Zweifellos geht es in dem Kapitel „Der Geist hier und jetzt ist Buddha“ um
die Wirklichkeit des Geistes im
gegenwärtigen Augenblick, die mit der Buddha-Natur
identisch ist: Es geht um die Einheit von Körper-und-Geist.
Im alten Indien gab es beachtliche Strömungen, die sich als Naturalismus bezeichneten und
behaupteten, dass man keine Anstrengungen,
wie etwa die Meditation des Samādhi, auf sich nehmen müsse, um den Buddhismus
und die Erleuchtung zu verwirklichen. Sie behaupteten ferner, dass jedes Handeln ganz natürlich sei und es
daher überhaupt keiner Moral im Leben
bedürfe. Auch die buddhistischen Gelöbnisse seien daher überflüssig. Nishijima
Roshi betont, dass dieses Verständnis ein schwerwiegender Fehler ist, weil dann
auch jedes kriminelle Handeln erlaubt wäre, da es „natürlich“ sei.
Es ist sicher nicht besonders schwierig, den Satz „Der Geist hier und
jetzt ist Buddha“ auszusprechen oder
zu zitieren und ihn theoretisch und intellektuell zu verstehen, aber dabei
handelt es sich nur um dualistisches
Denken. Gegenüber dem Verständnis eines vom Körper isolierten Geistes mag
dies zwar ein gewisser philosophischer Fortschritt sein
und der Wirklichkeit des Lebens und der Welt etwas näher kommen, aber Dōgen
gibt sich damit nicht zufrieden. Nach seiner
tiefen Erkenntnis, der ich folge, kann man ohne die Zazen-Praxis und ohne das
konkrete Handeln im Augenblick nicht wirklich selbst erfahren, was dieser Satz
tatsächlich bedeutet. Aber viele Menschen im Osten und im Westen glauben leider
fest daran, dass es einen abgrenzbaren Geist gibt, der irgendwie in unserem
Körper enthalten ist und sich vom Körper selbst unterscheidet. Dies kommt dem
alten indischen Glauben an einen unveränderlichen Seelenkern, Atman, sehr nahe.
Durch die Betonung des Hier und Jetzt weist Dōgen aber auf die ganz konkrete Situation hin und macht
klar, dass der Geist überhaupt nicht
unabhängig vom Augenblick, von der Zeit und von diesem Ort ist. Damit führt
uns der Zen-Buddhismus vom abstrakten theoretischen Denken und vielleicht
liebgewordenen Glauben weg zum Hier und Jetzt des Handelns.
„Was jeder
Buddha und jeder Vorfahre im Dharma bewahrt haben und worauf sie sich verlassen
haben, ist genau und ohne Ausnahme: ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘.“
Mit diesem Satz beschreibt Dōgen die Grundlage aller Buddhas und aller
großen Meister im Buddhismus, und er bezeichnet es als grundlegenden Irrtum, zu behaupten, dass diese Wahrheitsaussage im
buddhistischen Indien nicht bekannt gewesen und gelehrt worden sei, sondern
dass sie erst in China in der Zeit des Zen-Buddhismus herausgearbeitet und
gelehrt wurde.
„Viele
Schüler verstehen es jedoch falsch (und behaupten), dass ‚Geist hier und jetzt
ist Buddha‘ in Indien (noch) nicht existiert habe, sondern zum ersten Mal in
China gehört worden sei. Als Ergebnis erkennen sie ihren Irrtum nicht als
(wirklichen) Irrtum. Weil sie den Irrtum nicht als Irrtum erkennen, fallen
viele Menschen abwärts in den Nicht-Buddhismus.“
Wenn diese Aussage im alten Indien nicht bekannt gewesen
wäre, würde das bedeuten, dass es im frühen indischen Buddhismus noch keine
Klarheit über den menschlichen Geist gab, sondern eine idealistische und
theoretische Vorstellung vorherrschte. Die Dimension des konkreten Hier und
Jetzt wäre dann nicht einbezogen worden. Auch Nishijima Roshi zeigt auf, dass
diese Ansicht falsch ist, denn damit würde behauptet, dass der Zen-Buddhismus
mit dem frühen indischen Buddhismus nicht
übereinstimmt und mit der Lehre von Gautama Buddha nicht identisch ist. Wer
eine solche Meinung vertritt, ist nach Dōgens Überzeugung daher kein Buddhist:
„Wenn
törichte Menschen den Satz ‚Geist hier und jetzt ist Buddha‘ hören,
interpretieren sie ihn so, dass der (unterscheidende) Verstand und die
Sinneswahrnehmung der gewöhnlichen Menschen, die niemals den Bodhi-Geist (der
Wahrheit) erlangt haben, genau Buddha sind.“
Damit teilen sie das Schicksal
der Menschen, die die Buddha-Lehre nicht verwirklichen können und deshalb keinen Ausweg in den Wirren des Lebens
finden.