Donnerstag, 18. Juli 2013

Der Geist hier und jetzt ist Buddha (Soko shin ze butsu)



In diesem Kapitel des Shōbōgenzō grenzt Dōgen die buddhistische Lehre des Körper-und-Geistes von der altindischen Philosophie des Atman ab, die zur Zeit Gautama Buddhas beispielhaft von dem Brahmanen Senika vertreten wurde. Nach dem tiefen Lebens-Verständnis Buddhas führt der Glaube an die Ideologie eines Atman zu Leiden, Ausweglosigkeit und Entfremdung von der Kraft der Wirklichkeit.

Mehrere Streitgespräche zwischen Buddha und Senika stellen die wesentlichen Kernpunkte der damals neuen buddhistischen Befreiungs-Lehre treffend dar und zeigen die Unterschiede zum Glauben des Brahmanismus, der Ausweg aus dem Leiden: Die vier Edlen Wahrheiten und die Himmlischen Verweilungen wie liebevolle Zuwendung und Gleichmut.

Senika vertrat den Glauben, es gebe einen ewigen, unveränderlichen Seelenkern (Atman), der auch als abstrakter und recht nebuloser ewiger Geist des Menschen verstanden wurde. Dieser Geist sei vom jeweiligen Körper unabhängig und müsse durch die verschiedenen Wiedergeburten von einem Körper zum anderen gehen. Er müsse sein schlechten Karma abarbeiten und immer wieder in den leidvollen Kreislauf des Lebens zurückkehren. Dieser Atman werde erst nach fast endloser Wiedergeburten vom Zwang der Wiederkehr des Leidens in der Welt erlöst und geht dann in den Weltgeist „Brahman“ ein, dann verliert er seine Individualität und verschwindet.

Es ist klar, dass damit eine ziemlich pessimistische Weltsicht verbunden ist: Erst nach vielen leidvollen Wiedergeburten als Individuum löst sich der Mensch schließlich auf und verschwindet im Welt-Geist. Das menschliche individuelle Leben sei von Krankheit, Tod, Jammer, Gram und Verzweiflung geprägt, Handeln im Leben bringe uns überwiegend schlechtes Karma, das die Wiedergeburt verschlechtert, die außerdem an die Kaste im altern Indien gekoppelt ist.

So müsse der leidende Geist den alten, „abgetragenen“ Körper verlassen und einen neuen ebenfalls leidvollen zu suchen. Dafür wird das Gleichnis einer Schlange verwendet: Sie häutet sich und lässt die alte Haut zurück, die unbrauchbar geworden ist. Sie lebt dann in der neuen Haut weiter, aber kann den Kreislauf des leidvollen Lebens nicht verlassen.

Laut Senika hat diese von ihm behauptete Geist-Substanz bestimmte Fähigkeiten, sie könne nämlich zwischen Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und Verwirrung unterscheiden. Sie sei absolut selbstständig, unveränderlich und auch nicht lernfähig. Ihre Aufgabe liegt darin, das schlechte Karma durch leidvolle Wiederkehr in der Welt abzuarbeiten und sich dann aufzulösen.

Dōgen lehnt diese brahmanische Lehre mit Nachdruck ab und erläutert das anhand des berühmten Satzes: „Geist hier und jetzt ist Buddha.“ Das heißt, der Zen-Geist existiert immer in der Einheit mit dem Körper und handelt genau im Hier und Jetzt. Dabei handelt er vor allem in der Einheit mit der Buddha-Natur, also der ursprünglichen befreiten Natur aller Menschen. Dabei geht es Dōgen nicht um Glauben, Wünsche und abstrakte Vorstellungen, sondern um die reale Wirklichkeit, ob wir sie nun mögen oder nicht.

Denn eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne Wunschträume oder böse Albträume sei vor allem eine wesentlich Ursache für das Leiden der Menschen. Dies betont im Übrigen nicht zuletzt der Psychologe Sigmund Freud: ohne Wirklichkeit keine Befreiung vom Leiden.

Der Geist ist nicht unabhängig von Ort und Zeit.
Im japanischen Titel dieses Kapitels, Soko shin ze butsu, bedeutet soku „hier und jetzt“, und shin heißt „Geist“; ze kann man übersetzen mit „ist“ und butsu mit „Buddha“. Dieser Satz und seine Bedeutung waren im alten China sehr berühmt, aber Dōgen erklärt, dass sich leider immer wieder erstaunliche Fehlinterpretationen eingeschlichen haben, die er in diesem Kapitel fundiert widerlegt. Dabei arbeitet er gleichzeitig die wahre Bedeutung heraus.

Nishijima Roshi warnt davor, diesen Satz nur oberflächlich und rein körperlich im Sinne des Materialismus zu verstehen. Denn dann würde es sich um den sogenannten „Naturalismus“ handeln, der vom Buddhismus klar abgegrenzt werden müsse. Buddha bedeutet in Nishijimas Interpretation nichts anderes als die Wahrheit, die sich nur im gegenwärtigen Augenblick offenbart. Im Augenblick der Wahrheit ist es völlig ausgeschlossen, dass Körper-und-Geist getrennt sind.

Das heißt im Klartext, dass der Geist im Zustand der Erleuchtung und Klarheit niemals isoliert sein kann, oder anders ausgedrückt: Wenn er abgetrennt ist, kann dies nicht der Zustand der Erleuchtung, also der Wahrheit, beziehungsweise der Zustand von Buddha sein!

Wer an einen getrennten Geist glaubt, dem ist der Weg zur Erleuchtung versperrt. Ein getrennter Geist existiert niemals in der Wirklichkeit des Handelns im Augenblick, sondern er gehört in den Bereich der Ideen und der Ideologien, ist deshalb in der Wirklichkeit nicht erfahrbar. Eine solche Illusion muss nach Gautama Buddha letztlich zum Leiden führen, da sie nicht stabil und tragfähig ist: Ideen sind nicht die Wirklichkeit, sondern Tätigkeiten unseres Gehirns. Idealisten haben meist nicht die Kraft, diesen Schritt zur Wirklichkeit zu vollziehen. Sie verbleiben in wirklichkeitsfremden Träumen, und wir müssen froh sein, wenn sie nicht zu Ideologen und Fanatikern werden, die anderen und sich selbst großes Leid zufügen.