Alle Worte der Lehre, und seien sie auch noch so poetisch oder scharfsinnig, können immer nur auf die große Wahrheit hinweisen, sie aber nicht ersetzen. Sie sind dauernd in Gefahr, in Spitzfindigkeiten auszuarten oder romantische Träumereien zu erzeugen, die vom Hier und Jetzt wegführen.
Dōgen macht deutlich, dass die Zazen-Praxis uns Klarheit gibt, wenn unser Geist sich in abstrakten Vorstellungen verloren hat, und uns in die Gegenwart des Hier und Jetzt als Einheit von Körper und Geist zurückholt. Dann wird auch die dualistische Trennung von Welt und Ich überwunden und wir finden zur umfassenden Einheit zurück.
So könne man die große buddhistische Wahrheit empfangen, sie schauen und im Handeln benutzen. Nach Dōgens Erfahrung ist Zazen als Übung des Gleichgewichts – so hat es Nishijima Roshi formuliert – von unschätzbarem Wert und darf auf keinen Fall auf dem Dharma-Weg ausgelassen werden, indem man sich zum Beispiel nur auf die übrigen Bereiche des Achtfachen Pfades zur Überwindung des Leidens konzentriert.
Dabei darf man sich auch nicht mit der Bezeichnung „Zen-Schule“ aufhalten, denn sie wurde der Gruppe um den indischen Meister Bodhidharma erst später in China gegeben, als er dort die Zazen-Praxis übte und die damaligen chinesischen Mönche und Laien noch wenig Verständnis dafür hatten. Zazen ist keine bestimmtem Schule und nichts anderes als genau der Samādhi nach der authentischen Lehre Gautama Buddhas, die Bezeichnung ist daher von untergeordneter Bedeutung. Bereits in den Reden Gautama Buddhas heißt es häufig, dass man sich mit gekreuzten Beinen an einem ruhigen Ort im Samādhi niedersetzen solle.
Zazen kann jeder praktizieren, unabhängig davon, ob er gemäß der buddhistischen Lehre und nach den buddhistischen Geboten ein vollständig reines Leben führt oder nicht. Diese Praxis ist also keinesfalls nur den Mönchen und Nonnen mit „reinem Lebenswandel“ vorbehalten, sondern steht jedem offen und sollte auch von jedem geübt werden. Dabei ist es laut Dōgen völlig unsinnig, den Wert des Menschen nach Mann und Frau zu unterscheiden. Auch viel beschäftigte Laien sind gut beraten, Zazen zu praktizieren, selbst wenn der Tagesablauf durch die Arbeit weitgehend ausgefüllt ist und scheinbar keine zeitliche Lücke besteht, um zu praktizieren. Wer das Streben und die Entschlossenheit zur Wahrheit mit der Übungspraxis des Zazen verbindet, werde trotz seiner weltlichen Aufgaben und Pflichten zweifellos zur Klarheit gelangen.
Die scheinbare Erkenntnis, dass unser Geist ohne Anstrengung schon immer Buddha sei, muss ebenfalls als bloße Vorstellung, Illusion und falsche Theorie durchschaut werden, kann niemals die große Kraft der Übungspraxis in der Gegenwart erreichen und grenzt wahrhaftig an Populismus. Das Wissen allein kann ohne die Einheit von Körper-und-Geist und das Handeln im Augenblick nicht die nötige Kraft und Ausdauer entwickeln, die erforderlich sind, um zur Wahrheit zu gelangen.
Dieser Unterschied zwischen Wissen und Reden einerseits und der ganzheitlichen Erfahrung im Handeln in der Einheit von Geist, Psyche, Körper, Universum und Selbst andererseits wird im Zen-Buddhismus immer wieder hervorgehoben und ist zweifellos ein ganz wesentlicher Beitrag für unsere westliche Kultur, in der die einseitige Theorie meist überschätzt wird und der Idealismus nur allzu leicht in gefährliche Ideologien umschlägt. Dann sind Lehre und Praxis meilenweit von einander entfernt und der Geist ist total unklar! Dies führte leider immer wieder zu großen Katastrophen und furchtbaren Kriegen mit all ihren Brutalitäten und Unmenschlichkeiten, die wir gerade in Deutschland erleben mussten.