Bei Dōgens Analyse des
umfassenden Wahrheitsgeistes kommt dem Handeln
im Augenblick eine entscheidende Bedeutung zu. Dies erscheint uns Menschen
aus dem Westen sicher ungewöhnlich, da wir häufig Geist, Körper, Handeln und
Zeit als ganz unterschiedliche Bereiche betrachten.
Das Handeln im Augenblick
ist aber deswegen so wichtig, weil das Leben aus buddhistischer Sicht ganz
wesentlich durch Handeln geprägt ist
– im Positiven wie im Negativen. Vergangene
Augenblicke des Handelns können niemals mehr zurückgeholt werden, sodass
Fehler unwiederbringlich in der Vergangenheit begangen wurden. In der Zukunft
können wir genauso wenig handeln, sodass wir abwarten müssen, bis der
Augenblick gekommen ist, um etwas zu tun. Handeln kann man nur im gegenwärtigen
Augenblick.
„Der Augenblick der Gegenwart ist von
den Augenblicken, die unmittelbar davor und unmittelbar danach sind,
abgetrennt, weil wir niemals in der Vergangenheit handeln und niemals in der
Zukunft handeln können“,
so formulieren es Nishijima und Cross.
Der Wahrheitsgeist in der
Lehre Dōgens bezieht sich daher vor allem auf das Handeln genau in der
Gegenwart und nicht auf die Erinnerung an die Vergangenheit oder die
Erwartungen für die Zukunft.
Ähnliche Aussagen über die
Augenblicklichkeit des Geistes sind mir in der Philosophie des Westens nicht
bekannt. Bei uns wird gerade die Dauerhaftigkeit und Ewigkeit des Geistes
betont, der völlig unabhängig vom Zeitablauf und von Veränderungen sei. Es gibt
zwar den Begriff und die Vorstellung des Zeitgeistes,
der aussagt, dass eine bestimmte geschichtliche Zeitperiode einen
charakteristischen Geist habe, der typisch für sie ist und sich von anderen
geschichtlichen Perioden unterscheidet. Der Zeitgeist im westlichen Sinne ist
daher nicht ganz vom Zeitablauf unabhängig, wird aber für den Zeitabschnitt als
näherungsweise konstant beschrieben; er bezieht sich niemals auf einen veränderlichen
Augenblick.
Was Dōgen mit Sein-Zeit im
Hier und Jetzt meint, ist im Zen auch als „Theorie der Augenblicklichkeit“
bekannt. Sie trägt ganz maßgeblich zur Lösung des alten Menschheitsproblems
bei, ob es in unserem Leben Freiheit oder im Gegensatz dazu eine
deterministische Vorbestimmung gibt. Letztere wird meistens mit dem Gesetz von
Ursache und Wirkung verbunden, das angeblich keinen Raum für Freiheit lässt.
„Wenn (alle Dinge) nicht im Augenblick
entstehen und vergehen würden, könnte das schlechte Handeln eines früheren
Augenblicks nicht verschwinden.“
Dann wäre es auch nicht
möglich, dass gutes und richtiges Handeln, das anderen wirklich nützt und im
Einklang mit der Ethik ist, in jedem Augenblick neu beginnen könnte, unabhängig
davon, was in vergangenen Augenblicken falsch gemacht wurde. Das ist eine
äußerst interessante Idee zur Theorie des Augenblicks und zum großen
praktischen Nutzen dieser Lebensphilosophie der Sein-Zeit und des Handelns.
Ich erinnere mich, dass
Nishijima Roshi mehrfach darauf aufmerksam machte, dass Fehler der
Vergangenheit eben keine Wirklichkeit mehr sind, weil sie in vergangenen
Augenblicken stattgefunden haben, und dass wir das so hinnehmen müssten. Sie
sind nur eine Scheinwirklichkeit im
neuronalen Netz unseres Gehirns, denn wir haben die Freiheit, im
gegenwärtigen Augenblick anders zu handeln und damit neue Weichen zu stellen.
Dōgen spricht vor allem die Chance an, dass falsches Handeln durch diese Augenblicklichkeit vergeht. Das heißt,
der Augenblick, der eine große Fülle und Lebendigkeit besitzt, tritt ganz neu
in unser Leben. Diese Augenblicklichkeit
gilt nicht zuletzt auch für das gesprochene und geschriebene Wort, das helfen
soll, bei anderen den Bodhi-Geist und den Willen zu erwecken, anderen zu
helfen, ohne auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.
Ein solcher Augenblick währt nach der altindischen Lehre jedoch
außerordentlich kurz. In jedem Augenblick verändern sich die fünf Komponenten (skanda) des Menschen und der Welt. Die
Lehre des Augenblicks sowie dessen Entstehen und Vergehen ist zentraler Bestandteil
des Buddha-Dharma, und dies sei der große Schatz des wahren Dharma des
Tathāgata. Unser Verstand sei aber nicht in der Lage, einen so kurzen
Augenblick mit all seinen Verzweigungen, Zusammenhängen und Tatsachen ganz zu
verstehen, und unsere Sinnesorgane könnten all dies im Augenblick ebenfalls
nicht vollständig erkennen.
Deswegen brauchen wir eine spontane
intuitive Klarheit für die wesentlichen Momente unseres Lebens; eine
Klarheit, die wesentlich leistungsfähiger ist, als das übliche sogenannte
rationale Denken! Genau das lehrt der Zen-Buddhismus in Theorie und Praxis.