Meister Chosa Keichin lebte im 9. Jahrhundert und wurde „Shin, die große Katze“ genannt, weil er
einen außerordentlich präzisen und scharfen Geist besaß, der schnell wie ein
Tiger war. Zweifellos war er ein großer Zen-Meister, der hervorragende geistige
Klarheit und denkerische Fähigkeiten besaß, aber sich niemals in sinnlosen
Theorien verstrickte oder der niemals mit seinem Wissen aus den buddhistischen
Schriften prahlte.
Bei ihm war Denken und
Handeln eine Einheit voller Klarheit. Von ihm ist ein bedeutendes Gedicht
überliefert, das Dōgen hier zitiert:
„Das ganze Universum in den zehn
Richtungen ist das Auge des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn
Richtungen ist die tägliche Sprache des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn
Richtungen ist der ganze Körper des Mönchs.
Das ganze Universum in den zehn
Richtungen ist die strahlende Klarheit des
Selbst.“
Nach
der alten indischen Lehre besaßen das Universum und die Welt zehn konkrete
Himmelsrichtungen. Sie stehen für ein
ganz konkretes, realitätsnahes Bewusstsein und Verhalten in dieser Welt und im
Universum. Mit dem Auge sind die
sinnliche Wahrnehmung und vor allem das Sehen
angesprochen. In der zweiten Zeile geht es um die klare und eindeutige Sprache der Buddhisten, die eine
Verwirklichung der Welt und des Universums als Realität ist. Die Sprache und
das Reden sind dabei keine Schein-Wirklichkeiten, die den Zuhörern vorgegaukelt
werden und den Bezug zur Wirklichkeit und ethischen Klarheit verloren haben.
In der dritten Zeile geht es
um die Form und den Körper, die
ebenfalls zur leuchtenden Klarheit gehören. Ein abgehobener, angeblich klarer
Geist, der ohne Körper auskommt, wird damit kategorisch ausgeschlossen. Wer
intuitive Klarheit besitzt, hat auch eine klare Körperlichkeit und klare
Gefühle: der Körper wird im Buddhismus nicht abgewertet.
In der letzten Zeile führt
Meister Keichin das Selbst des
Menschen auf, das sich radikal von einem abgegrenzten
Ego des Egoisten unterscheidet, denn dieses hat weder die Klarheit über
sich selbst, noch über die Welt oder über andere Menschen. Besonders ehrgeizige
Ziele des Egoisten führen häufig dazu, dass der Mensch sich geistig
verbarrikadiert und den realen Bezug zu anderen Menschen, zur Umwelt und zu
sich selbst verliert. Dies kann bei Egoisten für die Dominanz des eigenen
Körpers der Fall sein, zum Beispiel wegen dessen angeblicher oder wirklicher Schönheit
oder Attraktivität. Es kann sich auch um geistigen
Hochmut oder angebliche rhetorische Überlegenheit handeln. Für Egoisten
gibt es kein offenes Selbst, das die eigenen engen Grenzen überschreitet und
die Dualität von Subjekt und Objekt auflöst.
Die
zehn Himmelsrichtungen werden in diesem Gedicht mit diesem offenen Selbst in
strahlender Klarheit gleichgesetzt. Das wahre Selbst hat die Trennung von
Subjekt und Objekt überwunden und sich zum ganzen Universum hin geöffnet. Es
bildet eine großartige Einheit mit ihm. Bei dieser Öffnung entsteht laut
Meister Keichin die strahlende Klarheit. Dieses so verstandene Selbst ist in
allen Menschen ausnahmslos vorhanden und wirksam, es ist die Buddha-Natur.
Genau in diesem Sinne
verstehe ich die häufig missverstandene Ich-Losigkeit,
die im Buddhismus gelehrt wird. Es ist unsinnig zu behaupten, dass die
Wirklichkeit des Körpers, der Gefühle und des Handelns nicht vorhanden wäre.
Entscheidend ist, ob es sich um ein unklares und daher abgegrenztes Ego
handelt, also um einen mehr oder weniger krankhaften Ich-Bezug und die
übertriebene Zentrierung auf sich selbst.
Das ist das Gegenteil eines
offenen Selbst, das Joanna Macy aufgrund ihrer langen Erfahrungen im Umgang mit
vielfältigen und nicht zuletzt psychischen Leiden ihrer Schülerinnen und
Schüler beschreibt. Wer sich hinter seinen engen Ich-Grenzen verbarrikadiert,
verliert seine Lebendigkeit, Kreativität und Lebensfreude – und die lebende
Verbindung zur Umwelt sowie zu anderen Menschen.
Bei ihm gibt es kein Fließen
mehr. In Bezug auf die Dynamik der Psyche möchte ich nach Freud hinzufügen,
dass eine derartige Abgrenzung und Verdrängungsleistung erhebliche Energien des
Menschen verbraucht, die dann für andere Aufgaben und Lebensbereiche nicht mehr
zur Verfügung stehen.
Verdrängungen sind keine
optimalen Lösungen psychischer Probleme; sie ermöglichen zwar ein minimales
Überleben im Alltag, sind aber doch psychische Krankheiten und müssen zum Beispiel zusammen mit einem
Therapeuten aufgearbeitet werden. Nicht zuletzt blockieren sie die wichtigen Lernprozesse der verschieden
Lebensphasen: Buddhas Achtfacher Pfad zur Überwindung des Leiden ist dann
verschlossen.