Freitag, 18. Dezember 2015

Der klare Spiegel braucht auch keinen Ständer


Der große Zen-Meister Daikan Enō (Hui Neng) wird im Buddhismus auch wegen eines Gedichts verehrt, das er verfasste, um seine tiefe Erfahrung zur Frage des ewigen Spiegels in Worte zu fassen. Er erhielt daraufhin die Dharma-Übertragung und wurde Nachfolger des fünften Vorfahren im Dharma, obgleich er nur Arbeiter (!) im Kloster und nicht als Mönch ordiniert gewesen war.[i] Dōgen zitiert Daikan Enōs berühmtes Gedicht an dieser Stelle:

„Im Bodhi-Zustand gibt es ursprünglich keinen Baum.
Der klare Spiegel braucht auch keinen Ständer.
Ursprünglich haben wir kein einziges Ding.
Wo können Staub und Schmutz existieren?“

Diese Zeilen sind von großer einfacher Kraft, aber wurden oft missverstanden von selbstgerechten Schülern. Widerspricht die Aussage nicht der herkömmlichen Lehre, dass wir uns selbst wie einen Spiegel immer reinigen und polieren sollten, um die Erleuchtung zu erlangen? Gibt es nicht viele Übungen, die authentisch auf Gautama Buddha zurückgehen, um den eigenen Geist zu reinigen?

Der japanische Name Daikan bedeutet „Großer Spiegel“ und soll auf die umfassende buddhistische Weisheit und den klaren Geist dieses Meisters hinweisen, der zu den herausragenden Persönlichkeiten des Zen-Buddhismus gehört. Er hatte zwar keine Ausbildung im Sinne von Schulwissen und Universitätsgelehrsamkeit, verfügte aber über die große intuitive Kraft und Klarheit des Buddha-Dharma.

In dem Gedicht wird deutlich, dass der klare Spiegel über die materielle Sicht der Dinge hinausgeht und dass auch die Vorstellung von Gautama Buddha, der unter dem Bodhi-Baum Erleuchtung gefunden hatte, nicht die jetzige Wirklichkeit ist, sondern eine Überlieferung, ja ein metaphysischer Glaube. Aber so kommen wir nicht weiter. Diese lenkt eher vom intuitiven klaren Geist des Hier und Jetzt ab. Erlerntes und angehäuftes Wissen ist nicht der klare intuitive Geist. Staub und Schmutz sind Bewertungen, die vom Menschen hinzugefügt werden und die das großartige Universum, so wie es ist, nicht wirklich beschreiben, sondern eher verzerren. Sie sind unklare psychisch gesteuerte Sichtweisen. Gleichwohl werden diese Verschmutzungen in der buddhistischen Lehre häufig zu sehr betont und dienen manchmal sogar der Abwertung anderer: „Du bist unklar und nicht rein!“

Meister Dōgen schätzte dieses Gedicht außerordentlich, und er bezeichnet es als Herz-Geist des Zen und ich folge ihm. Aber er warnt uns auch davor, die Aufgabe und Praxis des „Polierens“ und Reinigens des eigenen Geist-Spiegels leichtfertig abzulehnen und herabzusetzen, denn in diesem Reinigen offenbare sich der Wille zur Wahrheit.


Allerdings darf die Idee und Vorstellung eines Spiegels als Symbol für den intuitiven Geist nicht dazu führen, dass man sich in Abstraktionen, Bildern und Idealisierungen verliert. Der Zen-Buddhismus weist nämlich ganz klar darauf hin, dass man zum wirklichen Hier und Jetzt gelangen muss und nichts hinzufantasiert und weggelassen werden darf. Am gefährlichsten sind für uns Ideologien und Dogmen.

Deshalb sind zum Beispiel Fragen danach, wo denn der Glanz eines Spiegels bleibt, wenn das Metall in eine Figur umgegossen wird, nur theoretischer, abstrakter Natur und führen für unsere eigene Klarheit meist nicht weiter. Im Gegenteil: Der Geist verirrt sich auf der Suche nach einer logischen Erklärung immer mehr und wird dabei kleinlich und unsicher. Dann überwiegt der gewöhnliche unterscheidende Verstand, der zergliedert, bewertet, kritisiert, immer stärker zweifelt und anderen Menschen sogar Übles wünscht.

Über den Spiegel wird im Buddha-Dharma häufig gesagt, dass sich in ihm alles genau so spiegelt, wie es wirklich ist. Dies wird am Beispiel eines Fremden oder eines Chinesen erläutert, die sich jeweils genau als Fremder oder Chinese spiegeln. Dabei unterscheidet man zwischen der äußeren, materiellen Form eines Menschen, die sich als bloße Erscheinung widerspiegelt, und dem wahren, umfassenden Menschen, denn nur dieser entspricht dem ewigen Spiegel, also dem intuitiven klaren Geist in seiner ganzen Wirklichkeit und Unfassbarkeit.

Vorher und Nachher – also die lineare Zeit – haben beim ewigen Spiegel keine Bedeutung, denn das wirkliche Erleben und die Wahrheit der Sein-Zeit gibt es nur im gegenwärtigen Augenblick. Dieser wird vom Spiegel ganz genau reflektiert.
Wer das direkt und unmissverständlich erlebt, hat ein Erleuchtungserlebnis, so wie es ist.




[i] vgl. Kap. 12, ZEN Schatzkammer, Bd. 1, S. 120 ff: „Das Verdienst des buddhistischen Kesa-Gewandes (Kesa kudoku)

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Der ewige Spiegel: intuitiver, klarer Weisheitsgeist (Kokyō)


In diesem tiefgründigen und poetischen Kapitel[i] erläutert Dōgen anhand berühmter Kōan-Geschichten und Gleichnisse des Zen-Buddhismus einen ganz wesentlichen Bereich der buddhistischen Lehre, nämlich den intuitiven, klaren Weisheits-Geist.

Schon in alten Zeiten und lange, bevor sich der Buddhismus in Süd- und Ostasien verbreitete, schrieb man dort den Spiegeln ganz besondere Eigenschaften zu, sie dienten als wichtige Gleichnisse. Spiegel sind Symbole für die intuitive, umfassende Weisheit und den klaren Geist der Menschen, aber auch aller anderen Lebewesen. Das ist für den Westen verblüffend: Haben also zum Beispiel auch Tiere diesen Weisheitsgeist?

Mit der griechischen Tradition ist es geradezu das Privileg des Menschen, dass er im Gegensatz zu den Tieren ein geistiges Wesen ist, und darauf gründet er seine Überlegenheit. Ob Sklaven auch den griechischen und römischen Freiheitsgeist und eine Seele hatten, war damals ein umstrittenes Diskussionsthema der Intellektuelle; die meisten lehnten eine solche Idee rundweg ab. Der intuitive Geist, den Dōgen meint, überschreitet aber bei Weitem den denkenden Verstand und die unterscheidende Intelligenz, die im Westen so sehr geschätzt werden.

Die Spiegel wurden zur Zeit Dōgens in China und Japan in einem aufwändigen und langwierigen Arbeitsprozess hergestellt: Zunächst goss man eine dünne Platte aus Messing oder Bronze, die dann in zahllosen, immer feiner werdenden Arbeitsgängen geschliffen und spiegelblank poliert werden musste, bis alle Unebenheiten verschwunden waren und man die sich darin spiegelnden Dinge klar sehen konnte. Den Spiegeln wurde oft magische Kraft zugeschrieben.

So nahm man zum Beispiel an, dass in einem Spiegel die Vergangenheit, Gegenwart und sogar die Zukunft klar erkennbar seien, sodass der Kaiser mithilfe des Spiegels sein Land mit großer Weisheit und Umsicht in die Zukunft führen könne. Er könne damit auch Lügner und gefährliche Aufrührer erkennen und somit sich und den Staat schützen. Im Zen-Buddhismus hat das keine Bedeutung, denn dort liegt der Schwerpunkt auf der intuitiven Klarheit des Augenblicks; dort ist der Spiegel ein ganz wichtiges Symbol für einen klaren, offenen Geist.

Dōgen erzählt vom frühen buddhistischen indischen Meister Geyāshata, von dem berichtet wurde, dass er seit seiner Geburt einen Spiegel mit sich führte, der ihn bei allen Handlungen und Bewegungen während des Tages und der Nacht begleitete. Dies war ein Symbol für die große intuitive Weisheit, die Geyāshata bereits als Kind besessen haben soll. Haben wir nicht alle einen solchen Weisheits-Spiegel seit der Geburt mit uns?

Anhand dieses Gleichnisses erklärt uns Dōgen, dass der Geist dieser intuitiven Weisheit des Spiegels kein oberflächlich angelerntes Wissen und auch keine intellektuelle Kombinationsfähigkeit ist, denn Kinder hätten diese mentalen Fähigkeiten noch nicht. Wer Kinder genau beobachtet, ist immer wieder erstaunt, wie verständig und offen sie für alles Neue sind, und stellt fest, dass die Überheblichkeit mancher Erwachsener ihnen gegenüber völlig unangebracht ist. Shunryu Suzukis berühmtes Buch hat nicht zufällig den Titel Zen-Geist, Anfänger-Geist.[ii] Kinder besitzen oft eine intuitive Klarheit, über die wir nur staunen können.

Durch den Spiegel konnte der indische Meister Geyāshata nach der Legende bereits als Kind die Gegenwart und die Vergangenheit klar und transparent erkennen. Wie es in dieser Geschichte heißt, zeigte sich im Spiegel alles ohne jede Verzerrung, also ohne dass etwas weggelassen oder hinzugesetzt wurde. Der reine Geist sei wie ein klarer Spiegel.

Eine solche intuitive, klare Sicht ist genau die Weisheit, die auch im Zen-Buddhismus hoch geschätzt wird und die es ermöglicht, die ganze umfassende Wirklichkeit so zu erkennen, wie sie ist. Sie wird nicht durch Fantasien, Hoffnungen, Theorien usw. verstellt, verkleinert oder vergrößert. Dieser große, runde Spiegel der Buddhas weist laut Dōgen keinen trüben Fleck auf. Durch ihn können zwei Menschen im Buddha-Dharma dasselbe sehen. Sie haben denselben Geist, und ihre Augen sind vollkommen gleich.

 Der Spiegel wird so zum Symbol der echten Wahrheit, die jenseits von angehäuftem Wissen, kalter Intelligenz und Logik sowie auch von Begriffen wie Substanz, âtman, Ich-Kern oder Form ist. Der ewige Spiegel wird im Gleichnis treffend als die überragende Eigenschaft der Buddhas bezeichnet; das ist der erwachte, klare Geist. Dabei sollten wir uns erinnern, dass im Buddhismus das Denken und die schöpferische Kreativität keineswegs gering geschätzt oder gar abgelehnt werden, ganz im Gegenteil. Aber man muss sich immer bewusst sein, dass man damit nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen kann.





[i] Shobogenzo, deutsche Fassung, Bd. 1, S. 270 ff.; englische Fassung, Bd. 1, S. 239 ff.
[ii] Suzuki, Shunryu: Zen-Geist, Anfänger-Geist

Donnerstag, 26. November 2015

Das Es jenseits des bewegten Windes


Dōgen schildert eine wichtige Kōan-Geschichte des ES, die allerdings häufig Anlass zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen gegeben habe. Er berichtet, dass Meister Daikan Enō (Hui Neng) hinzukam, als sich zwei Mönche ein heftiges Wortgefecht lieferten.

Die beiden stammten aus Indien, also aus dem Land, von dem der Buddhismus nach China gekommen war und das dort ein hohes Ansehen genoss. Man könnte demnach meinen, dass diese Mönche in der Lehre und Praxis des Buddhismus besonders klar und erfahren gewesen waren.

Der eine behauptete:
„Die Flagge bewegt sich!“

Der andere widersprach vehement:
„Der Wind bewegt sich!“

So ging die erhitzte Diskussion hin und her. Wer hatte recht? Daikan Enō war zu jener Zeit einfacher Laienarbeiter, also von tiefem Rang im Klostern, er besaß, aber ohne Zweifel bereits die große Klarheit im Buddha-Dharma. Er sagte:

„Jenseits des sich bewegenden Windes und der sich bewegenden Flagge ist das ES. Ihr selbst seid (nur) der sich bewegende Geist.“

Was bedeutet nun dieses berühmte Kōan? Ist es nicht richtig, dass Wind und Flagge sich bewegen? Haben vielleicht beide recht? Aber wozu dann der heftige Streit?

Häufig wird dieses Kōan viel zu eng verstanden, dass Daikan Enō nämlich die Mönche berichtigte, weil sie ein nur materielles Verständnis der Situation von Wind und Flagge hatten aber beide einen unruhigen, streitsüchtigen subjektiven Geist besaßen. Laut Dōgen trifft dies jedoch nicht zu. Er betont, dass Daikan Enō sagte,

„dass der Wind, die Fahne und das Bewegen alles der Geist (des umfassende ES) ist.“

Er unterschied also nicht vordergründig nach Ursache und Wirkung, nach Subjekt und Objekt, nach diskutierenden Mönchen und deren streitendem subjektiven Geist, sondern sprach von der umfassenden Wahrheit, die Dōgen hier als das Es bezeichnet. Die große Einheit von Menschen, Wind, Fahne, Flaggenmast usw. übersteigt eine spitzfindige Diskussion auf der physikalisch-materiellen aber auch auf der subjektiven Ebene, ob sich der Wind oder die Fahne bewegt.

Streitende Menschen verlieren sich im Streit der Egos. Das ES ist die Einheit der großen wunderbaren Wirklichkeit; das Es ist beruhigt wie Buddha im sutta des Mittleren Weges sagt.

Dōgen zitiert weiterhin den berühmten Dialog zwischen dem großen Meister Sekito Kisen und Yakusan Igen. Letzterer kannte sich mit der Lehre und Praxis des Buddhismus sehr gut aus und fragte Sekito Kisen, was es bedeute, dass das direkte Zeigen auf den menschlichen Geist die Verwirklichung der Natur und des Buddha-Werdens ist. Dies habe er noch nicht klären können. Der große Meister Sekito antwortete scheinbar paradox:

"Wie jenes ES zu sein, ist unmöglich. Aber wie jenes ES nicht zu sein, ist (ebenfalls) unmöglich."

Auch beides zusammen sei nicht möglich. Dieses Kōan ist nicht leicht zu verstehen, was bedeutet es?

Dōgen erläutert, dass mit der begrenzten Möglichkeit von Worten und der Logik das ES, das uns je als Wahrheit begegnet, unmöglich ausgedrückt werden kann. Das ist mit der Formulierung gemeint, direkt auf den Geist und das Herz des Menschen zu zeigen. Die Wirklichkeit dieses Geistes ist eine andere Ebene und eine andere Lebensdimension als Denken und Reden. Solche Grenzen des Denkens und Redens sollten wir in aller Klarheit anerkennen, um der Wirklichkeit des ES und des Geistes zu begegnen, sie zu erfahren und mit ihr eins zu werden.

„Das ES (vollständig) zu verstehen, ist unmöglich. Das ES (vollständig) zu erkennen, ist unmöglich“,

hält Dōgen abschließend fest. Und Geist und ES sind klare Wirklichkeit. Aber ohne das Reden diesseits des ES geht es oft nicht, gerade durch diese Grenze können wir eine Ahnung vom ES bekommen.


Montag, 16. November 2015

Ist es der Klang des Windes?




Dōgen erzählt eine im Buddhismus berühmte Geschichte von dem indischen Meister Samghanandi und seinem Dharma-Nachfolger Geyāshata. Der Meister hörte die Glocken in einer Halle des Klosters läuten, weil der Wind hindurchwehte. Er fragte seinen Schüler:

„Ist es der Klang des Windes? Ist es der Klang der Glocken?“
Geyāshata antwortete:
„ES ist jenseits des Läutens des Windes und jenseits des Läutens der Glocken. ES ist das Läuten meines Geistes.“

Der große Meister Samghanandi fragte:
„Was ist dann der Geist?“
Und der Schüler erwiderte:
„Der Grund (dass ES läutet) liegt darin, dass alles ruhig ist.“

Der Meister war sehr zufrieden über die klaren Aussagen seines Schülers, der später auch sein rechtmäßiger Nachfolger wurde.

Dōgen untersucht nun diese Geschichte und legt dabei den Schwerpunkt auf die Frage: Warum ist es mein Geist, der läutet? Seine Antwort lautet:

"Mein läutender Geist ist das ES“,

das uns jäh begegnet und unfassbar ist. Es ist dabei die Frage, um wessen Geist es sich eigentlich handelt. Ist es der subjektive Geist des Schülers? Wie kann man den Widerspruch erklären, dass das Läuten gerade nicht geräuschlos ist, es aber heißt, das Läuten des Geistes des Schülers sei ganz ruhig.

Mit diesem Geist sei das unfassbare ES gemeint, erläutert Dōgen, also die Wahrheit oder die Wirklichkeit. In dem Augenblick, in dem die Glocken durch die Einwirkung des Windes läuten, öffnet sich unvermittelt der Geist zur großen Wahrheit, die ruhig ist wie der Geist selbst, der nicht mehr individuell zu verstehen ist. Dann kann man zwischen dem Wind, den Glocken und dem Geist nicht mehr unterscheiden, denn die gesamte unmittelbar erlebte Situation überschreitet die Trennung von Subjekt und Objekt, übersteigt also die Dualität.

Es geht dabei nicht um philosophische Fragen der Existenz oder der Nicht-Existenz des Geistes, sondern beim Läuten der Glocken ereignet sich die Verwirklichung dieser beiden großen Meister jäh im Augenblick. Die Ruhe kann dabei nicht physikalisch verstanden werde, denn das Läuten ist ja deutlich zu hören. Wenn sich der wahre Geist nicht ereignet hätte, bliebe es bei einer „objektiven“ Beschreibung des physikalischen Zustandes mithilfe der Schallwellen oder beim subjektiven Empfinden der beiden Zuhörenden. Dies wäre nach Dōgen aber nur ein oberflächliches Erlernen der Wahrheit und nicht die Klarheit des Buddhismus.

Der höchste Zustand der Bodhi-Wahrheit und der Schatz des wahren Dharma-Auges werden als Ruhe und Stille bezeichnet. Sie sind die Ausgeglichenheit und Balance bei der Zazen-Praxis, in welcher der gewöhnliche denkende Geist und der gewöhnliche empfindende Körper abfallen. Der läutende Geist ist also der Zustand im Zazen, er ist vom denkenden Verstand nicht vollständig erfassbar und mit Worten nur begrenzt sagbar.

Ein solcher Zustand ist ganz selbstverständlich und natürlich.


Mittwoch, 4. November 2015

Das Es ist der klare Zen-Geist


Den Augenblick, wenn sich zwei Menschen jäh und wirklich begegnen, vergleicht Dōgen damit, dass der Frühling die Frühlingszeit des Augenblicks trifft und dass sich eine solche Weisheit ohne großartige Planung und ohne egoistische Absicht unmittelbar ereignet. Denken und Bewusstsein spielen dabei eine untergeordnete Rolle, und es ist unwichtig, ob ein solcher Vorgang im Augenblick bewusst ist oder nicht.

„Das ES ereignet sich, weil der Körper-und-Geist (der Menschen), die solche Weisheit haben, schon nicht ihr eigener ist. Dies ist der Zustand, von dem es heißt, der Mensch könne  vertrauen und sofort verstehen.“

Bei unseren oft nutzlosen und planlosen Anstrengungen des Lebens wissen wir nicht, dass wir diese Perle der Weisheit und des klaren Zen-Geistes, der den Körper einschließt, besitzen. Dōgen spricht davon, dass dieser Körper-und-Geist einem Juwel gleicht, der von einem ganz gewöhnlichen Stein umschlossen ist.
Und weder der äußere Stein noch der innere Juwel wissen voneinander, denn der Juwel ist noch nicht zur klaren Wirklichkeit geworden. Eine solche Verwirklichung bedarf jedoch nicht des angehäuften Wissens und nicht der intellektuellen Schärfe des Verstandes.

Es gibt die Worte: "Jene (Menschen), die ohne Weisheit sind und (immer) zweifeln, verlieren (die Weisheit des Geistes) für immer.“

Nishijima und Cross erklären an dieser Stelle unmissverständlich:

„Verwirklichung im Zazen ist zum Beispiel die innewohnende Funktion des Menschen, die den erlernten mentalen Fähigkeiten wie Erwartung, Wissen und Denken überlegen ist.“[i]

Solche Augenblicke des Zen-Geistes sind von unmittelbarer Kraft und Klarheit. Dōgen vergleicht sie mit der Existenz der Pinien im Frühling und den Chrysanthemen im Herbst. Diese Augenblicke sind keine Idealisierungen, Fantasiegebilde oder spektakuläre Visualisierungen. Sie sind von direkter Energie und Kraft wie der Schuss, der sich vom Bogen wie von selbst löst und nicht den geringsten Raum für Zweifel oder intellektuelle Spitzfindigkeiten lässt.

„Weil (Daikan Enō) ein Mensch des Es ist, ist er erleuchtet.“

Dōgen schildert die berühmte Begegnung von Daikan Enō (Hui Neng) mit dessen eigenen Meister, die deshalb etwas ganz Besonderes ist, weil Daikan Enō nicht als angesehener Mönch im Kloster lernte und praktizierte. Dazu fehlten ihm die formalen Voraussetzungen, deshalb lebte er nur als einfacher Arbeiter im hinteren Teil des Klosters und hatte die Aufgabe, Reis für die Anderen zu stampfen und zu sieben.

Eines Tages kam sein Meister Daiman um Mitternacht heimlich, ohne dass es die anderen Mitglieder des Klosters bemerkten, in den Raum, wo Daikan Enō arbeitete, und fragte ihn, ob der Reis schon weiß sei oder nicht. Daikan Enō antwortete:

 „Er ist weiß, aber noch nicht gesiebt.“

Das war der große Augenblick des gemeinsamen ES! Erstaunlicherweise ergriff sein Meister Daiman daraufhin selbst den Reisstößel und stampfte einmal in den Mörser; Daikan Enō siebte dann den Reis mit dem geflochtenen Korb: Nicht zwei sondern einer.

Laut der Überlieferung war dies der Augenblick, als der Zustand der Wahrheit des Zen-Geistes zwischen dem Meister und dem Schüler zur Einheit kam. Es war ihnen selbst wohl nicht bewusst, und es übersteigt das Verstehen anderer. Aber die Übertragung des Dharma und die Übertragung der buddhistischen Robe fanden genau in diesem Augenblick der Wirklichkeit statt. Und damit nahm das "goldenen Zeitalter" des Zen-Buddhismus seinen Lauf.






[i] Shobogenzo, englische Fassung, Bd. 2, S. 124, Fußnote 29