Sonntag, 5. August 2007

Das Geheimnis der Buddha-Natur (Busshô)

Wir wissen, dass Meister Dôgen selbst mit der Frage nach der Buddha-Natur persönlich sehr stark gerungen hat und mit den theoretischen und abstrakten Erklärungen der japanischen buddhistischen Meister seiner Zeit nicht zufrieden war.


Wie kann es sein, so war seine Frage, dass man sich so sehr mit der Übungspraxis und den theoretischen Überlegungen zur Buddha-Natur abmühen muss, wenn sie doch bereits jedem von Anfang an gegeben ist? Die Frage nach der Buddha-Natur war auch ein wesentlicher Antrieb seiner eigenen Reise nach China, wo er jedoch zunächst ebenfalls ohne Antwort blieb. Erst als er seinem eigenen Meister, Tendô Nyojô, begegnete, konnte er das Geheimnis der Buddha-Natur durchdringen und die damit zusammenhängenden Probleme lösen.

Das Kapitel zur Buddha-Natur (Kap. 22, Busshô) ist daher auch in seinem Werk Shôbôgenzô von zentraler Bedeutung und eines der längsten. Ich möchte hier dessen Eckpunkte nachzeichnen und nach meinem Verständnis erläutern. Wie bei Dôgen sollen dabei die Zitate der großen buddhistischen Meister vorangestellt werden.
Dogen zitiert Shâkyamuni Buddha wie folgt:

"Alle Lebewesen haben vollständig die Buddha-Natur."

Wir wollen zunächst davon absehen, ob es sich wirklich um ein authentisches Zitat von Gautama Buddha selbst handelt. In einem Gespräch mit Peter Gäng entstanden dabei doch einige sicher nicht unberechtigte Zweifel. Wir wollen trotzdem hier der Argumentation Dogens folgen. Bei flüchtigem Hinsehen könnte man diese Aussage als selbstverständlich hinnehmen, und sie entspricht in der Tat dem gesunden Menschenverstand der vieler Buddhisten. Allerdings ergibt sich bei genauerer Sicht ein ernstes Problem, weil man sich fragen muss, ob es auch Lebewesen ohne die Buddha-Natur gibt, denn wenn es heißt, alle haben die Buddha-Natur müsste es auch möglich sein diese nicht zu haben. Den Satz könnte man daher auch so verstehen, dass es sich um eine bestimmte Qualität der Lebewesen handelt, die man haben kann oder nicht. Es läge dann auch nahe, an einen Seelenkern, einen Wesenskern oder überhaupt an etwas wie eine wunderbare und ewige Seele zu denken, die man besitzt und die nicht stirbt, wenn der Körper tot ist. Dôgen verwirft aber in aller Deutlichkeit eine solche Trennung von einem Lebewesen als Subjekt und der Buddha-Natur als einer bestimmten Eigenschaft des Subjekts. Es würden sich bei diesem “Modell“ nämlich sofort unlösbare Probleme ergeben, wenn man eine solche Dualität annimmt. Mit einer Trennung von Subjekt und der Buddha-Natur als Objekt kommen wir also nicht weiter. Besser wäre daher die Übersetzung der Aussage von Shâkyamuni Buddha, dass alle Lebewesen die Buddha-Natur sind oder dass die wirkliche Existenz der Lebewesen die Buddha-Natur ist.
Die Vorstellung einer Buddha-Natur für alle Lebewesen hat zweifellos eine große Anziehungskraft und gibt die positive lebensbejahende Weltsicht des Buddhismus wieder. Danach sind die Menschen von Natur aus keine Sünder, die bestraft, diszipliniert und kontrolliert werden müssen, sondern sie entfalten ihre Buddha-Natur in ihrem Leben und im Hier und Jetzt. Aber wie bei jedem Ideal ist dann auch die verzerrende Ideologie nicht weit entfernt. Dann wird die Lehre der Buddha-Natur z. B. benutzt, um andere zu kritisieren, herabzusetzen, ihnen vorzuwerfen, dass sie die Buddha-Natur verraten oder nicht mehr besitzen und dergleichen mehr. Leider gibt es hierfür ähnliche Beispiele in allen Weltreligionen, und auch der Buddhismus kennt solche Verwerfungen. Gautama Buddha hat die Lehre eines unveränderlichen Seelenkerns des alten Indien immer wieder mit Nachdruck zurückgewiesen, da sie aus der Wirklichkeit des Hier und Jetzt wegführt und damit die Menschen leiden lässt.
Nach der buddhistischen Lehre muss man die Vorstellung der Buddha-Natur sogar auf die so genannten unbelebten Bereiche des Universums ausdehnen, wie z. B. Berge, Flüsse, Ozeane, Felsen, Gräser, Hecken, Kiesel usw. Wir kommen damit zu einer ersten umfassenden Aussage Dôgens: Das ganze Universum mit allen Lebewesen ist die Buddha-Natur.
In diesem Kapitel gibt es dann jedoch eine scheinbare Gegenaussage:

"Du bist ohne die Buddha-Natur sagt der vierte zum fünften Vorfahren im Dharma".

Dies hört sich wirklich wie das genaue Gegenteil der ersten Aussage zur Buddha-Natur an. Wie kann das erklärt werden?
Der Zen-Buddhismus zeichnet sich oft durch Nüchternheit, unverstellte Beobachtung und Klarheit im Hier und Jetzt aus, und spekulative Fantasien und Theorien ohne Bodenhaftung sind ihm vollständig fremd. Geht es hierbei vielleicht um die reine Beobachtung ohne jede Ideen, Religiosität oder Spiritualität? Wenn man nämlich nur in dem Bereich der Sinne und der Wahrnehmung zu Hause ist, also sieht, hört, schmeckt, tastet und riecht, kann es die Idee einer Buddha-Natur in der Tat überhaupt nicht geben. In der Welt der Formen, der Farben, der Gerüche, des Geschmacks usw. kann man direkt und unmittelbar leben, ohne irgendwelchen spekulativen Ideen anzuhängen. Damit haben wir auch wesentliche Bedeutungen der Leerheit (Shûnyatâ) angesprochen. Denn dabei geht es darum, dass man zur Wirklichkeit nichts Künstliches, Gedachtes und Spekulatives hinzusetzt, aber auch nicht irgend etwas weglässt und unterdrückt. Die Wirklichkeit so zu sehen und zu erleben wie sie ist, gehört zum Wesen des Zen-Buddhismus.
Die Idee der Buddha-Natur ist zweifellos etwas Spirituelles, das große Kraft entwickeln kann, aber auch beachtliche Gefahren in sich birgt. Sehr schnell erscheinen unter der Maske einer vorgestellten Buddha-Natur Bewertungen, denen Egoismus und die Gier nach Ruhm und Profit zu Grunde liegen, und das tötet natürlich die buddhistische Wahrheit, wie Dôgen immer wieder herausarbeitet. Die Freiheit und Leerheit von Spekulationen und Fantasien hat im Zen-Buddhismus daher eine große Bedeutung, und auf dem Weg der Leere müssen wir lernen, was wirklich ist, und gerade nicht was wir gern wollen oder nicht wollen. Das Genie Gautama Buddha lehrte uns, dass wir nur in der vollen Wirklichkeit und Wahrheit das Leiden überwinden können, und auch Siegmund Freud sagt, dass jede Flucht aus der Wirklichkeit psychisches Leiden erzeugen muss. Verdrängungen können zwar zunächst das mühsame tägliche Überleben sichern, haben aber auf Dauer schwere psychische Schäden und Leiden zur Folge, die dann aufgearbeitet und aufgelöst werden müssen.
Eine materialistische Lebensphilosophie, die allein den Sinnen und ihren Genüssen gewidmet ist, und keinen spirituellen und idealistischen Tiefgang hat, führt jedoch zwangsläufig zur Verödung des Lebens und kann niemals aus dem Leiden herausführen. Deshalb führt eine materialistische Lebensphilosophie überhaupt nicht weiter.
Der große Meister Hyakujô sagt hierzu:

"Es beleidigt Buddha, wenn wir lehren, dass alle Lebewesen die Buddha-Natur haben und es beleidigt Buddha auch wenn wir lehren, dass sie ohne Buddha-Natur sind".

Dieses Zitat kann nach dem oben Gesagten so entschlüsselt werden, dass weder die eine noch die andere Aussage und einseitig verstandene Lebensphilosophie allein die ganze Lehre und Wahrheit des Buddhismus umfasst, sondern nur eine eingeengte bestimmte Sichtweise oder Teilphilosophie mit sehr begrenztem Wahrheitsgehalt ist. Der Zen-Buddhismus ist nicht unlogisch und unvernünftig, wie viele leichtfertig behaupten. Er erkennt zwar die Teilwahrheit der idealistischen Denkweise, nach der "alle Lebewesen die Buddha-Natur haben" an, aber verschließt sich auch nicht der Teilwahrheit einer sehr konkreten Sichtweise, nach der "alles ohne die Buddha-Natur ist". Die umfassende Lehre des Buddha-Dharma geht aber über diese relativen Sichtweisen weit hinaus. Nicht der Widerspruch und das Paradox ist also Wesen des Zen-Buddhismus, sondern eine umfassende darüber hinaus gehende Wahrheit, die das Handeln und die Zazen-Praxis einbezieht und dadurch zu einem umfassenden intuitiven Verständnis im Einklang mit Ethik und Moral kommt. Dadurch werden wir frei. Die Aussage eines vermeintlichen Zen-Buddhisten: "Es gibt die Buddha-Natur und gleichzeitig gibt es sie nicht", ist also zu einfach und verwirrt eher als dass sie weiterführt, da sie gegen die Vernunft und Logik ist. Beide Aussagen greifen also zu kurz und müssen relativiert werden.
Der ehrwürdige Meister Nâgârjuna wird bei Dôgen wie folgt zitiert:

"Wenn du die Buddha-Natur verwirklichen willst, musst du zuerst deinen selbstsüchtigen Stolz überwinden".

Es ist daher bei der Frage der Buddha-Natur notwendig, Selbstsucht, Egoismus und überhaupt den am Ich festgemachten Stolz einzubeziehen und zu überwinden. Bevor wir diese nicht loslassen, besteht keine Chance, die Buddha-Natur zu verwirklichen und zu „erkennen“. Gleichzeitig wird die Wichtigkeit des moralisch guten Handelns unterstrichen, die im Buddhismus immer wieder so stark betont wird. Dôgen sagt damit nicht mehr und nicht weniger, als dass der Ich-Stolz verhindert, dass wir die Buddha-Natur überhaupt erleben, erfahren und erkennen können und dass theoretisches und intellektuelles Denken ohne Moral überhaupt nicht in der Lage sind, unserer Frage gerecht zu werden.
Dôgen zitiert im Folgenden ein berühmtes Gespräch zweier alter Zenmeister:
Meister Nansen fragte Meister Ôbaku:

"Wenn wir gleichmäßig Balance und Weisheit praktizieren, erkennen wir klar die Buddha-Natur. Wie steht es mit dieser Theorie?"

Meister Ôbaku antwortet:

"(Den ganzen Tag) von 24 Stunden haben wir sie schon erlangt, ohne von etwas abzuhängen".

Damit kommen die für Dôgen zentralen Kernpunkte bei der Frage der Buddha-Natur zur Sprache, nämlich die Zazen-Praxis, das Handeln und das Gleichgewicht im Hier und Jetzt, sowie die daraus entstehende intuitive Weisheit, die über das theoretische und angelernte Wissen weit hinausgeht. Außerdem wird die Lebenspraxis des ganzen Tages und damit der buddhistisch gestaltete Alltag angesprochen, die beim Zen von wesentlicher Bedeutung ist. Erst durch diese Praxis des Gleichgewichts im Zazen und im Handeln erlangt man danach die Freiheit und Unabhängigkeit sowohl von den materiellen Dingen als auch von festgelegten Ideen und damit von den vielen Problemen des Alltags, in dem man handelt und lebt. Dann behindert die Theorie und sog. verstandesmäßige Weisheit auch nicht die Buddha-Natur, sondern ist im Gegenteil mit ihr verschmolzen. Die Praxis umfasst dabei sowohl das Zazen als auch das Handeln im Hier und Jetzt. In dem obigen Gespräch werden nach Dôgen keine subjektiven Ansichten oder Meinungen ausgetauscht, sondern es geht um Wahrheitsaussagen, die über die einzelnen Personen hinausgehen.
Dôgen geht dann genauer auf die im Zen-Buddhismus berühmte Koan-Geschichte ein:

"Hat auch ein Hund die Buddha-Natur oder nicht?“

Der große Zenmeister Jôshû beantwortet bei einem bestimmten Mönch diese Frage mit:

"Der Hund ist ohne die Buddha-Natur."

Einem anderen Mönch sagt er aber bei der ganz ähnlichen Frage: "Existiert die Buddha-Natur auch in einem Hund oder nicht? " scheinbar genau das Gegenteil:

"Sie existiert (wirklich)".

Wie kann man nun diesen Widerspruch erklären und was ist der Sinn der Antworten von Meister Jôshû? Wir können davon ausgehen, dass beide Mönche ernsthaft und intensiv auf dem Buddhaweg sind und die Antworten ihnen helfen sollen, aus ihrem eigenen Gefängnis von Meinungen, Vorurteilen, Vorstellungen, Fantasien, Äußerlichkeiten, Zielvorstellungen usw. herauszukommen. Für jemanden, der zu sehr den idealistischen und romantischen Fantasien anhängt ist sicher eine Antwort:

"Der Hund hat keine Buddha-Natur"

die klare Aufforderung, sich mit dem konkreten Hier und Jetzt zu befassen und nicht in ferne Fantasiewelten abzuschweifen. Für einen anderen Menschen, der eher materiell ist und am Äußeren hängt, muss der kundige Meister aber anders vorgehen. Dann ist die umgekehrte Aussage nützlich, dass im Hund eine Buddha-Natur existiert und dass man nicht zu sehr an den äußeren Wahrnehmungen der Sinne hängen soll, sondern sich intensiver mit ideellen, spirituellen und moralischen Bereichen verbindet. Aber es ist auch klar, dass die wirkliche Buddhanatur über diese beiden Fragen und Antworten hinausgeht
Schließlich zitiert Dôgen einen berühmten Dialog mit der Frage eines bedeutenden chinesischen Mandarin an den Zenmeister Chôsa:

"Ein Regenwurm wurde in zwei Teile geschnitten und beide Teile bewegen sich. Ich frage mich, in welchem Teil ist die Buddha Natur? "

Zunächst können wir feststellen, dass es sich hier um eine sehr theoretische und spitzfindige Frage handelt, die keineswegs in der Lage ist, der Frage nach der Buddha-Natur nahe zu kommen. Eine solche Frage ist nur interessantes Futter für den Verstand. Meister Chôsa versucht daher in zwei Anläufen den vornehmen Mandarin von seiner abstrakten Theorie, die nichts bringt, auf den Boden der Tatsachen und Wirklichkeit zurückzuholen, indem er konkret auf das Hier und Jetzt eingeht. Der Mandarin versteht dies allerdings nicht, vermutlich weil er wegen seines hohen Ranges im Staat dem Meister nicht folgen und sein Ego loslassen kann. Daher kann er den für die Buddha-Natur notwendigen Lernprozess nicht beginnen.
Dôgen führt uns hier die Unfähigkeit eines eitlen und durch seine gesellschaftliche Stellung festgelegten Menschen vor Augen, dem es nicht gelingt, seinen hohen Stand und seine großartige Position beiseite zu lassen und sozusagen als Anfänger in die Buddha-Lehre hineinzuwachsen: Zen-Geist ist Anfänger-Geist. Stattdessen gefällt er sich intelligenten Fragen, die seiner Position entsprechen, aber nur Leerlauf des Denkens sind.
Zusammenfassend können wir sagen, dass es auf die Frage der Buddha-Natur keine einfache Antwort gibt, und dass sie insbesondere nicht mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten ist. Damit sind auch die eigenen Erfahrungen von Dôgen selbst angesprochen, der im damaligen, auf oft abstrakter Theorie aufbauenden Buddhismus in Japan für seine bohrenden Fragen nach der Buddha-Natur keine brauchbaren Antworten erhielt. Erst durch seinen eigenen Meister in China, der die Zazen-Praxis und das verantwortungsvolle und moralische Handeln im Alltag in den Mittelpunkt des Buddha-Dharma stellte, fand er Verwirklichung im Streben nach der Wahrheit und der Klarheit über die Buddha-Natur. Es ist dabei wichtig zu erwähnen, dass Dôgen keineswegs die Theorie, das Denken und die Vernunft ablehnte oder herabsetzte, wie dies leider bei einigen Zen-Buddhisten zu beobachten war und ist. Wie wäre es sonst zu erklären, dass er selbst derartig umfangreiche und tiefgründige schriftliche Werke wie „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shôbôgenzô) verfasst und an die Nachwelt und uns übermittelt hat.

Für weitere Informationen bitte anklicken:


Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Der Buddhismus ist die Lehre von der Wirklichkeit

Handeln im Buddhismus