In diesem Kapitel des Shōbōgenzō
grenzt Dōgen die buddhistische Lehre des Körper-und-Geistes von der
altindischen Philosophie des Atman ab,
die zur Zeit Gautama Buddhas beispielhaft von dem Brahmanen Senika vertreten wurde. Nach dem tiefen
Lebens-Verständnis Buddhas führt der Glaube an die Ideologie eines Atman zu Leiden, Ausweglosigkeit und Entfremdung
von der Kraft der Wirklichkeit.
Mehrere Streitgespräche zwischen Buddha und Senika stellen die wesentlichen
Kernpunkte der damals neuen buddhistischen Befreiungs-Lehre treffend dar und zeigen
die Unterschiede zum Glauben des Brahmanismus, der Ausweg aus dem Leiden: Die
vier Edlen Wahrheiten und die Himmlischen Verweilungen wie liebevolle Zuwendung
und Gleichmut.
Senika vertrat den Glauben, es gebe einen ewigen, unveränderlichen
Seelenkern (Atman), der auch als abstrakter
und recht nebuloser ewiger Geist des
Menschen verstanden wurde. Dieser Geist sei vom jeweiligen Körper unabhängig
und müsse durch die verschiedenen Wiedergeburten von einem Körper zum anderen
gehen. Er müsse sein schlechten Karma abarbeiten und immer wieder in den
leidvollen Kreislauf des Lebens zurückkehren. Dieser Atman werde erst nach fast
endloser Wiedergeburten vom Zwang der Wiederkehr des Leidens in der Welt erlöst
und geht dann in den Weltgeist „Brahman“ ein, dann verliert er seine Individualität
und verschwindet.
Es ist klar, dass damit eine ziemlich pessimistische Weltsicht verbunden
ist: Erst nach vielen leidvollen Wiedergeburten als Individuum löst sich der
Mensch schließlich auf und verschwindet im Welt-Geist. Das menschliche
individuelle Leben sei von Krankheit, Tod, Jammer, Gram und Verzweiflung
geprägt, Handeln im Leben bringe uns überwiegend schlechtes Karma, das die Wiedergeburt
verschlechtert, die außerdem an die Kaste im altern Indien gekoppelt ist.
So müsse der leidende Geist den alten, „abgetragenen“ Körper verlassen und
einen neuen ebenfalls leidvollen zu suchen. Dafür wird das Gleichnis einer Schlange
verwendet: Sie häutet sich und lässt die alte Haut zurück, die unbrauchbar
geworden ist. Sie lebt dann in der neuen Haut weiter, aber kann den Kreislauf
des leidvollen Lebens nicht verlassen.
Laut Senika hat diese von ihm behauptete Geist-Substanz bestimmte Fähigkeiten, sie könne nämlich zwischen
Leid und Freude, Wärme und Kälte, Schmerz und Verwirrung unterscheiden. Sie sei
absolut selbstständig, unveränderlich und auch nicht lernfähig. Ihre Aufgabe
liegt darin, das schlechte Karma durch leidvolle Wiederkehr in der Welt abzuarbeiten
und sich dann aufzulösen.
Dōgen lehnt diese brahmanische Lehre mit Nachdruck ab
und erläutert das anhand des berühmten Satzes: „Geist hier und jetzt ist Buddha.“ Das heißt, der Zen-Geist
existiert immer in der Einheit mit dem Körper und handelt genau im Hier und
Jetzt. Dabei handelt er vor allem in der Einheit mit der Buddha-Natur, also der
ursprünglichen befreiten Natur aller Menschen. Dabei geht es Dōgen nicht um
Glauben, Wünsche und abstrakte Vorstellungen, sondern um die reale
Wirklichkeit, ob wir sie nun mögen oder nicht.
Denn eine Flucht aus der Wirklichkeit in schöne
Wunschträume oder böse Albträume sei vor allem eine wesentlich Ursache für das
Leiden der Menschen. Dies betont im Übrigen nicht zuletzt der Psychologe
Sigmund Freud: ohne Wirklichkeit keine Befreiung vom Leiden.
Der Geist ist nicht unabhängig von Ort und Zeit.
Im japanischen Titel dieses Kapitels, Soko shin ze butsu, bedeutet soku
„hier und jetzt“, und shin heißt
„Geist“; ze kann man übersetzen mit
„ist“ und butsu mit „Buddha“. Dieser
Satz und seine Bedeutung waren im alten China sehr berühmt, aber Dōgen erklärt,
dass sich leider immer wieder erstaunliche Fehlinterpretationen
eingeschlichen haben, die er in diesem Kapitel fundiert widerlegt. Dabei
arbeitet er gleichzeitig die wahre Bedeutung heraus.
Nishijima Roshi warnt davor, diesen Satz nur oberflächlich und rein
körperlich im Sinne des Materialismus zu verstehen. Denn dann würde es sich um
den sogenannten „Naturalismus“ handeln, der vom Buddhismus klar abgegrenzt
werden müsse. Buddha bedeutet in
Nishijimas Interpretation nichts anderes als die Wahrheit, die sich nur im
gegenwärtigen Augenblick offenbart. Im Augenblick der Wahrheit ist es völlig ausgeschlossen,
dass Körper-und-Geist getrennt sind.
Das heißt im Klartext, dass der Geist im Zustand der Erleuchtung und
Klarheit niemals isoliert sein kann, oder anders ausgedrückt: Wenn er
abgetrennt ist, kann dies nicht der Zustand der Erleuchtung, also der Wahrheit,
beziehungsweise der Zustand von Buddha sein!
Wer an einen getrennten Geist glaubt, dem ist der Weg zur Erleuchtung
versperrt. Ein getrennter Geist existiert niemals in der Wirklichkeit des
Handelns im Augenblick, sondern er gehört in den Bereich der Ideen und der
Ideologien, ist deshalb in der Wirklichkeit nicht erfahrbar. Eine solche
Illusion muss nach Gautama Buddha letztlich zum Leiden führen, da sie nicht
stabil und tragfähig ist: Ideen sind nicht die Wirklichkeit, sondern
Tätigkeiten unseres Gehirns. Idealisten haben meist nicht die Kraft, diesen
Schritt zur Wirklichkeit zu vollziehen. Sie verbleiben in wirklichkeitsfremden
Träumen, und wir müssen froh sein, wenn sie nicht zu Ideologen und Fanatikern werden,
die anderen und sich selbst großes Leid zufügen.