Mittwoch, 10. Juli 2013

Vom Bodhi-Geist zum Erwachen


Der Bodhi-Geist ist Buddhas Schatz des „Wahren-Dharma-Auges und ist der feine Geist des Nirvāna“. Dōgen bezeichnet es als ewige Regel der Meister, dass wirklich jeder von ihnen den Bodhi-Geist erweckt hat. Von allen Buddhas und großen Meistern sei der Bodhi-Geist „erweckt, bewahrt und behütet“ worden.
Gerade für das Leben in einem Kloster sei es ganz wesentlich, ob man den Bodhi-Geist erweckt habe oder nicht; die Erweckung gehöre zu den Grundregeln der Zen-Klöster; er steht am Anfang des Weges zum Erwachen. Deshalb kritisiert Dōgen die Mönche seiner Zeit, die es vernachlässigen, den Bodhi-Geist in aller Klarheit zu erwecken. Er betrachtet sie nicht als wahre Mönche und Schüler des Buddha-Dharma.

„Zu erwachen bedeutet, (bei der Erweckung des Bodhi-Geistes) klar zu sein. (Diese Erweckung) ist (noch) nicht die große Verwirklichung der Wahrheit selbst.“

Es gibt in Japanisch zwei Bedeutungen der Erweckung:

1. Wahrnehmen, Erkennen, Aufwachen, sich im denkenden Geist über eine begrenzte Bedeutung klar werden.
2. Die Wirklichkeit im weitesten Sinne durch den ganzen Körper-Geist realisieren.

Das Erwachen und die Erleuchtung behandelt Dōgen im Shōbōgenzō vertieft in seinem Kapitel „Was ist das große Erwachen oder die Erleuchtung?“. Er unterstreicht, dass alle großen Meister Bodhisattvas waren, die für andere gehandelt haben und sie vom Leiden und von Täuschungen befreien wollten und auch wirklich befreit haben. Und er betont besonders die große Bedeutung, anderen zu helfen und andere zu befreien.

Damit sollten wir unverzüglich und ohne Zögern beginnen. Dabei sei es völlig unwichtig, ob wir Laien oder Mönche sind, welche Position wir in der Gesellschaft haben, oder ob wir selbst leiden oder glücklich sind. Dieser Geist, andere zu befreien, kann mit Vorstellungen und Theorien von einer begrenzten oder unbegrenzten Welt in unserem Leben nicht erfasst werden. Wir können nicht die Ausrede verwenden, dass unsere Möglichkeiten und Kräfte beschränkt sind und wir deshalb anderen nicht helfen können. Mit solchen Ausflüchten entzieht man sich meist der Verantwortung für andere, sie sind wohlfeile „Philosophien“ des Egoismus und der Trägheit.

„Der Bodhi-Geist ist das Tor zur Dharma-Klarheit, denn er verhindert, dass man die drei Kostbarkeiten (Buddha, Dharma und Sangha) ablehnt (oder gröblich vernachlässigt).“

Wenn wir den Bodhi-Geist erweckt haben, sollten wir „ihn standhaft bewahren und niemals zurückfallen oder vom guten Wege abweichen“, so legt uns Dōgen ans Herz.

Anschließend zitiert er Gautama Buddha, der fragte: „Wie bewahren und beschützen die Bodhisattvas das eine Große, nämlich den Bodhi-Geist?“ Buddha vergleicht dieses Bemühen um den Schutz des Bodhi-Geistes damit, wie ein Einäugiger in großer Sorge sein einzig verbliebenes Auge schützt oder wie eine Gruppe von Menschen, die eine Wildnis durchqueren muss, sich um ihren Führer sorgt und ihn beschützt. Denn sie braucht den Führer mit seiner Klarheit und Übersicht unbedingt, um der Gefahr zu entrinnen und wieder in Sicherheit zu kommen. Hierzu erklärt Dōgen, dass man die höchste Wahrheit erlangt, wenn man den Bodhi-Geist auf diese Weise beschützt, und dass man dann „beständig, glücklich, selbstständig und rein“ ist.

Dōgen weist er auf die Gefahr hin, nach der Erweckung des Bodhi-Geistes wieder zurückzufallen, und räumt ein, dass er selbst früher manchmal befürchtet hatte, abzuirren und den Bodhi-Geist wieder zu verlieren. Deshalb sei es äußerst wichtig, einen wahren Lehrer zu finden und mit ihm zusammen den Weg des Buddha-Dharma zu gehen.

Außerdem warnt Dōgen vor Dämonen mit hinterlistigen Ratschlägen, die uns einflüstern, den Bodhi-Geist wieder zu verlassen. Solche Dämonen nehmen sogar oft das Äußere und das Verhalten der Eltern, Freunde und Lehrer an, sodass man ihnen allzu leicht vertraut! Dieses dumme Gerede der Dämonen müssen wir durchschauen und klar erkennen, wer unsere wirklichen Verwandten, Freunde und Lehrer sind.

„Solche falschen Bodhisattvas, die uns in die Irre führen, sagen: ‚Buddhas Wahrheit ist weit entfernt. Du würdest durch lang anhaltende Schwierigkeiten leiden und die tiefsten Sorgen erfahren. Es ist der bessere Weg, unser eigenes Leben und (unseren) Tod zuerst in Ordnung zu bringen und erst danach die (anderen) Lebewesen zu befreien‘.“
Dōgen macht deutlich, dass wir mit einer solchen Lebensphilosophie den Bodhi-Geist verlassen und im Bodhisattva-Handeln tragisch zurückfallen. Solche Verführungskünste von Dämonen müssen wir durchschauen, und wir dürfen ihnen nicht im Geringsten Glauben schenken. Das Geheimnis des Bodhisattva-Handelns liegt nämlich gerade darin, dass man durch die helfende Befreiung für andere selbst frei wird und ein zufriedenes Leben führt. Das Gegenteil ist ideeller und materieller Egoismus, der nur an sich selbst denkt und für den eigenen Vorteil arbeitet. Daraus entstehen zwangsläufig Ängste vor dem Verlust von Besitz oder Ansehen, also böse Verhärtungen im psychischen und sozialen Leben.