Dōgen zitiert dann Meister Unmon, den Nachfolger von Meister Seppō:
„Jeder Mensch besitzt vollständig die strahlende Klarheit.
Wenn er sie (aber begierig) sucht, ist sie unsichtbar in der tiefsten Dunkelheit.
Was ist diese strahlende Klarheit, die in allen Menschen existiert?“
Da die vor Unmon versammelten Mönche
nichts antworteten und wohl auch nicht antworten konnten, sagte er selbst:
„Die Mönchshalle, die Buddha-Halle, die Küche und die drei
Tore.“
Das klingt eigentlich fast zu simpel,
aber Dōgen lobt diese Aussage des
Meisters sehr: sie sei identisch mit dem wahren Buddha-Dharma; sie sei keine
Spekulation, sondern die Wirklichkeit
selbst.
Dōgen betont, wie wichtig
der gegenwärtige Augenblick für die Wirklichkeit der intuitiven umfassender Klarheit
ist, und sagt, dass sie weder in der Zukunft erscheinen wird, noch in der
Vergangenheit geleuchtet hat. Damit will er ausdrücken, dass Vergangenheit und
Zukunft nur schemenhafte Objekte im denkenden
Geist sind und nicht in der Wirklichkeit des Augenblicks von
Körper-und-Geist. Außerdem erklärt er, dass die leuchtende Klarheit natürlich
und das wahre Wesen des Menschen ist. Sie sei nicht angelernt oder künstlich
erzeugt, sondern genau der natürliche Zustand, von dem nichts weggenommen und
dem nichts hinzugefügt worden ist.
„Jeder Augenblick der Klarheit besitzt
auf natürliche Weise den Augenblick der Klarheit, jeder Augenblick der Existenz
besitzt jeden Augenblick der Existenz.“
Eine solche Formulierung des
Rückbezuges auf sich selbst, die in der Systemtheorie auch Selbstreferenz
genannt wird, ist durchaus typisch für Dōgen und offenbart nicht zuletzt seine
poetische Kraft und Ausdrucksweise.
Die
strahlende Klarheit weist allerdings bei jedem Menschen individuelle
Ausprägungen auf. Das heißt, es gibt keine
abstrakte Klarheit, die bei allen Menschen gleich ist, sondern es geht
immer um das ganz konkrete Handeln der einzelnen Menschen im Hier und Jetzt:
„Die
strahlende Klarheit ist der individuelle Mensch, der den jeweiligen
spezifischen Zustand der strahlenden Klarheit vollständig besitzt.“
Die
obige Geschichte über Meister Unmon
ist auch in der Kōan-Sammlung Shinji Shōbōgenzō
aufgeführt. Danach sagt der Meister am Ende:
„Es
ist besser, wenn sogar gute Dinge nicht existieren.“
Was
meint er damit? Ist das nicht ein buddhistischer Widerspruch in sich? Nein,
gerade nicht! Ob Dinge gut oder schlecht sind, unterliegt nämlich hinzugesetzten
Bewertungen, aber ist nicht die
Wirklichkeit selbst. Nishijima Roshi gibt dazu die folgende Erklärung:
„Das
Licht, (das hier symbolisch für die Wirklichkeit steht), beleuchtet alle Dinge,
aber wir können das Licht selbst nicht sehen.“
Denken
wir zum Beispiel an das Tageslicht: Dadurch wird unsere Umgebung und alles, was
wir sehen, beleuchtet. Ohne das Licht ist alles unsichtbar. Nishijima Roshi
vergleicht das Licht mit der Wirklichkeit, die im Buddhismus so außerordentlich
geschätzt wird, und erläutert, dass wir das Licht genau wie die Wirklichkeit
nicht als Objekt sehen und denken
können. Die Wirklichkeit umfasst auch den Geist, der diese Gedanken denkt, aber
sie ist gerade nicht auf den isolierten Geist beschränkt. In diesem Sinne wird
in der Geschichte über Meister Unmon die
Wirklichkeit der Zazen-Halle, der Buddha-Halle, der Küche und der Tempeltore genannt,
die wir als umfassende Wirklichkeit direkt erfahren. Aber diese Dinge sind
nicht einfach Objekte außerhalb von uns selbst, obgleich sie materiell da sind,
sondern sie haben zentrale buddhistische Funktionen, also Geist und Wahrheit
des buddhistischen Lebens. Nishijima Roshi sagt:
„Etwas
Reales ist nicht in Geist und Materie getrennt.“
In
diesem Satz Unmons geht es darum, dass Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen
Gut und Schlecht oder Groß und Klein, nicht der Wirklichkeit angehören, sondern
subjektiv von Menschen hinzugesetzt werden, sie sind nur auf der Sprachebene.
Die Wirklichkeit ist jenseits von solchen Unterscheidungen. Wer also in
Bewertungen gefangen ist, kennt noch nicht die volle Verwirklichung. Die Wirklichkeit ist genau vor uns, ohne
jegliche Bewertung, genau so, wie sie ist.