Mittwoch, 3. Juli 2013

Die Sein-Zeit des Geistes und Lebens


Wie wir heute aus der modernen Physik wissen, kann der menschliche denkende Verstand die vielfältigen Daten der Welt nur im sogenannten mittleren, uns vertrauten Bereich der Physik sinnvoll verarbeiten, während das extrem Große, zum Beispiel das Weltall, und das extrem Kleine, zum Beispiel die Elementarteilchen, nur mathematisch zu beschreiben sind. Da wir mit unserer Vorstellungskraft und dem denkenden Verstand hier nicht weiterkommen, müssen wir also zum Hilfsmittel der nicht mehr anschaulichen Mathematik greifen. Aber die wesentlichen nicht materiellen Bereiche des menschlichen Lebens lassen sich weder mit Naturwissenschaft noch mit der Mathematik erfassen. Das haben Buddha und Dōgen ganz klar erkannt!

Die Sein-Zeit schreitet dabei unaufhörlich voran, ob wir das wollen oder nicht, ob wir es verhindern wollen oder zulassen und ob wir es bedauern oder begrüßen. Unser Leben bewegt sich also schnell voran, und Körper und Geist werden „auf diese Weise durch den Kreislauf von Leben und Tod gefegt“. Dōgen betont hier die Schnelligkeit, mit der das Leben durchlaufen wird. Aber wir haben die große Kraft der Zen-Meditation, sie gibt uns Ruhe, Klarheit, Gleichgewicht und ein erfülltes Leben.

Er zitiert Gautama Buddha mit einem Gleichnis, mit dem dieser einem Mönch die Schnelligkeit erklärt, die mit dem üblichen Verstand nicht begriffen werden kann. Buddha bezeichnet einen Menschen als schnell in diesem Sinne, dem es gelingt, alle Pfeile von vier Bogenschützen zu fangen, die ihre Pfeile gleichzeitig in die vier Himmelsrichtungen abschießen. Alle Pfeile werden dabei ergriffen, bevor sie den Boden berühren. Die Bedrängnis, in der wir uns aufgrund dieser Schnelligkeit des Lebens und der Flüchtigkeit des Augenblicks befinden, können wir laut Dōgen überwinden, wenn wir den Bodhi-Geist und den Willen erwecken, anderen zu helfen, bevor wir uns selbst befreit haben.
„(Das Leben) fließt in jedem Augenblick weiter, ohne die kleinste Pause.“

Es gilt, sich mit diesem Strom der Augenblicke zu verbinden, denn jeder Widerstand oder jedes Leugnen wäre völlig sinnlos und würde erhebliche praktische und psychische Probleme erzeugen. Die Freiheit des Menschen liegt gerade im freien Handeln im Augenblick, das die Zukunft und die Folgen des Handelns einbezieht, ohne an vordergründigen Absichten und Zielen zu kleben und von ihnen dominiert zu werden. Eine kluge Planung ist sich der Unsicherheiten der zukünftigen Entwicklungen bewusst und hütet sich vor falschen Sicherheiten oder von Gier gesteuerten Fixierungen.

Dōgen arbeitet dann die wesentlichen Eckpunkte der Lehre und Praxis des Augenblicks weiter heraus und knüpft damit an das fundamentale Kapitel zur Sein-Zeit an, das er etwa vier Jahre früher verfasst hatte: Wir sollten uns in jedem Augenblick unseres Lebens des Fließens der Zeit klar bewusst sein und dabei ganz im Augenblick als der einzigen Wirklichkeit leben. In jedem dieser Augenblicke sollten wir davon erfüllt sein, andere zu befreien und uns für sie einzusetzen. Dadurch gewinnt unser Leben Sinn und Zufriedenheit, und wir erfahren selbst Befreiung, die lineare Zeit verliert ihre Bedrohung und ihre Schrecken. Dies ist der Bodhi-Geist, der von allen Buddhas und großen Meistern bewahrt und an die Nachfolger übermittelt wurde.