Die Buddha-Natur wird manchmal so
beschrieben, dass der vollkommen Erwachte alle Hüllen der Befleckungen entfernt
hat, wodurch das Leiden beendet wurde: „Wenn er in der höchsten Wirklichkeit
weilt und eine Stufe erreicht, die alle Lebewesen in Licht taucht“, und „wenn
er die ihrer Natur nach von allen Verwirrungen, Zerstörungen freie Macht über
alle Erscheinungen verwirklicht hat.“[i]
Im Tantra-Buddhismus,
der späten Phase des indischen Buddhismus, sind die Lehren und Erfahrungen der
Buddha-Natur bereits fester Bestandteil der Überlieferung und werden nicht weiter
in Zweifel gezogen.
Der tantrische Buddhismus stellte fest:
„Alle Lebewesen seien schon Buddha (nicht nur potentiell oder embryonal)“.[ii]
Und er prägte Begriffe wie Diamant-Wesen und
Diamanten-Träger. Der Diamant ist ein
Symbol für die Unzerstörbarkeit und Klarheit der Buddha-Natur. Dieser um eine
psychologische Dimension erweiterte Tantra-Buddhismus geht davon aus, dass zum
Beispiel „Gier und Hass als reduzierte Bestandteile der Buddha-Natur angesehen
werden, (sie sind der) destruktive Rest
der konstruktiven Tendenzen zur Distanz (die empirisches Leben erst möglich
macht) und zur Wiederherstellung von Ganzheit “notwendig.[iii]
Das ist eine beachtliche
Weiterentwicklung, die sicher mit den ursprünglichen Aussagen Gautama Buddhas im
Einklang ist. Ich möchte dazu einige Überlegungen anfügen: Auch Nishijima Roshi
fragt, ob die Gier allein die Ursache für das Leiden der Menschen ist, da beispielsweise
die Notwendigkeit zu essen oder zu trinken das Leben überhaupt erst ermöglicht.
Eine solche abgeschwächte „Gier“ sei ganz natürlich. Gier kann man als starke
psychische Kraft verstehen, die einem Menschen oder einer Sache möglichst nahe
kommen will, also die Nähe sucht.
Das heißt, dass nur ein Übermaß an Gier und die fehlende
Selbst-Kontrolle ins Unglück, Elend und Leid führen. Das Übermaß ohne Selbst-Kontrolle ist damit
entscheidend für die „Befleckung“ der Buddha-Natur. Das Maß der Mitte und die
Steuerbarkeit sind dann noch nicht erreicht.
Analoge Überlegungen gelten für den
Hass, der auch Ablehnung und Abstand
bedeutet. Damit ist jedoch nicht unbedingt die Zerstörung oder Vernichtung des anderen
impliziert. Es ist in unserem Leben durchaus sinnvoll und notwendig, sich von
bestimmten Dingen fernzuhalten, um Verletzungen und daraus entstehendes Elend zu
verhindern. Denn wer sich nicht abzugrenzen
gelernt hat, ist gemäß psychologischer Forschung psychisch krank und
außerordentlich gefährdet.
Die Fähigkeit, Grenzen zu ziehen, ist nach meiner festen Überzeugung durchaus im
Einklang mit der Vorstellung eines offenen Systems der Tiefenökologie[iv]
und nicht identisch mit einer hermetischen Ich-Grenze, also einem egozentrierten,
isolierten Geist, der schwere psychische Schäden zur Folge hat. Auch und gerade
ein Buddhist sollte die Kraft haben, Grenzen zu ziehen. Denn gute Grenzen sind
auch immer Verbindungen und können wahre Verbindungen werden, oder wie der
französische Philosoph Derrida sagt differance.
Das Haben-Wollen und die Fähigkeit,
Abstand zu halten, sind also für die Gestaltung unseres praktischen Lebens in
bestimmten Situationen unerlässlich. Und sie stehen keineswegs im Gegensatz zur
authentischen Lehre Gautama Buddhas.
Zweifellos ist die Lehre von der
Buddha-Natur von zentraler Bedeutung für den indischen Buddhismus, der häufig
wunderbare poetische Formulierungen dafür findet. Aber auch Dôgen soll
unbedingt gehört werden, der aus meiner Sicht weitere existenzielle Dimensionen
des Zen von großer Intensität und Klarheit hinzufügt, die gerade für den
Buddhismus der Gegenwart höchst aktuell sind.