Montag, 19. Dezember 2011

Meine Sein-Zeit ist wahres Leben

Dōgen fährt fort:


„Um den wesentlichen Kern (der Zeit) zu erfassen und ihn zu formulieren: Alles was im ganzen Universum existiert, ist in einer Serie aneinandergereiht und zugleich sind es (jeweils) einzelne Augenblicke der Zeit. Weil (dies) Sein-Zeit ist, ist es meine Sein-Zeit (in der ich wirklich existiere).“


Hier verdeutlicht er, dass alles im Universum aus diesen jeweiligen Augenblicken der Sein-Zeit besteht, die nacheinander da sind, also als Serie unabhängiger Augenblicke verstanden werden können. Sie sind jeweils für sich die Wirklichkeit und Existenz, also das Sein. Nishijima Roshi erläutert dazu:

„Kurz gesagt, die ganze Existenz im ganzen Universum ist in einzelne Augenblicke unterteilt, auch wenn es so erscheint, als ob sie zu einer linearen Einheit verbunden sind. Und weil es Sein-Zeit ist, kann (und muss) ich es meine Sein-Zeit nennen.“


Da das Universum real nicht von mir getrennt ist, bildet es eine Wirklichkeit mit mir, also ist es meine eigene Sein-Zeit. Damit ist eine dualistische Sicht, die nicht wirklich ist und so viel Leiden und Unsicherheit für die Menschen erzeugt, überwunden. In jeder gegenwärtigen Zeit des wahren Seins gibt es diese großartige Wirklichkeit, die nicht von mir getrennt ist.


Die Jetzt-Zeiten des Seins werden hier von Dōgen als eine Folge oder Serie gekennzeichnet, die jeweils in der Wirklichkeit mit mir identisch sind. Wir dürfen allerdings nicht vergessen, dass es sich dabei keineswegs um ein gedachtes theoretisches Modell der Zeit handelt, sondern um die wirkliche Erfahrung, die sich beim Handeln, vor Allem beim Zazen, jeweils in der Gegenwart offenbart.


Eine Theorie – und sei sie noch so anschaulich – ist das eine und die Wirklichkeit ist das andere. Und schlechte Theorien bergen große Gefahren für uns.
Ein Beispiel: Obgleich ich jetzt nur noch die Erinnerung an mein früheres Tun beim Bergsteigen oder Durchqueren des Flusses habe, ist es damals die ganze umfassende Wirklichkeit der Sein-Zeit gewesen. Das dürfen wir nicht außer Acht lassen. Ein solcher Ansatz kann verhindern, dass man aufgrund der jetzigen Stimmungslage vergangenes Handeln umdefiniert, beispielsweise positiv oder negativ bewertet, also Veränderungen, um nicht zu sagen Verzerrungen, in das frühere Geschehen hineindeutet.


Damit würde man nämlich der damaligen Sein-Zeit in der damaligen Wirklichkeit nicht gerecht werden. Ähnlich ist das psychisch bedingte Vergessen zu verstehen, das Freud als Verdrängung bezeichnet und als Erster gründlich untersucht hat.