Montag, 10. August 2015

Die unfassbare Gesamtheit des Menschen


Dōgen greift das bekannte Kōan-Gespräch auf, in dem Meister Shinzan fragte:

„Wer ist es“, der den Geist und die Natur dort in dem kleinen Tempel darlegt?

Diese Frage zielt nicht auf die Äußerlichkeit eines Meisters oder eines Menschen und auch nicht auf den bürgerlichen oder buddhistischen Namen, den sie haben. Es geht um die unfassbare Gesamtheit eines Menschen, der nicht in abgegrenzte Kategorien und geistige Schubladen gesteckt werden kann. Es ist sicher keine Übertreibung zu sagen, dass der Mensch ein Wunder und Mysterium ist. Auch im wissenschaftlichen Bereich stellt zum Beispiel die moderne Systemtheorie[i] fest, dass Menschen und soziale Gruppen eine unendliche Komplexität besitzen, die wir niemals ganz erforschen können. Ein solches Ansinnen ist aussichtslos und endet meistens in grob vereinfachenden Ideologien und Bewertungen.

Wesentlich ist genau der Augenblick, in dem ein Meister fragt „Wer ist es?“ und in dem der andere Meister eine jähe umfassende Klarheit erfährt. Dies ist nach Dōgen die Darlegung des Geistes und der Natur des Buddha-Dharma.

Im Gegensatz dazu gibt es in der gewöhnlichen Welt viele Verirrungen, Täuschungen und Betrügereien des Geistes. Ein sich geschickt verhaltender Betrüger kann sich zum Beispiel wie ein Kind gebärden, sodass bei anderen kein Misstrauen aufkommt. Umgekehrt werden Kinder vielleicht fälschlich moralisch abgewertet, indem man ihnen böse Absichten und Unehrlichkeit unterstellt. Der isolierte Geist kann vielfältig getäuscht werden.
Im Kōan-Dialog sagt Meister Tozan, dass er unmittelbar im Leben angekommen ist und seine vorherigen Täuschungen und Begrenzungen „gestorben“ sind; er befindet sich also in der unmittelbaren Wirklichkeit von Geist und Natur. In dem Gespräch heißt es wörtlich auch: „Es ist wer?“ Das Es oder Etwas behandelt Dōgen in einem gesonderten Kapitel. Ich möchte für dieses Etwas sogar den Begriff des Göttlichen verwenden, denn es weist über den individuellen Menschen hinaus und ist die Einheit von Mensch, Leben und Universum, eine Einheit des gemeinsames Entstehens in Wechselwirkung, wie Meister Nagarjuna in den Versen des Mittleren Weges sagt.

Der kurze Satz „Es ist wer?“ ist eine andere Bezeichnung für den höchsten Zustand in der buddhistischen Lehre und Praxis. Dabei sei es unwesentlich, inwieweit dies bewusst ist und explizit gedacht wird. In dem Augenblick gibt es bei den Menschen die Einheit von Angesicht-zu-Angesicht und ein intuitives umfassendes Verständnis füreinander. Der andere wird nicht durch eine einseitige Sichtweise eingeengt und kategorisiert.
Dōgen bedauert, dass es wohl nicht viele Menschen gibt, welche die Darlegung von Geist und Essenz der Natur gemeistert haben. Wenn der bisherige Körper und Geist stirbt, so sterbe er ganz, zu einhundert Prozent, und nicht nur teilweise, zu etwa zehn oder 20 Prozent:

„Genau in dem Augenblick, in dem wir gefragt werden (gilt): Wer kann sagen, dass dieser Zustand nicht den ganzen Himmel umfasst und die ganze Erde einbezieht.“

Wesentlich sei, dass wir ganz im Augenblick und in der Situation wirklich sind und leben. Jeder Augenblick verwirklicht sich in der Freiheit und ist damit auch nicht festgelegt von dem, was vorher war. So schreitet die Wirklichkeit und Wahrheit von Geist und Essenz der Natur Augenblick für Augenblick voran und umfasst dabei jeweils die ganze Erde und das ganze Leben.

Die Formulierung „Es ist wer?“ betrifft genau den Zustand, den Geist und die Natur darzulegen und zu lehren. Die einfache Frage nach dem Meister, der in dem kleinen Kloster lehrt, weist damit über die Person hinaus zu einer tiefgründigen Wahrheitsaussage. Dadurch gelangt Meister Tozan in den befreiten Zustand, in dem die ehemaligen Begrenzungen und Hindernisse ganz und gar aufgehoben sind. Gleichzeitig wird klar, dass Worte und Erklärungen auch ihre Grenzen haben und gewissermaßen über sich selbst hinaus weisen müssen, um die große Wirklichkeit und Wahrheit zu treffen. Für den höchsten Zustand im Buddhismus ist nicht zuletzt maßgeblich, dass Sorgen und Ängste verschwunden und damit gestorben sind. Illusionen und Täuschungen genau wie Verdrängungen und Leugnungen sind immer nur eine unzureichende vordergründige Lösung psychischer Probleme. Die daraus entstehenden Ängste können nicht wegdiskutiert werden, sie sind psychische Realität. Man kann sie auch nicht einfach wegwerfen, weil man sie loswerden will – genauso wenig wie die Dualität, die eine wesentliche Ursache der Lebensängste und Leiden ist.

„Die Worte des großen Meisters ‚Der Tod selbst ist lebendig geworden‘ sind die Manifestation der Stimme und Form von jemandem direkt vor uns, der den Geist darlegt und die Natur erklärt“,

sagt Dōgen. Die Lebendigkeit existiert für sich selbst als erwachter Körper-und-Geist. Leben ist nicht die Transformation des Todes. Dies sei die große Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma und sollte auf diese Weise gelehrt werden. Das „alte Leben“ sollte vollständig zu Tode kommen, dann „verwirklichen wir den leuchtenden Zustand, ins Leben zu kommen.“

Am Ende dieses Kapitels fasst Dōgen zusammen, dass die Aussage

„Den Geist darlegen und die Natur (der Essenz) erklären“

häufig falsch interpretiert worden ist. Dies sei seit der Tang-Dynastie in China nicht anders als in Japan, und ich möchte hinzufügen: bis in die Gegenwart. Es geht um die Einheit von Geist, Lehren, Praxis und Erfahrung. Nicht mehr und nicht weniger. Ohne Praxis und Erfahrung sind alle Vorstellungen und Theorien über den Geist wirklichkeitsfremd und spekulativ. Sie führen vom Leben weg in eine abgehobene Welt, die den praktischen Anforderungen des Alltags nicht gewachsen ist. Das ist aber kein Buddhismus.
Dōgens Schlusssatz formuliert prägnant den Kern dieses Kapitels:

„Wenn ich es in Worte fasse: Den Geist darzustellen und die Natur zu erklären, ist die zentrale Essenz der Sieben Buddhas und der alten großen Meister.“






[i] Niklas Luhmann: Systemtheorie