Freitag, 28. Juni 2013

Die Bedeutung des Handelns im Augenblick für unser Leben


Bei Dōgens Analyse des umfassenden Wahrheitsgeistes kommt dem Handeln im Augenblick eine entscheidende Bedeutung zu. Dies erscheint uns Menschen aus dem Westen sicher ungewöhnlich, da wir häufig Geist, Körper, Handeln und Zeit als ganz unterschiedliche Bereiche betrachten.

Das Handeln im Augenblick ist aber deswegen so wichtig, weil das Leben aus buddhistischer Sicht ganz wesentlich durch Handeln geprägt ist – im Positiven wie im Negativen. Vergangene Augenblicke des Handelns können niemals mehr zurückgeholt werden, sodass Fehler unwiederbringlich in der Vergangenheit begangen wurden. In der Zukunft können wir genauso wenig handeln, sodass wir abwarten müssen, bis der Augenblick gekommen ist, um etwas zu tun. Handeln kann man nur im gegenwärtigen Augenblick.

„Der Augenblick der Gegenwart ist von den Augenblicken, die unmittelbar davor und unmittelbar danach sind, abgetrennt, weil wir niemals in der Vergangenheit handeln und niemals in der Zukunft handeln können“,
so formulieren es Nishijima und Cross.

Der Wahrheitsgeist in der Lehre Dōgens bezieht sich daher vor allem auf das Handeln genau in der Gegenwart und nicht auf die Erinnerung an die Vergangenheit oder die Erwartungen für die Zukunft.

Ähnliche Aussagen über die Augenblicklichkeit des Geistes sind mir in der Philosophie des Westens nicht bekannt. Bei uns wird gerade die Dauerhaftigkeit und Ewigkeit des Geistes betont, der völlig unabhängig vom Zeitablauf und von Veränderungen sei. Es gibt zwar den Begriff und die Vorstellung des Zeitgeistes, der aussagt, dass eine bestimmte geschichtliche Zeitperiode einen charakteristischen Geist habe, der typisch für sie ist und sich von anderen geschichtlichen Perioden unterscheidet. Der Zeitgeist im westlichen Sinne ist daher nicht ganz vom Zeitablauf unabhängig, wird aber für den Zeitabschnitt als näherungsweise konstant beschrieben; er bezieht sich niemals auf einen veränderlichen Augenblick.

Was Dōgen mit Sein-Zeit im Hier und Jetzt meint, ist im Zen auch als „Theorie der Augenblicklichkeit“ bekannt. Sie trägt ganz maßgeblich zur Lösung des alten Menschheitsproblems bei, ob es in unserem Leben Freiheit oder im Gegensatz dazu eine deterministische Vorbestimmung gibt. Letztere wird meistens mit dem Gesetz von Ursache und Wirkung verbunden, das angeblich keinen Raum für Freiheit lässt.

„Wenn (alle Dinge) nicht im Augenblick entstehen und vergehen würden, könnte das schlechte Handeln eines früheren Augenblicks nicht verschwinden.“

Dann wäre es auch nicht möglich, dass gutes und richtiges Handeln, das anderen wirklich nützt und im Einklang mit der Ethik ist, in jedem Augenblick neu beginnen könnte, unabhängig davon, was in vergangenen Augenblicken falsch gemacht wurde. Das ist eine äußerst interessante Idee zur Theorie des Augenblicks und zum großen praktischen Nutzen dieser Lebensphilosophie der Sein-Zeit und des Handelns.

Ich erinnere mich, dass Nishijima Roshi mehrfach darauf aufmerksam machte, dass Fehler der Vergangenheit eben keine Wirklichkeit mehr sind, weil sie in vergangenen Augenblicken stattgefunden haben, und dass wir das so hinnehmen müssten. Sie sind nur eine Scheinwirklichkeit im neuronalen Netz unseres Gehirns, denn wir haben die Freiheit, im gegenwärtigen Augenblick anders zu handeln und damit neue Weichen zu stellen.

Dōgen spricht vor allem die Chance an, dass falsches Handeln durch diese Augenblicklichkeit vergeht. Das heißt, der Augenblick, der eine große Fülle und Lebendigkeit besitzt, tritt ganz neu in unser Leben. Diese Augenblicklichkeit gilt nicht zuletzt auch für das gesprochene und geschriebene Wort, das helfen soll, bei anderen den Bodhi-Geist und den Willen zu erwecken, anderen zu helfen, ohne auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.

Ein solcher Augenblick währt nach der altindischen Lehre jedoch außerordentlich kurz. In jedem Augenblick verändern sich die fünf Komponenten (skanda) des Menschen und der Welt. Die Lehre des Augenblicks sowie dessen Entstehen und Vergehen ist zentraler Bestandteil des Buddha-Dharma, und dies sei der große Schatz des wahren Dharma des Tathāgata. Unser Verstand sei aber nicht in der Lage, einen so kurzen Augenblick mit all seinen Verzweigungen, Zusammenhängen und Tatsachen ganz zu verstehen, und unsere Sinnesorgane könnten all dies im Augenblick ebenfalls nicht vollständig erkennen.

Deswegen brauchen wir eine spontane intuitive Klarheit für die wesentlichen Momente unseres Lebens; eine Klarheit, die wesentlich leistungsfähiger ist, als das übliche sogenannte rationale Denken! Genau das lehrt der Zen-Buddhismus in Theorie und Praxis.