In
der Legende heißt es über den großen Zen-Meister Gensa, dass er als Fischer nicht
auf den Fisch mit den goldenen Schuppen
gewartet habe. Diese Aussage interpretiere ich so, dass Gensa nicht einfach
darauf gehofft hat, dass ihm irgendwann einmal ohne große eigene Anstrengung
ein wertvoller Fisch mit goldenen Schuppen ins Netz geht, der ihm materiellen Reichtum bringen würde. Denn
es ist häufig ein großer Irrtum, dass plötzlicher Reichtum ein glückliches und
erfülltes Leben bedeutet. Die goldenen Schuppen könnte man im Gegensatz dazu aber auch spirituell interpretieren: Durch die Meditation auf dem Buddha-Weg erhalten wir
Schutz und Glanz zugleich, wie goldene Schuppen, aber nicht materiell. Vielleicht hat Meister Gensa einen solchen Fisch gesucht?
Dōgen
schildert, dass Gensa auf seiner Wanderschaft schließlich zum Tempel des großen
Meisters Seppō kam, wo er intensiv
und ausdauernd praktizierte und die buddhistische Lehre studierte. Eines Tages
wollte Gensa weitersuchen und hatte sich jedoch kaum vom Kloster entfernt, als
er auf dem schmalen Pfad mit seinen offenen Sandalen an einen Stein stieß und
seinen Zeh verletzte, sodass dieser stark blutete und stark schmerzte. In
diesem Augenblick hatte er ein Erlebnis tiefer Erkenntnis und sagte zu sich:
„(Es wird
gelehrt,) dass dieser Körper keine wirkliche Existenz ist. Woher kommt der
Schmerz?“
Im
damaligen China war die Auffassung verbreitet, dass allein der Geist
Wirklichkeit habe und der Körper überhaupt nicht wirklich existiere. Der Körper
wäre dann nur ein Spiegelbild im Gehirn – wie eine Fata Morgana in der Wüste,
die suggeriert, dass es am Horizont ein reales Gewässer gibt, das sich jedoch
verflüchtigt, wenn man näher herankommt. Durch seinen Schmerz war Gensa jäh im
Augenblick klar geworden, dass Körper und Geist immer eine Einheit sind. Die Lehre eines vom Körper losgelösten
Geistes ist selbst eine Fata Morgana, die im realen Leben keinen Bestand
hat und keine Hilfe bei den vielfältigen Lebensproblemen bietet.
Er
kehrte dann zum Kloster zurück, berichtete Seppō von seiner Erkenntnis und
schloss mit den Worten:
„Schließlich
kann ich überhaupt nicht von anderen getäuscht werden.“
Damit
drückte er aus, dass jede Lehre, und wenn sie noch so ehrlich und wohl
durchdacht übermittelt wird, das eigene
Erleben und die eigene Erfahrung nicht ersetzen kann. Wie viel weniger
nützt es uns, dass wir von anderen getäuscht werden oder uns selbst täuschen?
Seppō
schätzte Gensa wegen seiner klaren, kompromisslosen Erkenntnis und seiner
Fähigkeit, sich präzise auszudrücken; er hielt ihn für einen ganz
hervorragenden Schüler. Gensa wurde später der Nachfolger von Seppō, und es
sind viele tiefgründige Kōan-Dialoge
dieser beiden großen Zen-Meister bekannt, die im Lauf der Zeit immer wieder
interpretiert und zu einem wesentlichen Bestandteil des Zen wurden.
Nachdem
Gensa die Wahrheit des Buddhismus
erlangt hatte, lehrte er die Menschen mit den Worten:
„Das ganze
Universum in den zehn Richtungen ist eine leuchtende Perle.“
Wenn
sich seine Schüler in intellektuellen Konstrukten verloren hatten und sich in
eine „rein geistige“ Welt der erträumten Erleuchtung verirrten, holte er sie
mit seinen Worten über die leuchtende Perle in die Wirklichkeit des Hier und
Jetzt zurück. Die Perle ist nicht nur rund und damit wie der Vollmond oder der
Kreis das Symbol der wahren Erleuchtung und Realität im Buddhismus, sondern sie
ist auch als Kugel dreidimensional gerundet und kann hin- und herrollen.
Im
Sinne des überwundenen Dualismus kann man sagen, dass die Kugel im Universum rollt oder dass das Universum um die Kugel
rollt. Außerdem reflektiert eine Perle die gesamte Umgebung wie ein leuchtender Spiegel – auch dies ist ein
tiefes Gleichnis der buddhistischen Klarheit und Wirklichkeit. Das Symbol der
Perle übersteigt materielle Dimensionen wie weit oder groß, mager oder klein,
quadratisch oder rund, ein zentrierter Punkt oder eine gestreckte Linie.
Die
künstlichen Unterscheidungen des Verstandes und die dabei auftretenden
Emotionen werden im Zen auf die Wirklichkeit
zurückgeführt, die so konkret wie eine leuchtende Perle ist. Diese
Identität mit der Wirklichkeit ist so, wie wenn wir „die Dinge entwickeln und (uns selbst) in den Augenblick werfen“,
wie Dōgen es im Kapitel über die Sein-Zeit formuliert. Der Augenblick der
Gegenwart ist von größter Bedeutung, um zur Wirklichkeit und Wahrheit zu
gelangen. Ein separierter Geist, der noch so wunderbar und poetisch beschrieben
wird, ist niemals in der Lage, zur Wirklichkeit durchzustoßen. Lehre und Denken
sind zwar wichtige Hilfsmittel auf dem Buddha-Weg, aber ohne die Praxis und das
Leben und Handeln im Augenblick bleiben sie eine Fata Morgana, die sich
auflöst, wenn man sich ihnen ehrlich nähert. Es gibt in der Wirklichkeit keinen
Geist ohne den Körper.
Das ist die Essenz der leuchtenden Perle. Und gibt es
etwas Schöneres als eine leuchtende Perle?