Dienstag, 11. Oktober 2016

Die Buddha-Natur selbst erfahren und praktizieren


Dôgen erläutert, dass zum umfassenden Wissen und Erkennen der Buddha-Natur mehr als nur der Verstand und das logische Denken notwendig sind. Wir sollten die Buddha-Natur vielmehr praktizieren, sie erfahren, lehren und wieder aus unserem Gedächtnis verschwinden lassen. Hierzu zitiert er Gautama Buddha:

„Wenn wir die Bedeutung der Buddha-Natur (umfassend) kennen wollen,
sollten wir die wirkliche Zeit, die Ursachen und Umstände genau bedenken.
Wenn die Zeit gekommen ist,
manifestiert sich die Buddha-Natur vor uns.“
[i]

Gerade das praktische Handeln hebt Dôgen in diesem Kapitel in besonderer und – wie ich meine – einzigartiger Weise hervor. Es geht dabei nicht zuletzt um den Augenblick – also die wirkliche Zeit –, in dem die Realität, das heißt „solches Lehren, Praktizieren, Erfahren, Vergessen, falsch Verstehen, nicht falsch Verstehen“, stattfindet. Damit wird der Bedeutungsumfang der Buddha-Natur auf das ganze menschliche Leben erweitert, und auch Missverständnisse und Fehler werden explizit einbezogen. Die wahre Sein-Zeit zu bedenken, bedeutet im Augenblick zu handeln und die jeweiligen Gegebenheiten des Handelns von Ort und Zeit zu benutzen, die für die Buddha-Natur maßgeblich sind.

Wenn es im oben zitierten Gedicht Buddhas heißt, dass wir die wirkliche Zeit, die Ursachen und Umstände bedenken sollten, geht es gerade nicht um die Trennung von Subjekt und Objekt auf der Denkebene, bei der ein denkendes Subjekt, zum Beispiel ein Mensch, beispielsweise über die Zeit oder ein Objekt nachdenkt. Die von Dôgen angesprochene umfassende Reflexion darf daher nicht mit dualistischem Denken verwechselt werden, sondern sie muss als Tun und Verwirklichen im Augenblick hier und jetzt verstanden werden.

Die wahre Reflexion
„ist die Einheit der wirklichen Zeit und der Ursachen und der Umstände selbst. Sie ist die Transzendenz (der gewöhnlichen Vorstellung) von Ursachen und Umständen. Es ist die Buddha-Natur selbst“,

sagt Dôgen. Eine solche Buddha-Natur hat keine eigenständige Substanz, ist keine eigene Einheit oder Entität und schon gar kein gedachtes Objekt. Sie ist „Buddha als Buddha selbst und ist die natürliche Funktion als natürliche Funktion selbst“. Buddha können wir hier einfach als Wahrheit und Wirklichkeit verstehen und nicht nur als die historische Person Gautama Buddha. Die natürliche Funktion verweist auf natürliches Handeln und ist gerade keine dingliche Einheit wie ein Gegenstand oder auch ein Atom. Gleichzeitig ist damit eine Aufgabe in der Gesellschaft gemeint.

Im Folgenden untersucht Dôgen detailliert die dritte Zeile des Gedichtes – „Wenn die Zeit gekommen ist“ – und arbeitet dabei heraus, dass diese Aussage seit alten Zeiten häufig falsch verstanden wurde. Keinesfalls ist damit gemeint, dass wir auf etwas warten, was sich in Zukunft ereignen wird und für das wir vielleicht jetzt in der Gegenwart arbeiten. Wir sollen also nicht auf die Buddha-Natur warten und denken, dass sie sich in Zukunft vor uns manifestieren wird.

„Wenn sie mit dieser Haltung ihre Praxis fortsetzen (denken sie fälschlich, dass) sie auf natürliche Weise der Zeit begegnen, wenn die Buddha-Natur vor ihnen manifest ist.“

Solche Menschen gehen laut Dôgen davon aus, dass in der Gegenwart die Zeit der Buddha-Natur noch nicht gekommen ist und dass sie erst in Zukunft zu erwarten ist. Er hält es zwar für möglich, dass sie durchaus aufrichtig nach der Wahrheit streben, aber sie haben eine ungenaue oder falsche Einstellung und eine sehr unklare Vorstellung von der Buddha-Natur.

Ihr Leben mag vielfältig und farbig sein, aber es fehlt die spirituelle Tiefe, die sich immer in der Gegenwart verwirklicht. Solche Menschen mögen auch die Natur genießen und zum Beispiel die Sterne und die Milchstraße bewundern, aber sie kommen über eine naturalistische Lebensphilosophie nicht hinaus.




[i] Mahaparinirvana, Kap. 28