Mittwoch, 5. Juni 2013

Wie erweckt man den Bodhi-Geist?


Der Bodhi-Geist (Wahrheits-Geist) ereignet sich auf unerklärbare Weise und hat eine wunderbare, um nicht zu sagen mystische Verbindung zu Gesprächen über die Wahrheit – dies gilt vor allem zwischen Meister und Schüler sowie zwischen Buddhas, also den Vorfahren im Dharma und wahren Meistern. Dōgen bemerkt hierzu:

„(Der Bodhi-Geist) wird uns nicht von den Buddhas und Bodhisattvas verliehen, und er ist jenseits unserer eigenen Fähigkeiten.“

Woher dieser Bodhi-Geist eigentlich kommt, könne man nicht mit Sicherheit sagen, denn er komme nicht von uns selbst und auch nicht von anderen. Seine Erweckung geschieht in unserem täglichen Leben und im menschlichen Körper. In manchen Gebieten ereignet er sich häufiger als in anderen, laut Dōgen vor allem im legendären südlichen Kontinent der indischen Mythologie. Vermutlich geht er auch davon aus, dass im buddhistisch hoch entwickelten Indien der Bodhi-Geist häufiger erweckt wird als in anderen Ländern, in denen der Buddhismus nicht gelehrt und nicht praktiziert wird.

Dōgen betont, dass es falsch wäre, nicht mehr zu praktizieren, wenn der Bodhi-Geist einmal erweckt worden ist: Die Praxis und das Bodhisattva-Handeln müssen ständig fortgesetzt und verfeinert werden, um die Klarheit nicht wieder zu verlieren. Es geht darum, anderen Lebewesen zu helfen und das Ziel der eigene Erleuchtung zurückzustellen, und genau dann kann sich der Bodhi-Geist verwirklichen. Wenn wir so handeln, befinden wir uns in vollständigem Einklang mit dem Bodhi-Geist und erleben Bodhi mit Freude und Glück.

Im Allgemeinen handelt der Bodhi-Geist ohne Unterbrechung auf drei verschiedene Arten: durch den Körper, durch das Sprechen und durch den denkenden Geist. Durch das Handeln im Bodhi-Geist wird den Menschen und allen anderen Lebewesen wirklich geholfen.

Dieses praktische Leben und Handeln ist kein vordergründiges und oberflächliches Vergnügen in einer materialistischen Weise, denn dieses lenkt bekanntlich eher vom Wesentlichen ab oder macht es sogar unmöglich. Das Handeln im Bodhi-Geist hat auch die „Fassaden von Täuschung und Erleuchtung“ überschritten, ist also die klare Wirklichkeit selbst. An dieser Stelle zitiert Dōgen den Bodhisattva Mahākāshyapa:

„Den Geist und das Höchste erwecken:
Diese beiden sind ohne Trennung.
Von diesen beiden Zuständen ist der erste schwieriger (zu verwirklichen):
Andere zu befreien, bevor man selbst Befreiung erlangt hat.
Aus diesem Grund verbeuge ich mich vor (deiner) ersten Erweckung des Geistes.“

Und weiter:
„Eine solche Erweckung des Geistes überschreitet die dreifache Welt.
Wir können ihn daher als das Höchste bezeichnen.“

Dōgen geht es in diesem Zitat vor allem um den Anfang des Buddha-Weges, bei dem zum ersten Mal der Bodhi-Geist der Wahrheit erweckt wird. Ich folge ihm dabei ohne Wenn und Aber: Es bedarf eines kleinen Wunders, um den „schlummernden“ Wahrheitsgeist im Menschen zu erwecken. Damit beginnt eine völlig neue Lebensdimension, die sich von herkömmlichen Vorstellungen und Ideologien befreit und auch nicht blind den scheinbar so wertvollen Dingen des Materialismus nachjagt, die gerade in unserer heutigen Konsumgesellschaft eine meist nicht hinterfragte Dominanz erlangt haben.

Es ist von fundamentaler Bedeutung, sich darüber klar zu werden, dass die beiden Wege des Materialismus und Idealismus, wenn sie unreflektiert und bedenkenlos gegangen werden, in Sackgassen führen, aus denen man sich nur sehr schwer wieder befreien kann.

Bei vielen Menschen nehmen daher heute in der zweiten Lebenshälfte und im hohen Alter die Enttäuschungen immer mehr zu, sie haben das Gefühl, dass sie Wesentliches im Leben verpasst haben und vieles wirklich sinnlos war. Ein solches Eingeständnis könnte auch den Wahrheitsgeist erwecken, aber das erfordert eine gute Portion Mut.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele stattdessen auf die Angebote der medialen Unterhaltungsindustrie zurückgreifen, um nicht über verpasste Möglichkeiten nachdenken zu müssen. Damit wird aber nur die Unklarheit des wahren Selbst verstärkt. Zum Handeln ist es jedoch nie zu spät!