Dōgen zitiert dann noch
einmal Meister Chosa Keichin:
„Das ganze Universum in den zehn
Richtungen existiert in der leuchtenden Klarheit des Selbst.
Im ganzen Universum in den zehn
Richtungen gibt es niemanden, der nicht er selbst ist.“
Das heißt, dass das
leuchtende und klare Selbst und das ganze Universum in seiner vollen
Wirklichkeit identisch sind, sie können nur künstlich im Geist getrennt werden.
Meister Keichin verstärkt diese Aussage in der zweiten Zeile des Gedichts,
indem er betont, dass es im ganzen Universum, also in der konkreten Welt, in
der wir leben, keinen Menschen gibt, der nicht von Natur aus das klare Selbst
ist, und zwar ganz eigenständig und ursprünglich, nämlich ohne schädliche
Einflüsse durch andere Menschen oder die Umwelt. Es versteht sich natürlich von
selbst, dass der Meister hier die Wirklichkeit des Erwachten beschreibt, wie
sie von Natur aus beschaffen ist: die Buddha-Natur.
Er spricht nicht von den gewöhnlichen Menschen, die „den eigenen Käfig nicht verschrotten“.
Im Mai 2012 besuchte der
große japanische Kalligrafie-Meister und Dōgen-Kenner Kazuaku Tanahashi Berlin.
Ich konnte dabei aus unmittelbarer Nähe beobachten, wie er mit dem Pinsel
Kalligrafien zu bestimmten Themen des Lebens und zu überlieferten Geschichten
anfertigte. Mich beeindruckten seine große Ruhe und Klarheit, mit denen er zu
Werke ging – ganz auf seine künstlerische Darstellung bezogen und fokussiert.
Das ist die strahlende Klarheit, die Dōgen in diesem Kapitel beschreibt.
Laut Dōgen ist es unbedingt erforderlich,
diese Buddha-Wahrheit in der Praxis und mit Ausdauer zu erlernen. Wenn man nicht
mit voller Aufrichtigkeit handelt, entfernt man sich immer mehr von dieser
Wahrheit, erklärt er:
„Es gab nur wenige frühere Meister, die die strahlende
Klarheit durch solche Anstrengungen erlernt haben.“
Er
erinnert an Bodhidharma, der die authentische Praxis und Lehre des Buddhismus
nach Ostasien brachte und an seinen authentischen Nachfolger Taiso Eka
weitergab:
„Dies war
die direkte Erfahrung der strahlenden Klarheit der buddhistischen Vorfahren im
Dharma.“
Und
Dōgen fügt noch hinzu, dass vor
diesem historischen Ereignis niemand in China diese strahlende Klarheit der
authentischen buddhistischen Meister gesehen oder davon gehört hatte. Er fragt
deshalb: „Wie hätten sie ihre eigene
strahlende Klarheit erkennen können?“
Mit Bodhidharma kam also die
buddhistische Praxis nach China, wo bis dahin die theoretische Lehre
vorgeherrscht hatte, der nach Dōgen die Einheit
von Theorie und Praxis fehlte. Die strahlende Klarheit des Körper-und-Geistes ist genau diese
Verschmelzung von theoretischer Lehre und der Praxis des Zazen sowie des
Handelns im Alltag.
Die strahlende Klarheit ist also keine
schöne Vorstellung, kein Wunschdenken und keine Flucht aus der Wirklichkeit. Schließlich fragt uns Dōgen:
„Wie kann
irgendjemand seine eigene strahlende Klarheit (vorher) gekannt haben?“
Diesen
Ansatz vertieft er weiter, indem er sagt, dass niemand vor diesem Ereignis es
überhaupt wahrgenommen und erkannt hätte, wenn er der strahlenden Klarheit
begegnet wäre. Vorher war es nur möglich, die Klarheit „mit dem Gehirn zu
ergreifen“, das heißt also, sie nicht ganzheitlich zu erfahren, sondern sich
lediglich im theoretischen Lernen und Denken vorzustellen. Dies ist aber gerade
nicht die intuitive ganzheitliche Klarheit, die Dōgen beschreibt.
Er spricht sogar davon, dass
es die gewöhnlichen Menschen verabscheuen, dieser großen Klarheit zu begegnen.
Dadurch entfernen sie sich aber immer weiter von ihr und löschen sie vielleicht
sogar ganz aus. Eine solche Entfremdung ist tief greifend und entwickelt eine
unmittelbare negative Kraft. Sie führt zu Hektik oder Trägheit, Abhängigkeit
oder Ablehnung, kurz gesagt: Sie ist unausweichlich mit den drei buddhistischen
Giften Gier, Hass und Verblendung verbunden. Dōgen bezeichnet solche Menschen
als „stinkende Hautsäcke“.
Dōgen erklärt, dass
man sich die strahlende Klarheit nicht konkretistisch als rotes, weißes, blaues
oder goldenes Licht vorstellen soll. Auch die Klarheit des Feuers oder des
Wassers oder der Glanz einer Perle und das Glitzern eines Diamanten bleiben
häufig auf der Ebene der äußeren Wahrnehmung hängen und können dann nicht als
Beschreibung der umfassenden strahlenden Klarheit des Buddha-Dharma dienen. Wenn
man auf sie fixiert ist, taugen sie noch nicht einmal als Gleichnis!
Er schildert, dass die Buddhas und
Vorfahren im Dharma diese Klarheit praktizieren und erfahren, und genau dabei
„werden sie Buddha, sitzen als Buddha und erfahren Buddha.“
Es wird deutlich, dass Dōgen hier
ebenfalls die Einheit der strahlenden Klarheit, der buddhistischen Praxis und
des Handelns in den Mittelpunkt stellt. Das heißt, dass man ohne ein solches
Handeln die strahlende Klarheit nicht erfahren kann.