Umfeld verlieren sich ganz in polemisch überspitzten Kritiken, die keine weitere Dialektik mehr zulassen und aus buddhistischer Sicht eher als Hemmnis einzuschätzen sind, das im Sūtra über die Grundlagen der Achtsamkeit als Zweifelsucht bezeichnet wird.[i]

Wenn Sanzō in der Lage gewesen wäre, die Frage von Meister Daisho wirklich aufzunehmen, hätte er durch seine eigene Erfahrung der Lehre und Praxis den wahren buddhistischen Geist kreativ ausdrücken und indische Kulturströmungen einbringen können. Das war aber nicht der Fall.

Dōgen analysiert die Frage Daishos in Form von Teilfragen –

"Was ist dieser alte Mönch?“, „Genau jetzt ist welche Art von Augenblick?“ –

und der berühmten Aussage im Zen über den Menschen:

Dies ist ein Ort, wo etwas Unfassbares existiert“.

Denn der Meister ist etwas Unfassbares, das niemals durch Worte und Denken vollständig erfasst werden kann, so wichtig unsere Sprache in der Tat ist. Körper-und-Geist sind einerseits ganz real und können nicht als pure Ideen oder Vorstellungen wegdiskutiert werden, aber andererseits sind sie mit dem analytischen Verstand und verbalen Beschreibungen nicht voll auszuloten.

Dōgen kritisiert an Sanzō nicht nur dessen konkrete eigenartigen Antworten, sondern stellt fest, dass Sanzō sich nicht ansatzweise auf dem Niveau des damaligen Chan-Buddhismus Chinas bewegen kann und überhaupt keine Voraussetzung für einen Dialog mitbringt. Dōgen fragt weiter, wie es überhaupt möglich sei, sich anzuschicken, den Geist eines anderen Meisters zu beurteilen und zu erkennen, wenn man nicht einmal Klarheit über seinen eigenen Körper und Geist hat. Und eine solche Klarheit benötigt die Praxis des Zazen:

"Das Denken aus dem Nicht-Denken"




[i] vgl. Gäng, Peter (Hrsg.): Meditationstexte des Pali-Buddhismus I, S. 39 f.

Montag, 14. September 2015

Spielt der große Meister Daisho mit einem Affen?



Der indische Gelehrte Sanzō, der angeblich den Geist Anderer lesen konnte, fragte Daisho:

„Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes. Warum seid ihr zum Westfluss gegangen, um ein Bootsrennen anzusehen?“

Dabei unterstellt er, dass der Meister einem Bootswettbewerb zuschauen möchte und erweckt den Eindruck, dass er dies im Geist des Meisters „gelesen“ habe.
In dieser Kōan-Geschichte wird nicht erwähnt, wo sich die beiden gerade befinden und ob vor ihren Augen überhaupt ein Bootsrennen stattfindet.

Offensichtlich spielt dies für das Wesentliche des Kōans keine Rolle. Ich gehe allerdings davon aus, dass beide nicht direkt am Wasser standen, sondern dass Sanzō meinte, dies im Geist Daishos erkannt zu haben. Er antwortet also nur in einer konkretistischen und wie mir scheint hoch spekulativen Weise auf die umfassend gemeinte buddhistische Frage Daishos:

"Sage mir, wo ich jetzt bin, (dieser) alte Mönch?“

Diese Frage bezieht sich direkt auf die Kernpunkte des Zen – nämlich dass das Jetzt die Sein-Zeit und damit die Wirklichkeit ist, und dass die Frage, was ein Mensch wirklich ist, und vor allem der Geist des Meisters nicht intellektuell zu erfassen sind.

Bei wohlwollender Interpretation des Kōan-Gesprächs kann man sagen, dass Daisho zunächst die Grundlagen mit dem Inder Sanzō abklären wollte, um dann die eigentliche Frage anzugehen, was ein anderer Mensch im Geist des Meisters oder eines normalen Menschen erkennen könne. Aber Daisho kann mit dieser Antwort des Inders überhaupt nicht zufrieden sein und wiederholt daher seine Frage. Er erhält darauf eine ähnliche und daher genauso inhaltsleere Antwort:

„Meister, ihr seid der Lehrer des ganzen Landes. Warum seid ihr auf der Tientsin-Brücke, um (jemanden) zu beobachten, der mit einem Affen spielt?“

Damit wird der Dialog noch skurriler. Wir können sicher davon ausgehen, dass der Meister in diesem Augenblick, in dem er mit seinem Gesprächspartner aus Indien die Kernpunkte des Buddhismus klären wollte, nicht an einen Affen denkt. Was Sanzō mit seiner Frage ansprechen oder gar bewirken wollte, bleibt weitgehend unklar und wird im Kōan-Gespräch auch nicht erläutert.

Daisho wiederholt seine Frage noch ein weiteres Mal und erhält dann aber nach einer längeren Pause überhaupt keine Antwort mehr. Der indische Gelehrte ist offensichtlich total verwirrt. Daraufhin kritisiert Daisho ihn scharf und spricht ihm die Fähigkeit ab, den Geist anderer zu erkennen. Sanzō konnte noch kein tiefgehendes Gespräch über die buddhistische Lehre und den Geist im Sinne des Buddha-Dharma führen. Was ist die Bedeutung dieses Kōans?

Dōgen beginnt seine Analyse des Gesprächs mit der grundsätzlichen Absicht Daishos bei der Prüfung des indischen Gelehrten:

„Beim ersten Mal sagt der nationale Meister: ‚Sage mir, wo (dieser) alte Mönch genau jetzt ist.‘
(Dies) ist seine fundamentale Absicht zu fragen, ob Sanzō Augen hat, den Buddha-Dharma zu sehen und zu hören.“

Der Zen-Meister sucht also eine gemeinsame Basis des Verständnisses der buddhistischen Lehre und Praxis und prüft im gleichen Zug, ob der Inder diese Grundlagen überhaupt zur Verfügung hat, um die schwierige Aufgabe realistisch anzugehen, wie der umfassende Geist eines Zen-Meisters erkannt werden kann.


Dienstag, 8. September 2015

Die Fähigkeit und Kraft, den Geist der anderen zu kennen


Dieses Kapitel des Shōbōgenzō heißt im Japanischen Tashintsū. Ta bedeutet im Deutschen „die anderen“, shin heißt „Geist“, und tsū ist die Abkürzung von jinzū und lässt sich übersetzen mit dem Begriff „mystische Kraft“. Der Titel lautet also wörtlich: „Die (mystische) Kraft, den Geist der anderen zu kennen“.[i] Bereits in einem anderen Kapitel über diese mystischen, „übernatürlichen“ Kräfte des Lebens[ii] hat Dōgen klargestellt, dass sie für den wahren Buddhismus nicht von großer Bedeutung sind, obgleich sich manche Menschen solche Energien und Kräfte intensiv wünschen.

 Viele Märchen, Mythen und nicht zuletzt die modernen elektronischen Medien stellen solche großartigen Fähigkeiten und Leistungen bestimmter Helden oder Bösewichte in den Mittelpunkt und faszinieren damit ein großes Publikum immer wieder aufs Neue. Sicher möchte man manchmal gerne Gedanken lesen können, nicht zuletzt um herauszufinden, ob der andere die Wahrheit sagt oder etwas Wichtiges verbirgt. Aber sind solche wundersamen Fähigkeiten wesentlich für den buddhistischen Weg?

Dieses Kapitel ist eine wesentliche Klarstellung und Ergänzung zu Dōgens Ausführungen und Analysen über den Geist. Es beinhaltet eine Kōan-Geschichte über den Inder Sanzō, der nur vorgibt, den Geist eines Meisters zu kennen und erweitert damit die Analyse des Zen-Geistes um wesentliche Dimensionen. Das darin behandelte berühmte Kōan-Gespräch zwischen dem großen Meister Daisho und dem gelehrten indischen Mönch Sanzō wird auch an anderer Stelle des Shōbōgenzō untersucht Anhand dieses Gesprächs soll Dōgens hier ein umfassendes Verständnis des Zen-Geistes weiter herausgearbeitet werden.

Sanzō hielt sich am Hofe des chinesischen Kaisers auf und traf mit dem großen Meister Daisho zusammen, der für den Kaiser prüfen sollte, ob Sanzō den Geist anderer erkennen konnte, wie er selbst behauptet hatte. Daisho und Sanzō reden dabei aus meiner Sicht in grotesker Weise aneinander vorbei. Dadurch stellt Dōgen glasklar heraus, was das Besondere des umfassenden Zen-Geistes ist.

 Während der Inder Sanzō unter dem Geist bestenfalls nur die Fähigkeit begreift, die Gedanken oder Bilder im Gehirn eines anderen zu erkennen, besitzt Meister Daisho die umfassende Erfahrung und Praxis des Zen-Geistes, die Körper, Geist und die Welt einbeziehen und keinesfalls nur auf einzelne Gedanken und Bilder im Gehirn beschränkt sind.

In einigen esoterischen Gruppen besteht auch heute noch der verschwommene Glaube, dass durch intensive und ausdauernde Praxis die mystische Fähigkeit erlernt werden könnte, den Geist der anderen Menschen zu erkennen. Aber was ist der Geist, und ist er dasselbe wie Gedanken, Vorstellungen und Bilder? Sicher nicht.
Meister Daisho stellte Sanzō die scheinbar einfache Frage:

Sag mir, wo ich jetzt bin, (dieser) alte Mönch?“

Er geht hier gar nicht auf die behauptete Fähigkeit Sanzōs ein, zu erkennen, welche Gedanken, Vorstellungen oder Bilder sich im Geist Meister Daishos gerade befinden, sondern stellt eine scheinbar ganz allgemeine Frage. Es geht ihm zunächst offensichtlich nicht darum, die behauptete übernatürliche Fähigkeit zu prüfen, sondern er möchte die theoretischen und praktischen buddhistischen Grundlagen des Inders kennenlernen. Er möchte wissen, inwieweit bei Sanzō die Essenz des Buddhismus der eines wahren Zen-Meisters gleichkommt.

In Daishos scheinbar simplen Frage sind mehrere wichtige Teilfragen enthalten: Es geht um den Ort, wo sie sich beide befinden, um das Jetzt der Gegenwart und darum, was ein Mensch und Mönch wie Daisho wirklich ist. Dahinter verbirgt sich allerdings auch die Frage, inwieweit der Geist überhaupt erfasst werden und inwieweit dies in Worten ausgedrückt  werden kann.




[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 4, S. 127 ff. und englische Fassung, Bd. 4, S. 89 ff.
[ii] Kap. 25, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 221 ff.: „Die mystische Kraft des Lebens und Universums (Jinzū)“