Donnerstag, 23. April 2015

Das Kōan von der zertrümmerten Welt der Täuschungen


Der große Meister Zengen Chuko[i] wurde von einem Mönch gefragt:

„Was ist der Geist der ewigen Buddhas?“

Er antwortete:
„Die Welt ist zertrümmert.“

Der Mönch verstand beim besten Willen nicht, was der Meister ihm damit sagen wollte, denn er konnte keinen sinnvollen Zusammenhang mit seiner, wie er meinte, tiefgründigen Frage erkennen. Daher fragte er weiter:

„Warum ist die Welt zerschmettert?“

Der Meister erwiderte in der typischen, paradox erscheinenden Art des Zen:

„Wie ist es möglich, ohne unseren eigenen Körper zu sein?“

Aber handelt es sich hierbei wirklich um eine Paradoxie und alogische Antwort? Wir sollten sicher versuchen, den tieferen oder besser umfassenden Sinn zu entschlüsseln. Denn Zen ist niemals gegen die Vernunft, wie manche uns weismachen wollen. Es geht allerdings um eine höherer und umfassendere Vernunft, als die gewöhnlichen Menschen gewöhnt sind. Einmal ganz abgesehen von der neuen Form der digitalen Demenz durch übermäßigen Info-Konsum der Massenmedien und Brutalo-Spielprogramme.

Bevor ich auf Dōgens Untersuchungen eingehe, möchte ich eine eigene Interpretation anbieten: Die Formulierung „Geist der ewigen Buddhas“ lässt vermuten, dass der Mönch eine romantisch und spirituell idealisierte Vorstellung von diesem Geist hatte und sicher auch selbst davon träumte, später nach seiner eigenen „großartigen Erleuchtung“ daran teilzuhaben. Dagegen ist am Anfang des buddhistischen Wegen vielleicht nicht sehr viel einzuwenden, solange wir wissen, dass es sich um einen romantischen Traum handelt, der uns Motivations-Kraft gibt. Ein solcher romantischer Geist wird meist ganz unkörperlich und „frei schwebend“ imaginiert, ist aber nicht real.

Genau diese Vorstellungen und festgefahrenen Scheinwelten der gewöhnlichen Menschen und auch dieses Mönchs werden durch den Geist der großen Meister ausgehebelt oder, wie es hier heißt, „zertrümmert“. Der Mönch versteht diese ganz und gar realistische Wahrheit nicht und fragt daher im selben Sinne weiter. Der Meister antwortet darauf mit der einfachen Tatsache der Einheit von Körper und Geist – gerade bei den „ewigen Buddhas“, also den großen Meistern. Und diese Einheit von Körper und Geist gilt selbstverständlich auch für den Mönch selbst.

Dōgen erläutert, dass es bei diesem Kōan-Gespräch darauf ankommt, dass wir nicht von einem verengten subjektiven Ich und seinen Ideen ausgehen und die Welt auf diese dualistische, eingeengte Weise verstehen. Dann können wir nicht zur Wirklichkeit des Geistes sowie der Dinge und Phänomene vordringen – ohne subjektive Verzerrung und ohne der Wirklichkeit etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen. Wir müssen unsere alte erstarrte Denkwelt zerschmettern.

Diese konkrete Welt, in der wir leben, ist ganz genau und vollständig die Welt Buddhas und der großen Meister.

„Jedes Ding in dieser Welt ist dabei sein eigener Körper und der unbestimmbare Zustand des Seins, ohne (Täuschung)“,

sagt Dōgen. Für einen solchen unbestimmbaren Zustand verwendet er das japanische Wort Mu, das in dem berühmten Kōan vorkommt, in dem es darum geht, ob auch ein Hund die Buddha-Natur hat. Die lapidare Antwort des Meisters auf diese Frage lautete „Mu“. Mu bedeutet „der Zustand ohne“, also ohne Täuschung: Der Wirklichkeit wird nichts hinzugesetzt und nichts weggenommen. Keinesfalls bedeutet Mu das Nichts oder dass es überhaupt keine Wirklichkeit gibt, wie manchmal im Zen fälschlicherweise behauptet wird.[ii]

Mu bedeutet: "So wie es ist"!






[i] Meister Zengen Chukos Lebensdaten sind unbekannt, er war Nachfolger von Dogo Enchin, der von 769 bis 835 lebte.
[ii] Vgl. Shobogenzo, englische Fassung, S. 27, Fußnote 30. Außerdem wird diese wichtige Aussage detailliert behandelt im Kap. 22, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 192 ff.: „Das Geheimnis der Buddha-Natur (Busshō).

Mittwoch, 15. April 2015

Kein zusätzlicher Fleck hat jemals die Einheit des Geistes verschmutzt



Dōgen präzisiert die Wirklichkeit des Geistes:
„Ferner mag es noch den ewigen Geist geben, der Buddha praktiziert, den ewigen Geist, der Buddha erfährt, den ewigen Geist, der Buddha wird. Es mag sein, dass das ewig Zeitlose eines Buddhas das Wirken dieses Geistes ist.“

Der Begriff „Geist“ ist demnach umfassend zu verstehen und schließt alles mit ein. Dies kommt in der Aufzählung der Praxis, des Erfahrens und des Buddha-Werdens zum Ausdruck. Praktizieren und Erfahren bilden nach westlicher Vorstellung häufig einen Gegensatz zum Geist, der meist mit dem Denken und Bewusstsein gleichgesetzt wird. In diesem Kapitel arbeitet Dōgen jedoch, ähnlich wie in der zentralen Aussage „Geist hier und jetzt ist Buddha“,

die Einheit von Denken und Bewusstsein, Materiellem und Körperlichem, von Handeln und Erfahren mit dem höchsten Zustand des Erwachens und der Erleuchtung heraus.

Anschließend stellt Dōgen mit markanten Formulierungen über den Geist der Buddhas die Verbindung zu verschiedenen überlieferten Zen-Zitaten und Kōan-Gesprächen her, die er in anderen Kapiteln des Shōbōgenzō[i] genau behandelt.

„Weil (die Einheit von) Geist und Buddha zwangsläufig ewig ist, ist der ewige Geist ein Stuhl aus Bambus und Holz, und es kann kein Mensch gefunden werden, der den Buddha-Dharma (nur intellektuell !) versteht.“

Der Kern des betreffenden Kōan-Gesprächs ist zweifellos, dass man dem losgelösten Geist, was auch immer man darunter versteht, nicht die höchste Priorität geben kann, sondern dass es immer um die Einheit mit den Dingen und Phänomenen dieser Welt geht, seien sie vom Menschen gefertigt wie ein Stuhl, oder seien es die Materialien wie Bambus und Holz. Der gegenwärtige existentielle Augenblick ist dabei laut Dōgen von besonderer Bedeutung für die Realität des ewigen Geistes.

Wir können Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine, von denen bereits die Rede war, aus der Sicht eines Subjektes betrachten, wenn wir zum Beispiel direkt davor stehen. Wenn man jedoch umgekehrt von den Dingen ausgeht, teilen diese sich den Menschen mit, die dann eher eine passive und aufnehmende Rolle spielen. Im Zustand der Erleuchtung und des Gleichgewichts kommen beide Sichtweisen zusammen und überschreiten die aktive und passive Rolle des Menschen.

 Erst in der Einheit mit dem Menschen sind die Gegenstände wirkliche Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine, und genau dann verwirklicht sich der ewige Geist der Buddhas und beschränkt sich nicht auf Denken oder Wahrnehmung.

„In der vollkommenen Verwirklichung gibt es Mauern, die tausend Fuß oder zehntausend Fuß aufragen. Es gibt Zäune, die rund um die Erde und rund um die Himmel stehen.“

Ähnliches sagt Dōgen für die Ziegel und Kieselsteine:
„Was so existiert, ist nicht nur der Geist, sondern auch der Körper selbst und gleichzeitig Objekt-und-Subjekt.“

Er stellt dann eine ganze Reihe von Fragen, die er aber nicht beantwortet und somit uns überlässt. Zum Beispiel was die Zäune und Mauern eigentlich sind, welche Form sie haben und wie sie gefertigt wurden oder ob sie unabhängig von einem Arbeitsprozess entstanden sind. Wichtig ist ihm auch, ob wir mit der sinnlichen Wahrnehmung und mit mentaler, gedanklicher Anstrengung weiterkommen oder nicht. Damit verweisen seine Fragen auf die höchste Lebensweise, die durch Gleichgewicht und Wirklichkeit geprägt ist:

„Kein zusätzlicher Fleck von Schmutz ist jemals hervorgetreten, um (den Geist als Einheit) zu verschmutzen.“




[i] z. B. Kap. 23, Kap. 36 und Kap. 20 des Shobogenzo

Freitag, 3. April 2015

Die Einheit von Geist und Natur


Der große Meister Daisho[i] war ein Nachfolger von Daikan Enō und ein sogar am Hofe des damaligen chinesischen Kaisers äußerst geschätzter Meister. Einmal fragte ihn ein Mönch:

„Was ist der Geist der ewigen Buddhas?“

Daisho antwortete dem verblüfften Schüler:
„Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine.“

Diese berühmte Zen-Aussage zielt auf die ganz konkreten Dinge des damaligen täglichen Lebens in China und betont die nur scheinbar materielle Seite dieser Welt. Sie schneidet jede Spekulation und Illusion eines abgehobene Geistes ab, denn kaum einer würde wohl vermuten, dass der Geist der ewigen Buddhas dasselbe ist wie zum Beispiel die Kieselsteine. In eindringlicher Weise wird dadurch die Einheit von Buddha-Geist und Wirklichkeit der Dinge und Phänomene ausgedrückt. Und die Antwort Daishos bedeutet, dass wir uns den Geist der ewigen Buddhas nicht als etwas Immaterielles und nur Ideelles vorstellen sollen.

Ich muss gestehen, dass mir diese Aussage zunächst auch ziemlich unklar war, weil sie dem europäischen Denken in der Tat völlig entgegengesetzt ist. Wie kann der Geist dasselbe sein wie Ziegel und Kieselsteine? Dann machte ich jedoch eine Beobachtung und gewann folgende Erkenntnis: Bei einem Aufenthalt auf der Insel Lanzarote besuchte ich den zu einem Museum umgewandelten Wohnbereich des großen Künstlers César Manrique.

Einige natürliche Höhlen, die sich als große Blasen in der ehemals fließenden Lava gebildet hatten, sind Teil dieses "Wohnkomplexes". Nachdem ich die Höhlen verlassen hatte, saß ich noch eine Weile im Freien und sah zu meinen Füßen einen mit Kieselsteinen aufgeschütteten Platz. Plötzlich erinnerte ich mich an das obige Kōan und betrachtete die Kieselsteine daraufhin sehr viel genauer: Sie waren vom Meer in langen Zeitaltern rund und oval geschliffen und keinesfalls einheitlich oder langweilig. Mir fiel auf, dass sie so ausdrucksvoll und wunderbar geformt waren, als ob sie ein großer Künstler wie Manrique geschaffen hätte. Es schoss mir durch den Kopf:

Das Meer als Künstler der Kieselsteine? Ja, ohne Frage!

Dadurch sprengten die Steine gewissermaßen ihre materielle Begrenztheit und Nebensächlichkeit und fingen an, von der Schönheit und Vielfalt des Meeres und dieser Welt zu reden und sich ganz neu zu manifestieren. Das musste es sein, was Meister Daisho ausdrücken wollte: Der Geist der Buddhas und der Natur ist keine abstrakte Idee oder Gedankenwelt, sondern lebt genau im ganz Konkreten vor uns und mit uns. Wir müssen es nur erkennen, ganz offen sein.

Der Geist der ewigen Buddhas ist zum Beispiel auch in den unzähligen Bäumen und Hunderten von konkreten Pflanzen einschließlich der sogenannten Unkräuter. Diese buddhistische Wahrheit ist dasselbe wie die sich öffnenden Blütenblätter des Lotus, die wiederum vergleichbar sind mit der Entfaltung der Lehre und Praxis des Buddhismus.

Dass sich die Welt ereignet, seien Buddhas ewige Gesichter der Sonne und des Mondes und

„die Haut, das Fleisch, die Knochen und das Mark“

des ewigen Buddhas. Diese Aussage wird Bodhidharma bei der Dharma-Übertragung an seine Schülerin und drei Schüler zugeschrieben.[ii]

Von zentraler Bedeutung ist, dass die ewigen Buddhas praktizieren und sich nicht in philosophischen Spekulationen verlieren. Sie stehen fest mit beiden Beinen auf der Welt, handeln im Sinne der Bodhisattvas wie es die Situation erfordert, sind furchtlos, tatkräftig und von außergewöhnlicher Klarheit: Wirkliche Vorbilder, an denen es heute mangelt.




[i] Meister Daisho, auch Nan-yo Echu genannt, war Nachfolger von Daikan Enō; Daisho starb 775.
[ii] Kap. 43, ZEN Schatzkammer, Bd. 2, S. 154 ff.: „Die wahre Bedeutung der Blumen im Raum (Kuge)