Freitag, 16. April 2010

Die Wirklichkeit selbst


Im Mittelpunkt steht das Dôgen-Zitats, das vom Erwachen handelt:

„Und obgleich es wie dies ist, geschieht es nur, dass Blüten fallen, während sie geliebt (werden) und Unkräuter gedeihen, während sie verabscheut (werden).“

Was will Dôgen damit sagen? Steht diese Aussage nicht im Widerspruch zu einem anderen Satz, der den höchsten Zustand der Wahrheit des Buddha-Dharma beschreibt – die Wirklichkeit selbst – und davon spricht, dass die Probleme des Lebens und der Kummer durch das Erwachen überwunden werden?

In diesem Zitat geht Dôgen symbolisch und poetisch auf die vielfältige Wirklichkeit in der Welt und die menschlichen Gefühle für Blumen und Unkräuter ein. Alle Blüten verblühen einmal und fallen dann herab. Umgekehrt wächst und gedeiht das Unkraut, das wir verabscheuen oder sogar hassen und das uns schadet, weil es Blumen und unsere Nahrungsmittel beeinträchtigt oder sogar vernichtet, was zu Hungersnöten führen kann. Und es gab viel Hunger und Unterernährung im alten Japan, sodass Nahrungsmittel einen sehr hohen Wert hatten.

Mit seinen Worten ermuntert uns Dôgen jedoch, dass wir uns mit der Wirklichkeit der Welt, so wie sie ist, abfinden sollen und können. Die Wirklichkeit ist kein Paradies, das wir uns vielleicht wünschen und intensiv herbeizusehnen. Es hat überhaupt keinen Sinn, die Welt durch eine ´rosarote Brille´ zu sehen, denn der Rückschlag in Form von Enttäuschungen und Depressionen wird uns mit Sicherheit treffen. Es bringt auch nichts die Probleme des Lebens und der Welt ´unter den Teppich zu kehren´ oder eine Mauer des Schweigens zu errichten.

Implizit ist damit vor allem ausgedrückt, dass ein Leben in der Wirklichkeit auch real möglich ist. In der Welt existieren eben nicht nur wunderbare Blumen, sondern auch bedrohliche Schädlinge. Aber Abscheu ist eine Emotion und Bewertung, die wir als Menschen subjektiv hinzusetzen, die es eigentlich in der Natur gar nicht gibt. Wir bewerten auf diese Weise die natürlichen Gegebenheiten der Welt oft nach unseren Zwecken, Zielen und Ängsten und entfernen uns damit von der Wirklichkeit. Dadurch verschlimmern wir meist unsere Negativität und unser Leiden und schaffen sogar oft selbst die Leiden, die eigentlich größtenteils überflüssig sind. Freude setzt psychische Energien frei, aber Negativität und notorische Kritiksucht schwächen vor allem uns selbst ganz entscheidend!

Buddhas Wahrheit überschreitet die Bewertungen von Überfluss und Knappheit. Die Wirklichkeit ist unabhängig von solchen Wertungen und den damit verbundenen Emotionen. Wenn wir dies auf dem Buddha-Weg verwirklicht haben, ist das Erwachen oder die Erleuchtung eingetreten.

Ist Buddhas Wahrheit aber außerhalb und ohne Ethik realisierbar? Ist sie eine rein funktionale Lebensoptimierung, die vom sozialen Umfeld unabhängig ist? Bei dieser Frage hilft die Bedeutung des Sanskrit-Begriffes Marga-satya weiter, der auf die umfassende Wirklichkeit einschließlich der Ethik selbst verweist. Nishijima Roshi erläutert dazu:

„Gautama Buddha wurde in seinem Handeln vollständig frei, folgte der Ethik und daher erlangte er das vollkommene Glück in seinem täglichen Leben. Die Gier nach Ruhm und Profit waren für ihn wie Staub zerstoben und es war für ihn das vollständige Glück, die Ethik ohne jede Anstrengung in seinem täglichen Leben wie selbstverständlich einzuhalten.“

Ein solches Glück gebe es jedoch nicht nur für ihn, sondern für alle Menschen. Dôgen hat dieses Thema in mehreren wichtigen Kapiteln eingehend behandelt.