Dienstag, 8. Mai 2012

Der Augenblick der Gegenwart gibt Ruhe und Kraft


Dōgen schildert, dass die Menschen manchmal nicht an unklaren oder sogar falschen Aussagen zweifeln, während sie den wirklichen und wahren Tatsachen nicht trauen und daran zweifeln. Aber auch ein solches Zweifeln ist wirkliches Handeln im Leben und findet nicht außerhalb der Zeit statt: echtes Zweifeln führt zu einem tiefgehenden wertvollen Lernprozess. Nur etwas Konstantes, Unveränderliches und Ewiges könnte außerhalb dieser Sein-Zeit existieren, aber so etwas gibt es in der Wirklichkeit überhaupt nicht, das Konstante gibt es nur als Täuschung im Gehirn.

Die Wirklichkeit besteht aus Augenblicken und miteinander vernetzten Prozessen. Weil das wirkliche Sein nur genau diese Augenblicke umfasst, sind alle Augenblicke der Sein-Zeit das Ganze der Zeit, und alle existierenden Dinge sowie alle existierenden Phänomene sind Zeit. Etwas anderes gibt es nicht. Durch die Ruhe und Kraft des wahren Augenblicks verlieren wir die Ängste vor Veränderungen!

Dōgen erklärt, dass bei der Zeit die Gegenwart und die Augenblicklichkeit von zentraler Bedeutung sind. Damit sind alle Phänomene, das Erleben, Handeln und die ganze Welt identisch mit der Sein-Zeit.

Die Augenblicke der Sein-Zeit behindern sich nach Dōgen nicht gegenseitig. Störende andauernde Erinnerungen des Geistes oder Ängste über die Zukunft gehören also nicht zu einer solchen Sein-Zeit und sind damit keine Wirklichkeit. Sie sind eine Schein-Wirklichkeit des Gehirns und verschwinden beim Zazen, der ersten Erleuchtung. Zweifellos ist eine solche Lebensweise in der vollen Wirklichkeit der Gegenwart – ein Kern der Buddha-Lehre – nicht einfach zu realisieren, aber von großer positiver Wirkung für unser Leben. Vor allem durch die Zazen-Praxis lernen wir, ganz im Augenblick zu leben und uns dadurch von quälenden Gedanken und Emotionen zu befreien, sie einfach abfallen zu lassen.

Wenn es um die Sein-Zeit geht, kann man nicht sagen, dass die Zeit kommt und geht, auftaucht und verschwindet, denn die wirkliche Zeit ist immer der gegenwärtige Augenblick des Handelns und Seins selbst.

Dōgen weist darauf hin, dass die Zeit meine Sein-Zeit ist. Also sind allgemeine, abstrakte Überlegungen über die Zeit nicht die Sein-Zeit des Buddhismus, die Dōgen beschreibt. Denn die Sein-Zeit ist mein eigenes konkretes Erleben und Handeln, ich bin immer selbst mitten drin.

Die Sein-Zeit kann mit dem üblichen dualistischen Denken nicht vollständig erfasst werden und ist damit für den denkenden Verstand letztlich unfassbar. Warum auch? Sie geht über das gewöhnliche Denken, den Verstand, die Vorstellung und Wissenschaft hinaus und ereignet sich unmittelbar im Handeln und Erleben. Das ist die vollständige Verwirklichung der ganzen Zeit als ganzes Sein, die Erfüllung des Lebens, über das hinaus gibt es nichts anderes. Wenn zur Sein-Zeit etwas hinzugedacht oder mit unnützen Worten hinzugeredet wird, ist dies nur ein überflüssiger Zusatz und nicht die Sein-Zeit selbst.

Das Handeln ist wesentliches Moment der Sein-Zeit, wenn wir an unserem Platz im Dharma im Zustand des kraftvollen Handelns verweilen. Die Sein-Zeit wird also verwirklicht, ohne dass sie durch Begrenzungen und Hindernisse gestoppt wird. Sie kann nicht festgehalten werden und es hat daher keinen Sinn, Vergangenes halten zu wollen und zu beklagen, dass es nicht mehr existiert. Das erzeugt nur Leiden.

Ein Beispiel: Das wirkliche Erleben des Frühlings hat nach Dōgen nichts mit dem gedachten zeitlichen Ablauf des Jahres zu tun. Das Erleben der vollen Lebendigkeit der Natur im Augenblick des Frühlings eröffnet dessen Wirklichkeit unmittelbar für uns und benötigt keine abstrakten Gedanken über den vergangenen Winter und den kommenden Sommer. Solche Gedanken können sogar das wunderbare Ereignis „Frühling“ stören, denn uns überkommt dabei vielleicht Bedauern darüber, dass der schöne Frühling schon bald wieder vorbei ist. Seine abstrakte Beschreibung kann also niemals die Wirklichkeit ersetzen.

Am Schluss rät uns Dōgen eindringlich, uns mit der Wahrheit der Sein-Zeit immer wieder praktisch und theoretisch zu beschäftigen, uns darauf ganz zu fokussieren und dann wieder loszulassen.