Dienstag, 30. Oktober 2007

Das Gleichnis der Verflechtung für die Dharma-Übertragung

Die japanische Bezeichnung dieses Kapitels (Kap. 46) des Shôbôgenzô heißt Katto („Die Verflechtung“)und bedeutet Pfeilwurzpflanzen und Glyzinien.

Im Inhalt dieses Kapitels beschäftigt sich Meister Dôgen mit der engen Verbindung von Meister und Schüler und erläutert, dass beide unauflösbar miteinander verflochten sind und verwendet als Gleichnis hierfür die Glyzinie, also eine Kletterpflanze. Die Bedeutung der unauflösbaren Verbindung von Meister und Schüler im Buddhadharma übersteigt das Denkvermögen und die Sprache. Sie wird intuitiv ganzheitlich erlebt und ist nicht nur eine Verschmelzung der beiden Menschen, sondern gleichzeitig die Einheit mit und in dem Universum. Für all dies verwendet Meister Dôgen das Gleichnis der Glyzinie und der Pfeilwurzpflanze. Dies kann in der Tat verwundern und bedarf einer genaueren Untersuchung. Was meint Meister Dôgen mit diesem Gleichnis?

Ich habe hierzu ein längeres Gespräch mit Nishijima Roshi geführt, um sicher zu sein, mit meiner Deutung dieses Kapitels "die Verflechtung" richtig zu liegen. Er sieht dieses Kapitel es als Gleichnis der intuitiven Wahrheit des Buddhismus an und bestätigt, dass damit auch die ungewöhnlich schönen meist blauen Blütendolden der Glyzinie gemeint sind. Meister Dôgen habe die Natur, das Leben und die Welt sehr geliebt und immer wieder tiefe Freude an der Schönheit der Blüten und Blumen gehabt. Dies kommt ja auch in dem Kapitel über die Pflaumenzweige, über die Lotus-Blume und hier über das Gleichnis der Glyzinie zum Ausdruck. Schauen wir uns das Gewächs einer Glyzinie einmal genauer an: Kurz über der Erdoberfläche teilt sich der aus einer Wurzel kommende verholzte Stamm in mehrere, ebenfalls verholzte Triebe, die sich um einander winden und aufwärts wachsen. Eine Glyzinie braucht vor allem im oberen Teil Halt und wächst gern auf anderen Bäumen, an Häusern und an von Menschen errichteten Stützen, wie zum Beispiel einer Pergola oder einer Laube. Im späten Frühjahr entwickeln sich die wunderbaren Blütendolden in blauer oder weißer Farbe, sodass sie auch „Blauregen“ genannt werden. Das Typische ist also eine gemeinsame Wurzel, dann die Aufteilung in mehrere gewundene und umeinander gewundene Äste, die sich nach oben immer mehr verzweigen, oft ein üppiges Blätterwerk bilden und vor allem die meist blauen üppigen Dolden der Blüten hervorbringen.

Wir finden also die Merkmale der eng umschlungenen Verbindung der verschiedenen Äste und hier setzt auch das Gleichnis bei Meister Dôgen an. Diese enge Verbindung sieht er als Gleichnis für das Verhältnis von Meister und Schüler, der dann später selbst mit der Dharma-Übertragung zum Meister und Lehrer wird. Aber auch die Schönheit der Blüten ist wesentliches Merkmal der buddhistischen Lehre und Lebensphilosophie, und diese Schönheit offenbart sich uns im Gleichgewicht. Sie kann sich weder im materialistischen Weltbild des Strebes nach Profit, noch im idealistischen Weltbild von Ideen und Vorstellungen des Denkens entwickeln. Schaut man das ganze Gewächs einer Glyzinie an, so ist es auch ein verwirrender Anblick die vielen umeinander gewundenen einzelnen Ästen festzustellen. Hier setzt das Gleichnis Dôgens an, dass auch die Wirklichkeit der Welt verflochten und verwoben ist und sich mit der Wahrnehmung und dem Denken niemals vollständig entwirren lässt. Nur eine gesamtheitliche Intuition im Sinne der buddhistischen Lehre kann diese verflochtene Vielfalt und Schönheit also erfahren.
Im alten Japan wurde der Begriff „Katto“ oder die Verflechtungen allerdings meist in einem eher negativen und verengten Sinne benutzt, nämlich für die unentwirrbare Komplexität des intellektuellen Denkens, die überwunden werden müsste. Sie hatte damit überwiegend eine negativ und stark bewertende Bedeutung. Meister Dôgen setzt sich ausdrücklich von dieser Negativität ab und erweitert die Symbolik der Glyzinie in wirklich poetischer Weise.

Dôgen erinnert am Anfang dieses Kapitels an die Dharma-Weitergabe von Gautama Buddha auf Mahakashyapa und die folgende authentische Weitergabe über die ganze Linie der Meister bis zu seinem eigenen Lehrer Tendo Nyojo. Auf diese Weise sei die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges ohne Unterbrechung weiter gegeben worden, und zwar in der engen Verbindung und Verflechtung jeweils von Lehrer und Schüler. Von Bodhidharma wurde die Kette der Meister dann in China durch die Dharma-Übertragung auf seinen Nachfolger Taiso Eka weiter gegeben. Bodhidharma wird dabei der erste Vorfahre im Dharma in China genannt. Die Wahrheit wird also von Angesicht zu Angesicht in einer mystischen aber wirklichen Gemeinsamkeit auf den Schüler übertragen.
Meister Dôgen schreibt hierzu:

"Selbst wenn heilige Wesen sich alle danach sehnen, die Wurzel der Verflechtung zu durchschneiden, erlernen und erforschen sie nicht, dass dieses Durchschneiden bedeutet, die Verflechtung mit der Verflechtung selbst zu durchschneiden."

Was will er damit sagen? Häufig wird im Zen-Buddhismus davon gesprochen, dass die Verflechtungen oder Wurzeln der Täuschungen durchschnitten werden müssen, damit die Menschen zur Freiheit und zum Glück gelangen können. Dôgen verwendet aber in diesem Zitat die zweite mögliche Bedeutung der Verflechtung, nämlich die Übertragung des Buddha-Dharma und der Wahrheit von einem Menschen zum anderen und dass genau dadurch die Befreiung erlangt wird. Die könne in der Tat allein mit dem Denken und der Wahrnehmung nicht erfasst werden, sondern ereigne sich nur in einem intuitiven umfassenden Handeln. So wird eine Verstrickung durch die Verflechtung von Meister und Schüler aufgelöst und die Verflechtung bedeutet das große Einheitserlebnis zwischen den beiden Menschen und dem Universum. Dies wird von ihm so formuliert, dass die Verflechtung durch eine andere neue Verflechtung im intuitiven erweiterten Bewusstsein durchschnitten wird.
Dôgen zitiert dann seinen eigenen Meister, den er als ewigen Buddha bezeichnet:

"Ein Kürbis ist durch seine Ranken mit den anderen Kürbissen verbunden".

Hier wird also das Gleichnis einer Kürbispflanze verwendet, die aus ihrer Wurzel verschiedene, weit ausgreifende Stiele und Ranken entwickelt, an denen die einzelnen Kürbisse verteilt wachsen und auf der Erde liegen. Dies ist in der Tat ein wirklich beeindruckendes Bild, wie die verteilten, zunächst getrennt erscheinenden Kürbisse durch die gemeinsame Pflanze miteinander verbunden sind, die jeden Kürbis entstehen lässt und zur Reife bringt. Damit ist gleichnishaft die Verbundenheit der Meister des Buddha-Dharma gemeint, von der Dôgen sagt, dass diese erforscht und erfahren werden muss. Dies sei die

"Übertragung von Geist zu Geist, die jenseits aller Worte ist."

Danach wird die berühmte Begebenheit geschildert, wie der erste Meister in China, Bodhidharma, beim Herannahen seines Todes das große Siegel des Dharma an vier Nachfolger übergeben hat, indem er ihnen jeweils sagte:
"Du hast meine Haut erlangt, du hast mein Fleisch erlangt, du hast meine Knochen erlangt, du hast mein Mark erlangt."

Das Letzte sagte er dem Schüler, den er zu seinem Nachfolger bestimmt hatte und der wortlos drei Niederwerfungen machte. Dôgen wendet sich in der folgenden Erörterung dagegen, dass bei diesen vier Schülern, zu der auch eine Nonne gehörte, eine Abstufung und Bewertung enthalten sei, dass zum Beispiel die Haut eher außen am Körper und das Mark eher im Inneren sei. Derartige materielle Beurteilungen hält er für abwegig und für die Übertragung des Buddha-Dharma für völlig unzureichend. Alle vier Schüler seien mit ihm körperlich und geistig eine Einheit verbunden und genau in einer solchen mystisch zu bezeichnenden Einheit könne die große Wahrheit von Gautama Buddha von einer Generation auf die andere übertragen werden. Jeder Schüler bewahrt dabei sein eigenes tiefes Verständnis und seine eigene umfassende Erfahrung, die sich auch in den Sätzen von Bodhidharma wiederfindet. Hätte Bodhidharma noch mehr Schüler gehabt, hätte er sicher die Dharma-Übertragung jeweils anders zum Ausdruck gebracht, um die Wahrheit zu treffen. Jede Bewertung nach Vortrefflichkeit und Minderwertigkeit ist fehl am Platze, und Dôgen sagt, dass

"der Körper und Geist eines Vorfahren im Dharma so beschaffen ist, dass seine Haut, sein Fleisch, seine Knochen und sein Mark immer ganz er selbst sind."

Es wird dann weiter untersucht, was das "Du" in den Aussagen Bodhidharmas eigentlich bedeutet. Dôgen arbeitet dabei heraus, dass die übliche Trennung von Ich und Du nicht tragfähig sei, weil es hier um die Einheit und eine untrennbare Verflechtung geht. Vor allem im Augenblick der Dharma-Übertragung selbst verschmelzen das Ich und das Du zu einer umfassenden Einheit und genau dies ist der mystische Augenblick, in dem die Wahrheit und das Auge des Dharma übertragen werden. Dabei gibt es eine gemeinsame Erfahrung von Lehrer und Schüler, die zwar das Denken und die Wahrnehmung mit einschließt, aber weit darüber hinaus geht. Die damit verbundene Befreiung umfasst die Menschen und wie im Gleichnis der Glyzinie mit ihren Wurzeln, den Stämmen, Ästen, Blättern und Blüten.

Am Ende dieses Kapitels wird der große Meister Joshu zitiert, der zwei Mönche fragte, was die Dharmaübertragung, zum Beispiel in Indien und China, bedeuten würde. Er lehnt dabei auch eine Unterscheidung ab, dass die Haut weniger wert sei als das Mark, da sie mehr äußerlich und das Mark mehr innerlich sei. Die Haut bedeutet genauso das Ganze der Dharma-Übertragung wie das Mark, und wer die Wahrheit der Aussage "Du hast meine Haut erlangt" nicht versteht, der kann auch die Aussage „Du hast mein Mark erlangt“nicht erfassen.
Im Augenblick der Dharma-Übertragung legt Dôgen dann ein besonderes Gewicht auf das Handeln im Hier und Jetzt, das ja auch durch die drei Niederwerfungen des Nachfolgers von Bodhidharma besonders betont wird.
Bei der Dharma-Übertragung betont Nishijima Roshi, dass der gesamte Buddhismus durch das Genie von Gautama Buddha in diese Welt gebracht wurde und dass auch die großen Meister wie Nagarjuna, Bodhidharma und Dôgen ohne diese einmalige Lehre nicht so hätten wirken können, wie sie es getan haben. In der Tat muss man dem Genie von Gautama Buddha im 6. Jahrhundert vor Christus in Indien die größte Hochachtung entgegen bringen, und seine tiefgründige und zugleich praktische Lehre ist umso erstaunlicher, weil er selbst keinen Lehrer und Meister hatte, sondern diese Wahrheit aus sich selbst gefunden hatte.

Dabei war sicher neben der geistigen Schulung durch die Philosophen der damaligen Zeit und die Grenzerfahrung über die Sinnlosigkeit der körperlichen Askese maßgebend, dass er auf die großartigen Übungen des Yoga, also des Lotus-Sitzes, zurückgreifen konnte, die in jener Zeit in Indien weit verbreitet war. Wie wir heute wissen, liegen die Wurzeln des Yoga in Indien weit zurück vor der Zeit der Einwanderung durch die indo-europäischen Stämme, denn bei ihnen gibt es nicht die geringsten Anzeichen für derartige Yoga-Übungen. Noch heute sind der ganze und der halbe Lotussitz äußerst wichtige Übungen des Yoga und wir wissen, dass Gautama Buddha seinen Schülern immer wieder empfohlen hat, mit gekreuzten Beinen und geradem Rücken zu praktizieren. Zweifellos ist dies die authentische Yoga-Haltung, die in Form des Zazen im ostasiatischen Zen-Buddhismus als unverzichtbar für den Buddha-Dharma angesehen wird.

Freitag, 26. Oktober 2007

Den wahren Budhhismus in der Traum-Wirklichkeit lehren


Dôgen beschreibt in dem Kapitel „Einen Traum in einem Traum lehren“ (Kap. 38, Muchu setsumu), wie die Wahrheit der Buddhas und Vorfahren im Dharma als umfassende Wirklichkeit im Traum gelehrt wird. Ist das nicht ein Widerspruch? Sind nicht Traum und Wirklichkeit gerade Gegensätze, die unvereinbar sind? Der Zen-Buddhismus lehrt in besonders klarer und eindeutiger Weise, wie wir Vorstellungen, Gedanken und auch die Wahrnehmung von der Wirklichkeit unterscheiden können. Was hat es nun mit Dogens Lehre vom Traum auf sich? In einem solchen von ihm beschriebenen erweiterten Bewusstsein, das auf der Grundlage des Lebens und Lehrens im buddhistischen Gleichgewicht besteht, ist es nach Dôgen möglich, den Buddha-Dharma richtig und wahr zu lehren. Ein Traum in diesem Sinne ist also keinesfalls ein Hirngespinst oder eine Illusion, sondern im Gegenteil, etwas das wirklicher ist als das sogenannte normale Leben und Denken. Dôgen sagt hierzu wörtlich:

"Der schöne Traum ist selbst der Körper der Buddhas und bedeutet hier, dass sie direkt im Jetzt angekommen sind und keine Zweifel mehr haben. Obgleich es den Grundsatz gibt, dass Buddhas Lehre in der Wirklichkeit des Wachzustandes niemals endet, gibt es auch den Grundsatz, dass die Verwirklichung der Buddhas und Vorfahren im Dharma immer eine Traum-Handlung in einer Traum-Wirklichkeit ist".

Dies ist in der Tat eine erstaunliche Aussage. Sie bedeutet nicht mehr und nicht weniger, dass in dem Zustand eines solchen Traums, wie er in diesem Kapitel beschrieben wird, eine höhere Wahrheit und Wirklichkeit vorhanden ist als im normalen Wach-Bewusstsein, in dem wir mit der materiellen Umgebung, mit Organisationsaufgaben usw. beschäftigt sind und in dem sich unser Geist dauernd mit den verschiedensten Gedanken, Ideen und Vorstellungen beschäftigt. In dem von Dôgen gemeinten Traum sind wir im Gegensatz dazu von störenden Alltagsgedanken und Gefühlen befreit und zu einer höheren und umfassenden Wahrheit erwacht. Genau in einem solchen Zustand wäre es dann möglich, den Buddha-Dharma wahrhaft zu lehren, sodass auch die Schüler die Möglichkeit haben, zu einem solchen Zustand des Gleichgewichts vorzudringen. Dôgen betont, dass dies nicht durch Gedankentätigkeit allein möglich sei, sondern dass dies immer in der Körper-Geist-Einheit vor sich geht und er meint damit zweifellos, dass die Zazen-Praxis damit untrennbar verbunden ist.

Wenn wir uns fragen, wie Träume bei uns im Westen gesehen und gedeutet werden, so fällt auf, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Bedeutungen des Begriffs „Traum“ gibt. Zum einen wird damit Träumerei, Traumgespinste, Illusionen usw. bezeichnet, wie dies etwa in dem Ausspruch: "Träume sind Schäume" zum Ausdruck kommt. In einer solchen Sicht beziehen sich Träume nicht auf die wirkliche Welt und in der Tat treten sie ja in einem halbbewusstem Zustand auf, in dem unser Geist offensichtlich tätig ist, aber in dem wir kein Wachbewusstsein haben, und wie wir dies vielleicht formulieren würden, nicht bei vollem Bewusstsein sind. Dann wären Träume unwichtige Fantasieprodukte, die keine Bedeutung haben und die sinnlos und überflüssig sind. Warum der Geist in einem derartigen Halbbewusstsein derartige Träume erzeugt und ob sie vielleicht doch eine Bedeutung haben, bleibt in dieser Sichtweise unberücksichtigt. Zu dieser Gruppe von Träumen muss man wohl auch Wunsch-Träume zählen, die in der Wirklichkeit niemals realisiert werden können.

Auf der anderen Seite gibt es eine Bedeutung des Begriffs Traum, wie er etwa in dem berühmten Ausspruch von Martin-Luther King zum Ausdruck kommt: "Ich habe einen Traum, dass meine Kinder nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt werden". Hier wird also ein moralisches und humanistisches Ziel formuliert, und der Traum entspricht einer realisierbaren Vision über einen Zustand, der zwar noch nicht erreicht worden ist, aber der erreicht werden kann. Ein solcher Traum bezeichnet also ein moralisch gerechteres Leben in der Gesellschaft, in diesem Fall für die Farbigen in USA, in dem Vorurteile, Diskriminierungen, Abwertungen und dergleichen aufgrund äußerer Merkmale abgeschafft sind und nach Martin-Luther King damit die gesamte amerikanische Gesellschaft besser leben kann. Wie er meint, sei dies auch der Grundansatz der amerikanischen Verfassung und also gerade kein Hirngespinst und keine Träumerei über romantische Zielvorstellungen, die niemals erreichbar sind. Der Traum von Martin-Luther King hat also einen sehr hohen Wahrheitsgehalt und hat daraus sicher seine große politische und moralische Kraft auch gespeist. Dieser Wirklichkeits-Traum hat die Begrenzungen, Vorurteile und Überheblichkeiten der Tagespolitik überwunden und ist zu einer höheren, nicht zuletzt moralischen Wirklichkeit, vorgestoßen, die dann auch erhebliche Kraft in den USA entwickelt hat.

Wie steht es nun bei der Traumdeutung von Freud in der Psychoanalyse? Nishijima Roshi sieht hier eine ganz enge Verbindung. Es ist sicher an dieser Stelle nicht der Raum, die Traumtheorie und -therapie von Sigmund Freud auszubreiten. Aber kurz zusammengefasst kann man sagen, dass sich im Traum geistige Wirklichkeiten und Wahrheiten äußern, die im Tagesbewusstsein nicht zum Zuge kommen, das unter stärkeren Normen der Kultur oder bestimmter Gruppen steht. Im Traum äußern sich demnach verbotene psychische Wahrheiten, die im normalen Tagesbewusstsein nicht gedacht werden dürfen und nach Freud ins Unbewusste verdrängt worden sind. Das Unbewusste sucht sich sozusagen im Traum einen Kanal, um Zusammenhänge und auch Bewertungen in das geträumte Halb-Bewusstsein zu bringen, die am Tage keine Chance haben, sich zu äußern und wahrgenommen zu werden. Nach Freud ist aber sogar im Traum eine gewisse Zensur tätig, sodass das Unbewusste gewissermaßen nicht die Klartext-Informationen offen legt, sondern dies verklausuliert und maskiert tut. In sofern ist die Traum-Zensur, die aus den psychischen, kulturellen oder gruppenspezifischen Bereichen stammt und gewisse Informationen verbietet, abgeschwächt im Zustand des Traumes tätig. Es ist nun die Aufgabe des Therapeuten, die Traum-Information zu entschlüsseln, um verdrängte, vor allem traumatische Erlebnisse, bewusst zu machen, da sie im verdrängten Zustand im Unbewussten zu psychischen Störungen, wie etwa zur Zwangsneurose führen. Dadurch, dass die verbotenen Informationen offen gelegt werden, können sie gemeinsam von Patient und Therapeut bearbeitet werden, nicht zuletzt, weil der Therapeut falsche normierte Verbote abbaut, deren Relativierung unterstützt und damit den Patienten ermutigt, der Wirklichkeit ins Gesicht zu sehen, "da es ja gar nicht so schlimm ist".

Im Ergebnis werden also auch hier im Traum ein höherer Wahrheitsgehalt und eine größere Ehrlichkeit wirksam, als dies im Tagesbewusstsein möglich ist. Indem diese Wirklichkeit dann neu bearbeitet wird, kommt die Gesundung in Gang, denn nach Freud ist jede Flucht vor der Wirklichkeit mit Leiden verbunden. Wir können unschwer erkennen, dass hier durchaus Ähnlichkeiten zur Lehre von Gautama Buddha und Meister Dôgen bestehen. Festzuhalten ist, dass Träume nach Freud in solchen Fällen wahrer und ehrlicher sind als es das Tagesbewusstsein sein kann, und dass Verdrängungen, also verbotene Informationen, wieder an die „Oberfläche“ des Bewusstseins gelangen können und damit eine Gesundung in Gang kommt.
In diesem Kapitel geht Dôgen mit seiner Beschreibung des Traums noch darüber hinaus und sagt zusammengefasst, dass in diesem Zustand des Traums die umfassende buddhistische Weisheit von Körper und Geist wirksam ist In diesem Zustand kann der Buddha-Dharma gelehrt werden, damit die Schüler ebenfalls den Zugang zu diesem Zustand des Gleichgewichts des Erwachtseins, also der Erleuchtung, finden können. Dôgen sagt, dass nur in dem so verstandenen Zustand des Traums der wahre Dharma übermittelt werden kann, und dass nur dann die anderen Menschen Zugang zum Buddha-Dharma erlangen und diesen Buddha-Zustand im Hier und Jetzt erleben, erfahren und erlernen.
Dôgen macht ganz deutlich, dass der von ihm gemeinte Traum kein ausgedachtes Fantasiegebilde ist, das er frei von Täuschungen ist und sagt:

"Weil es die Verwirklichung einer Erfahrung in einer Erfahrung ist, lehren (die Buddhas) einen Traum in einem Traum.“

Dann wird beim Lehren des Buddha-Dharma das Dharma-Rad gedreht, wie dies häufig in der buddhistischen Lehre ausgedrückt wird. Dabei handelt es sich um die ganze Wirklichkeit des Universums, um dessen jeweilige Teilbereiche der Dinge, Gegenstände und Zusammenhänge (Materielles), um Ideen, Vorstellungen und Gedanken (Ideelles), um das Handeln im Hier und Jetzt und um den umfassenden Körper-Geist, also die volle Wahrheit und Wirklichkeit. Dôgen unterscheidet dies ausdrücklich von Träumereien der gewöhnlichen Menschen und bezieht aber auch die Verwirrungen und Zweifel als Wirklichkeit mit ein, wenn sie klar erkannt werden und wenn wir in der Wirklichkeit des Augenblicks sind. Unwirkliche Träume und geträumte Hirngespinste sind genau das Gegenteil davon, wenn der „Traum in einem Traum gelehrt wird“. Unwirkliche Inhalte von Träumen, die es in der Wirklichkeit gar nicht gibt oder die von der Gier, oder wie Peter Gäng dies ausdrückt, vom „Durst“ gesteuert sind, sind dabei nicht gemeint. Besonders Träume, die aus der Gier nach Ruhm und Profit entstehen, sei es, dass man diese unbedingt haben will oder dass man sie erbittert gegen andere verteidigt, entstehen immer dann, wenn der Körper-Geist nicht im Gleichgewicht ist, ganz gleich, ob man sich dabei großartig fühlt oder nicht. Sie sind das genaue Gegenteil der Wirklichkeit, die hier von Dôgen als Traum bezeichnet wird. Er spricht auch davon, dass nicht Enttäuschungen und keine neuen Täuschungen erzeugt werden, wie er das an anderer Stelle im Shobogenzo erläutert. Er sagt:

"Einen Traum in einem Traum zu lehren, das sind die Buddhas, und die Buddhas sind der Wind, der Regen, das Wasser und das Feuer, und die ewigen Buddhas steigen in dieses Juwelenfahrzeug und sind direkt am Ort der Wahrheit ankommen".

Häufig wird bei Träumen in den Mittelpunkt gestellt, ob die Traumziele in Erfüllung gehen oder nicht. Eine solche Gruppe von Träumen ist zielorientiert und möchte eigene Vorteile und gute Ergebnisse erzielen. Dies kann nicht im Sinne des Buddha-Dharma sein, denn das Handeln und Geschehen-Lassen sind eingebettet in den natürlichen Ablauf des Lebens und der Welt und wenn dies im Einklang mit dem Gesetz des Universums ist, vollzieht sich alles im Hier und Jetzt und mit dem ganzen Körper-Geist. Damit wird eine Verbindung zu dem Kapitel im Shôbôgenzô über "das Etwas" hergestellt, wo die mit dem Verstand nicht fassbaren Zusammenhänge und Ereignisse im Einzelnen behandelt werden. Dann ereignet sich diese „Etwas“. Dabei offenbart sich die ganze Wirklichkeit, ohne dass dies dem denkenden Verstand vollständig zugänglich wäre. Gleichwohl findet dies Handeln und Geschehen-Lassen im Leben der Menschen ganz konkret an diesem Ort und in diesem Augenblick statt.

Aber Dôgen sagt auch, dass es nicht einfach ist, einen Traum in einem Traum zu lehren. Er erläutert dies anhand der in China der damaligen Zeit üblichen Redewendungen, dass dies vergleichbar sei mit Bäumen, die keine Wurzeln haben, mit einem Land, das kein Yin und Yang hat und einem Tal, das kein Echo besitzt. Ein Traum wird in diesem Kapitel in derselben Weise erklärt, wie der Buddha-Dharma gelehrt wird. Ein Traum wird verwirklicht wie das Handeln und Geschehen-Lassen in der Wirklichkeit dieser Welt. Meister Dôgen sagt sogar:

"Wenn es diesen Traum nicht gäbe, gäbe es keine Buddhas, und wenn (die Buddhas) ihn nicht träumen würden, könnten sie niemals in der Welt erscheinen und das wunderbare Dharma-Rad drehen".

Ein solcher Traum ist, wie Nishijima Roshi lehrt, auf keinen Fall an die Ideen und Vorstellungen im Sinne des Idealismus und die materiellen Dinge und Gegebenheiten im Sinne des Materialismus gebunden. Es geht um das erweiterte Bewusstsein im Gleichgewicht des Hier und Jetzt, das Dôgen auch so beschreibt, dass man "einen Kopf auf einen Kopf setzt". Diese Redewendung wurde im alten China häufig für etwas Überflüssiges und Unsinniges verwendet, da ja der eine konkrete Kopf, also das Denken, genug sei und der zweite darauf gesetzte Kopf überflüssig ist und aus unsinnigen Vorstellungen und Täuschungen bestünde. Dôgen verwirft diese übliche Bedeutung und sagt, dass man
„den Traum in einem Traum lehrt, wenn man einen Kopf auf einen anderen Kopf setzt“.
Die negative Bewertung der damaligen Zeit lehnt er gründlich ab und benutzt dieses eindrucksvolle Gleichnis, um zu erklären, was er mit der umfassenden Wahrheit eines Traumes meint. Er verbindet weiter die Lehre des Buddha-Dharma als Verwirklichung eines Traums mit den großen Gleichnissen des Buddhismus: Dass Gautama Buddha eine Blume hoch hielt und den Dharma an Mahakashyapa übergab, dass der zweite Vorfahre im Dharma von China drei Niederwerfungen machte und das Mark von Meister Bodhidharma erlangte usw. Auch das Handeln der Bodhisattvas, die mit "tausend Händen und Augen" das Leiden in der Welt erkennen und anderen selbstverständlich helfen, wird als Verwirklichung dieses Traums bezeichnet. Die Verwirklichung des Traums vollzieht sich genau im Gleichgewicht des Hier und Jetzt, also vor allem in der Zazen-Praxis und dem praktischen Handeln im Sinne des Buddha-Dharma. Dôgen sagt wörtlich:

"Dieses Gleichgewicht ist die große Wahrheit der Waage, an welche der Raum hängt und die Dinge hängen",

und dieses Gleichgewicht sei die Leerheit und die Form. Damit nimmt er Bezug zum Kern der Mahayana-Lehre und dem Herzsutra, und dies sei
"nichts anderes als die Befreiung in einem Traum, die einen Traum verwirklicht". Weiter stellt er die Verbindung zur Erweckung des Bodhi-Geistes, zum Erwachen und zum Nirwana her und setzt den Wachzustand mit dem Zustand dieses buddhistischen Traumes gleich. Er sagt:

"Der Traum und der Wachzustand sind beide wirklich und sie sind jenseits von groß und klein (also materiellen Maßen) und hoch- oder minderwertig (Bewertungen, die von den Menschen hinzugefügt werden).“

So setzt er den Wachzustand im Gleichgewicht mit dem hier gemeinten Traumzustand gleich, nachdem der Bodhi-Geist erweckt wurde, das Bodhisattva-Handeln zur Selbstverständlichkeit geworden ist und Körper und Geist sich aus der Enge der Trennung von Subjekt und Objekt im Hier und Jetzt befreit haben. Ein solcher Traum sei auch kein Abbild oder wie wir sagen würden, Modell der Wirklichkeit, sondern es ist die Wirklichkeit und die Wahrheit selbst, also das Ganze von Körper und Geist. Dies geht über Denken und Wahrnehmung hinaus. Dôgen zitiert das Lotussutra:

"Golden gefärbt ist der Körper aller Buddhas, majestätisch geschmückt mit den hundert Glücksmerkmalen hören sie den Dharma und lehren ihn an den anderen. Ständig sind sie in diesem schönen Traum."

Daraus wird deutlich, dass der schöne Traum und die Buddhas eine unlösbare Einheit bilden. Dabei werden das Denken und die Wahrnehmung überschritten, und es werden alte festgefahrene Gewohnheiten, also Vorurteile, Abwertungen, Selbstüberhöhungen und Schutzanstrengungen zur Rettung des Ego überwunden. So ist der schöne Traum aus dem Lotussutra direkt im Hier und Jetzt angekommen und

"die Verwirklichung der Buddhas und Vorfahren im Dharma ist immer eine Traumhandlung in einer Traumwirklichkeit".

Dôgen rät uns in seiner typischen Art in diesem Kapitel abschließend, dass wir auch diese Lehre nicht einfach übernehmen sollten, sondern sie selbst gründlich untersuchen und erfahren müssen. Dabei ist die Achtung und Wertschätzung der drei Juwelen Buddha, Dharma und Sangha von tragender Bedeutung.

Sonntag, 21. Oktober 2007

Die Pflaumenblüten sind Gautamas Augen

Die Klöster Chinas lagen meist hoch in den Bergen, wo es im Winter besonders bei Nordwinden bitter kalt war, und der Schnee oft einen Meter hoch lag. An warmen Tagen im Vorfrühlings öffneten sich dann die ersten Knospen der Pflaumenblüten und verkündeten den kommenden milden Frühling oder, besser gesagt, diese Blüten waren der Frühling selbst. Pflaumenblüten sind meist von weißer Reinheit mit gelben Staubgefäßen oder in rötlichen Tönen und erscheinen auf den oft knorrigen Ästen bevor die Blättern grünen. Wir können uns sehr gut vorstellen, wie die Schar der Mönche nach einem schweren kalten Winter die ersten Pflaumenblüten begrüßten und die Natur frisch und neu am Anfang des Jahres stand. Dieses begann in China anders als bei uns zum Frühlingsanfang, also Mitte März, und manchmal blühten dann wirklich schon die Pflaumenbäume. Meister Dôgen liebte die Pflaumenblüten außerordentlich und hat uns mehrere Gedichte seines eigenen Meisters Tendo Nyojo überliefert, der auch ein großer Freund der Pflaumenblüten war.

In diesem Kapitel „Die Pflaumenblüten“ (Kap. 59, Baike) kreisen die Worte und Gedanken von Meister Dôgen um die Wirklichkeit und Schönheit der Pflaumenblüten, und er zeigt uns die verschiedenen Bilder und die buddhistische Bedeutung dieser Blüten auf. Am Anfang zitiert er seinen eigenen hochgeschätzten Meister Tendo Nyojo mit folgendem Gedicht:

„Tendos erste Worte in der Mitte des Winters:
Der knorrige alte Pflaumenbaum.
Plötzlich treibt er Knospen, eine Blüte, zwei Blüten,
Drei Blüten, vier, fünf Blüten, unzählige Blüten.
Sie können sich ihrer Reinheit nicht rühmen
Und nicht stolz sein auf ihren Duft.
Sie erschaffen das Gesicht des Frühlings,
Und weben duftend durch die Gräser und Bäume“.

Es wird dann weiter beschrieben, dass sich der Schnee nach den Winterstürmen wie ein mit Drachen besticktes schönes weißes Gewand auf die Landschaft legt und sich die Erde dann mit Schnee bedeckt. In diesem Gedicht wird also der Schnee und die Kälte des Winters angesprochen, aber auch auf die zarten und reinen Pflaumenblüten hingewiesen. Dôgens eigener Meister, der ein Maler und großer Könner des Pinsels war, schuf immer wieder wunderbare und aussagekräftige Bilder. So wird die winterliche Schneelandschaft mit den weißen Blüten des Pflaumenbaum verbunden. Dôgen sagt hierzu:

„Der Pflaumenbaum treibt plötzlich Knospen und trägt dann seine Früchte, manchmal macht er den Frühling und manchmal den Winter.“ Und weiter: „Seine geheimnisvolle plötzliche Verwandlung und seine unerklärlichen Wunder kann niemand ermessen.“

Im Buddha-Darma wird die sich öffnende Blüte häufig symbolisch für die sich entfaltende Lehre verwendet und immer wieder ist von den sich öffnenden fünf Blütenblättern die Rede, auch die Pflaumenblüten haben fünf Blütenblätter. Gerade der Gegensatz eines alten knorrigen Pflaumenbaums, auf dem die zarten weißen Blüten in großer Zahl aufgehen und blühen, ist von bewegender Poesie. Sie bilden eine Einheit mit dem Leben der Mönche in den Klöstern, mit der menschlichen Welt, mit dem Himmel und mit den Gebäuden des Klosters. Wenn die Knospen auf dem Pflaumenbaum erscheinen, öffnet sich der Buddha-Dharma; Gautama Buddha und der große Meister Bodhidharma erscheinen in der Welt.
Dôgen zitiert seinen eigenen Meister in einem anderen Gedicht:

„Gautama verliert seine (bisherigen) Augen.
Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.
Jetzt sind alle Orte beschwerlich und voller Dornen.
Und doch lachen die tanzenden Blüten im Frühlingswind.“

Der Zen-Buddhismus möchte nicht in romantische Träumerei abgleiten und kommt daher auch immer auf die Schwierigkeiten von Dornen zu sprechen, die es nun einmal in der Welt und im Leben gibt, denn auch in diesem Gedicht ist von den Dornen die Rede. Damit wird ein großer Bogen gespannt, der von den zarten Blüten bis zu den Dornen reicht, die das Leben beschreiben und widerspiegeln. Wenn man seine „alten Augen“ verliert, wie es in dem Gedicht heißt, bedeutet dies, dass man die gewöhnliche Sichtweise und das bisher als wesentlich Erachtete verliert und sich die Welt mit neuen erwachten Augen und Sinnen öffnet. Diese neuen Augen werden mit den Pflaumenblüten im Schnee verglichen und auch als Dharma-Rad bezeichnet, sodass wir die Pflaumenblüten auch als Dharma-Blüten verstehen können. Dôgen sagt dazu:
„Sogar der Himmel, die Erde, die Länder und die Nationen sind voller Kraft und Lebendigkeit, weil sie durch dieses Dharma-Rad gedreht werden.“

Dôgen zitierte häufig die Gedichte seines eigenen Meisters Tendo Nyojo und bedauert, dass es nur wenigen Menschen vergönnt war, ihn direkt zu erleben und ihm von Angesicht zu Angesicht zu lauschen. Leider starb er bald nachdem Dôgen wieder nach Japan zurückgekehrt war und konnte daher auch in China den Buddha-Dharma nicht mehr mit seiner poetischen Kraft lehren. Dôgen betrachtet es als außerordentliches Glück, dass er Tendo Nyojo nicht nur persönlich kannte, sondern auch dass es ihm vergönnt war, jederzeit Zugang zu ihm zu haben, obgleich er doch aus dem fernen Land Japan und nicht aus China gekommen war. Er sagte, dass es nach dem Tod seines Meisters wohl im Reich der Song „noch finsterer geworden sei als in einer mondlosen Nacht“.
Dôgen bezeichnet die Pflaumenblüte dann als das Buddha-Auge und als die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges. In seiner einfachen klaren Sprache gelingt es ihm, poetische Bilder von großer Kraft in unserem Geist zu erzeugen, so wie sein eigener Meister wunderbare Bilder mit dem Pinsel malte. Dôgen sagt wörtlich:

Deshalb gehören die unzähligen Blumen alle zur Familie der Pflaumenblüten im Schnee: die himmlischen Blumen im Himmel über uns, die himmlischen Blumen der Menschenwelt und die mannigfaltigen anderen Blumen in den grenzenlosen Ländern des ganzen Universums. Alle diese Blumen blühen, weil ihnen ein Teil der Wohltaten der Pflaumenblüten zugute kommt.“

Auch in unserer Sprache sind der weiße Schnee und eine verschneite Berglandschaft in ihrer Reinheit und Klarheit wirklich Poesie von weiter stiller Kraft. Der unberührte Schnee weckt in uns Menschen große und tiefgehende Gefühlsbereiche, die über die reine äußerliche Form und Farbe hinausgehen. Ein solches umfassendes Erleben der Schneelandschaft geht über romantische, schwärmerische Bilder hinaus, die Dôgen hier als „verschneiter Palast“ bezeichnet. Die Schneelandschaft wird mit den Augen Buddhas gleichgesetzt und auch die vielen tausend Augen des Bodhisattva des großen Mitgefühls (Avalokiteshvara) und sein tätiges Handeln für andere werden hier angesprochen. Eine rein materielle, am Äußeren hängende Schönheit ist also nicht gemeint, sondern durch das moralische Handeln des Bodhisattva wird die umfassende buddhistische Lebensphilosophie angesprochen. Die Schneelandschaft ist also Gautama Buddha und Gautama Buddha ist die Schneelandschaft. Dôgen sagt hierzu:

„Wenn es nicht ´überall nur Schnee´ gäbe, könnte es im ganzen Universum keine Erde geben. Die harmonische Vereinigung von innerem Wesen und äußerer Form in diesem ´überall nur Schnee´ ist das Auge des alten Gautama.“

Dôgen kommt dann auf das wirkliche Wesen der Sein-Zeit im Hier und Jetzt zu sprechen. Dann kann man nicht sagen, dass die Blumen erscheinen und vergehen, weil sie einfach hier im Jetzt so da sind wie sie sind. Man kann nicht sagen, dass sie entstehen und vergehen, also aufblühen und verwelken, denn dies ist nicht das Erfahren und Erleben im gegenwärtigen Augenblick, sondern vollzieht sich in der linearen Zeit, die mehr gedacht als unmittelbar erfahren wird. Dôgen spricht von der einzigartigen und unübertrefflichen Wahrheit des „Nicht-Erscheinen“. Dies sind dazu die Worte von Tendo Nyojo. dem Lehrer von Meister Dôgen:
„Nur ein Zweig Pflaumenblüten im Schnee.“
Genau je im Augenblick gibt es die Wirklichkeit und Wahrheit, die durch die Pflaumenblüten im Schnee poetisch zum Ausdruck kommen. So kann man sagen, dass das ganze Universum das konkrete Hier und Jetzt der Pflaumenblüten ist, und dies sind auch die Augen von Gautama Buddha. Es ist also die Wirklichkeit jenseits von verengtem Denken und von der Wahrnehmung, die von Dôgen durch die berühmten Worte Bodhidharmas angesprochen werden:

Zu Anfang kam ich in dieses Land,
Um den Dharma weiterzugeben und alle Lebewesen von ihren Täuschungen zu befreien.
Eine Blüte öffnet ihre fünf Blütenblätter.
Und ihre Früchte reifen von selbst auf natürliche Weise.“

Hier kann auch ein direkter Bezug zu den Pflaumenblüten hergestellt werden, weil diese ebenfalls fünf Blütenblätter besitzen. Man kann sich viele phantasievolle romantische Gedanken und Vorstellungen darüber machen, warum Bodhidharma von Indien nach China wanderte oder wie es in der Zen-Literatur immer heißt, „warum er aus dem Westen kam“ und in den Osten ging. Unabhängig davon kommt den Pflaumenblüten je im Hier und Jetzt die ganze Wirklichkeit zu. Durch den wahren Buddha-Darma, den er mit der Zazen-Praxis nach China brachte, war es dann möglich, die Natur unverfälscht und ohne spekulative Ungenauigkeit zu erleben und zu erfahren. Dies bezeichnet Dôgen als

Hier-Sein der Pflaumenblüten, das ins Jetzt gekommen ist. Da das Jetzt sich auf diese Weise verwirklicht, spricht (Tendo) von einem Ort, der beschwerlich und voller Dornen ist.“

Durch die Erwähnung der Dornen und der Beschwerlichkeiten des Lebens wird der direkte Bezug zur Wirklichkeit hergestellt, der ja keineswegs ohne Schwierigkeiten und Hindernisse zu begehen ist. Auch ein Pflaumenbaum hat alte knorrige Äste und frische junge Triebe, wie das Leben selbst. Die Pflaumenblüten haben also ein edles inneres Wesen und auch eine äußere Form. Wenn man einen einzelnen Pflaumenzweig betrachtet, so gibt es nur diesen einen, eine Verallgemeinerung auf alle Pflaumenzweige, auf die jeweilige Landschaft und auch der Bezug zum Buddha-Dharma sind etwas anderes als das konkrete Hier-Sein dieses einen Zweiges. Dies ist die konkrete Betrachtung der Form. Aber ein solches Hier-Sein ist mehr als nur die äußere Form durch die materielle Sichtweise, sondern es offenbart die Wirklichkeit selbst in ihrer ganzen Schönheit, so wie sie ist. Dies ist die Lebensphilosophie der Wirklichkeit und Wahrheit, die seit Gautama Buddha von einem authentischen Meister auf den anderen übertragen wurde. Dadurch hat sich der Buddha-Darma in China entfaltet wie sich die fünf Blütenblätter der Pflaumenblüte öffnen. Übrigens gibt es hier große Ähnlichkeiten mit der Philosophie Martin Heideggers.

Dôgen mahnt uns dann, die fünf Blütenblätter nicht in etwas platter Weise als die fünf großen Vorfahren im Darma von China selbst zu interpretieren. Dies sei schon deswegen nicht möglich, da sich die fünf Blütenblätter ja nicht nur auf diese fünf Meister beziehen können, sondern die ganze Welt und das ganze Universum umfassen.

Dôgen zitiert dann wieder seinen eigenen Meister:
Ein Neujahrsmorgen ist der Anfang des Glücks.
Die zehntausend Dinge sind alle neu und frisch.
Sehr verehrte Versammelte.
Der Pflaumenbaum offenbart den ersten Frühling.“

Nach dem chinesischen Kalender ist der dortige Neujahrsmorgen der erste Frühlingstag nach unserer Einteilung der Jahreszeiten. Also handelt das Gedicht von dem Frühjahrstag im März nach dem langen kalten Wintern in den chinesischen Bergen die milde Jahreszeit mit den ersten Blüten anfing. Es liegt auf der Hand, dass dieses Gedicht die Befreiung des Menschen durch den Buddha-Dharma anspricht und dass der blühende Pflaumenzweig die Schönheit und Frische des dadurch möglichen neuen Lebens bedeutet. Dies ist nach dem Gedicht der Anfang des Glücks und der neuen Freiheit. Das Gedicht geht durch seine Poesie über die normale Bedeutung der Worte hinaus, durchstößt also die Scheinwirklichkeit des vordergründig Gesagten und Gedachten.

Dôgen kommt gegen Ende des Kapitels darauf zu sprechen, wie wir dem Buddha wirklich begegnen können. Diese Begegnung wird poetisch durch die Pflaumenblüten wiedergegeben und spiegelt sich in einer Zeile des Gedichtes von Meister Tendo Nyojo wieder:

„Der Frühling ist in den Pflaumenzweigen bedeckt von der Kälte des Schnees.“

Dies kann man wohl auch symbolisch so auffassen, dass in jedem Menschen trotz der äußeren Kälte der Frühling lebt, wie in der wunderbaren Schönheit und Reinheit einer Pflaumenblüte. Aber nur eine ganzheitliche Begegnung von Körper und Geist ermöglicht den Zugang zu dieser feinen Schönheit und Befreiung. Der wahre Buddha-Dharma wird dabei in der direkten Begegnung von einem Meister auf den anderen, also von Angesicht zu Angesicht, übertragen. In einer solchen Begegnung „sieht man Buddha nicht nur mit den Augen“, sondern erfährt, erforscht und erlebt eine solche Begegnung unmittelbar. Der Frühling ist in den Pflaumenblüten und „der Frühling ist jenseits der Welt (der gewöhnlichen) Menschen.“

Dôgen preist dann die große Fähigkeit seines eigenen Meisters, den Zweig der Pflaumenblüten in einem Bild zu malen, er sagt dazu:

„Der Frühling ist in den Pflaumenblüten und er ist eingegangen in das Bild.“

Die Formulierung „in das Bild gegangen“ wiederholt Dôgen auch an anderer Stelle im Shobogenzo und meint damit, dass Bild und Wirklichkeit zusammenkommen und eine Einheit bilden. So spricht er an einer anderen Stelle davon, dass der Bambus in das Bild gekommen ist. Wenn so die wunderbare Wirklichkeit in das Bild kommt, ist dieses vollkommen und es muss nichts mehr hinzugesetzt werden, es kann aber auch nichts mehr weggenommen werden.
Dôgen sagt von seinem Meister, dass er mit der Poesie des Pflaumenzweiges den Kern der Lehre von Gautama Buddha erforscht und erfahren habe und dass er die „Klarheit über die Pflaumenblüten erlangt“ habe.
Schließlich geht Dôgen darauf ein, dass man die Wirklichkeit und Schönheit der Pflaumenblüten nicht erfahren kann, wenn man von den Dämonen des eigenen Ich beherrscht wird. Dann sollte man sich aus den Klauen dieser Dämonen befreien und sich mit den Pflaumenblüten verbinden. Ihre Reinheit und Schönheit kann ohne Weiteres Befreiung vom Egoismus und den Dämonen der Ich-Überschätzung geben. Die Pflaumenblüten sind dann die Augen Gautama Buddhas und damit der Lehre und Praxis des Buddha-Dharma.
Am Ende dieses Kapitels zitiert Meister Dôgen einen alten Mönch und Meister wie folgt:

„Ich erinnere mich an meine Anfänge vor dem Erwachen.
Jeder Ton des großen bemalten Horns klang für mich so traurig.
Jetzt habe ich auf meinem Kopfkissen keine Träume mehr
Und überlasse die Pflaumenblüten den schwachen oder starken Winden.“

Damit wird die Harmonie des Menschen mit der Natur angesprochen, die durch keinen egoistischen Willen und keine Gier mehr belastet ist. Die Pflaumenblüten sind das Symbol der reinen und schönen Natur, der man ohne Trennung vom Ich begegnet und in die man sich einfügt. Das große Erwachen wird so mit den Pflaumenblüten verglichen und kommt ihnen gleich. Die starken und schwachen Winde des Lebens wehen dabei, ohne zu stören und ohne zu beunruhigen, und wir können die Pflaumenblüten im Wind treiben lassen.

Donnerstag, 18. Oktober 2007

Was war die Absicht des großen Bodhidharma, als er von Indien nach China kam?

Kopf des Bodhidharma inTokein

Bodhidharma war ein indischer großer buddhistischer Meister, der im 6. Jahrhundert die damals schwierige und gefährliche Reise nach China unternahm und dort den wahren Buddhismus und vor allem die Praxis des Zazen lehrte. In China ist er der erste Zen-Meister und Vorfahre im Dharma. Er leitete eine Epoche von mehreren hundert Jahren in China ein, in der dort der Buddhismus in großartiger Weise aufblühte und ganz wichtige Bereiche des Buddhismus durch den ostasiatischen Einfluss in besonderer Weise weiter entwickelte und hervorbrachte. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Frage, warum er denn nach China kam, eine der bekanntesten Koan-Aufgaben im Zen-Buddhismus ist.

Meister Dôgen gibt in diesem Kapitel (Kap. 67, Soshi sairai no i) oder „Der Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen“, sein tiefgründiges Verstehen zu diesem Thema wieder. Viele Zen-Schüler haben sich mit dieser Frage und mit diesem Koan intensiv beschäftigt und auseinander gesetzt. Dôgen gibt zu diesem Thema eine Geschichte eines berühmten chinesischen Meisters wieder, der den folgenden Fall schilderte:

Am Rande einer steil abfallenden tiefen Schlucht steht ein Baum, dessen kräftiger Ast über den Abgrund gewachsen ist. Die tiefe Schlucht misst tausend Fuß senkrecht nach unten. An diesem Ast hängt unter schwierigsten Bedingungen ein Mann, dem es nur möglich ist sich zu halten, indem er in den Ast beißt und sich so mit den fest gebissenen Zähnen vor dem tödlichen Absturz halten kann. Es wird geschildert, dass er die Hände und Füße nicht benutzen kann, um sich aus dieser äußerst gefährlichen Lage zu befreien. Dann erscheint am Rande der Schlucht unter dem Baum jemand, der ihm zuruft:

Was ist der Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen?“

Wenn der Gefragte nun antworten will, muss er den Mund öffnen und verliert damit über dem Abgrund seinen Halt, stürzt ab und wird dabei zu Tode kommen. Wenn er jedoch nicht antwortet, verletzt er seine Pflicht als Buddhist bei wichtigen Fragen auf jeden Fall zu antworten, wenn jemand diese Antwort unbedingt benötigt.
Nachdem der große Meister nun diese Geschichte seinen Mönchen erzählt hatte, bat er um Antworten. Ein älterer Mönch trat dann hervor und sagte, ihm erschiene es nicht so wichtig, was der Mann in dieser doch sehr ungewöhnlichen Lage sagte, sondern was er in seinem normalen Alltag täte und wie er handeln und reden würde. Der große Meister brach nach dieser Antwort in ein schallendes Gelächter aus und zeigte damit an, dass er mit dieser Antwort sehr zufrieden war, da sie in der Tat auf den normalen Alltag mit seinem üblichen Handeln abzielte, das im Zen-Buddhismus so sehr im Mittelpunkt steht.
Dôgen erklärt dann, dass diese Geschichte wohl meistens falsch verstanden worden ist und sagt wörtlich:

„Es scheint eher, dass es den meisten die Sprache verschlagen hat. Ihr solltet euch aber bemühen, diese Geschichte (gründlich) zu durchdenken und dabei das Nichtdenken und das, was jenseits des Denkens ist, benutzen.“

Er lobt dann den alten Meister und sein tiefes Verständnis, das in der obigen Geschichte zum Ausdruck käme. Er rät uns wie der bekannte alte Meister dieser Geschichte, ausdauernd und regelmäßig auf dem Kissen zu sitzen, sodass wir die Geschichte wirklich erfahren können,

schon bevor (der am Baum Hängende) seinen Mund aufmacht“.

Dôgen erläutert weiter, dass es sich hier um einen wirklichen Menschen handelt, der in den Baum gestiegen war und sich nur mit den Zähnen über dem Schwindel erregend tiefen Abgrund halten konnte, indem er fest in den Ast gebissen hatte. Das wirkliche Erleben und Handeln findet in der Sein-Zeit statt, das heißt Leben und Handeln lässt sich nicht unabhängig von der Zeit erfahren, denn es gibt überhaupt nichts, was unabhängig und unveränderlich von der Zeit existiert. Dôgen sagt hierzu:

„Es gibt die Zeit des Fallenlassens und die Zeit des Hinaufsteigens. (In dieser Geschichte) geht es um einen wirklichen Menschen, der auf einen Baum gestiegen ist."

Durch die realen Beschreibungen des Baumes und der Schlucht soll sicher deutlich werden, dass es sich nicht um eine phantasievolle und künstlich dramatisierte Geschichte handelt, sondern dass wir bei der Frage, warum Bodhidharma aus dem Westen kam, in der vollen Wirklichkeit des Hier und Jetzt sein müssen und uns nicht in Phantastereien und vagen Spekulationen verlieren dürfen. Diese Wirklichkeit wird aber nicht nur materiell und durch die Tiefenmaße der Schlucht bestimmt, sondern Dôgen vergleicht sie mit dem ewigen Spiegel, also mit dem Symbol für die intuitive Weisheit. Damit verlässt er sowohl die Ebene der Ideen und Spekulationen, als auch die der materiellen Äußerlichkeiten und der Wahrnehmung, und zielt direkt auf den Kern der buddhistischen Lehre. Er vergleicht dann die Einheit von Mund und Ast beim Beißen damit, dass eine Unterscheidung von Subjekt und Objekt bei existentiellen Fragen vollständig unmöglich ist. Der feste Biss in den Ast kann symbolisieren, dass bei der Trennung und dem Loslassen des Astes der Sturz in die Tiefe unvermeidlich ist, oder anders ausgedrückt, dass das Drama des Lebens genau mit einer solchen Trennung von Subjekt und Objekt in unserer Vorstellung und in unserem Denken verbunden ist. Wir stürzen dann unweigerlich in die Tiefe.

Die Geschichte erzählt zunächst eine sehr konkrete Situation und hat einen sehr markanten Inhalt, sodass vor allem die materiellen und an die Form gebundenen Bereiche dieser Welt angesprochen werden und bedeutsam sind. Nishijima Roshi ordnet dies der zweiten Lebensphilosophie, also dem Materialismus, zu. Diese können wir zwar nicht als umfassende Wirklichkeit und Wahrheit anerkennen, sie ist aber natürlich in unserem Leben von großer Wichtigkeit. So ist der Baum wirklich ein Baum und der Ast wirklich ein Ast, und da der Mann in der obigen Geschichte am Ast neben dem Stamm des Baumes hing, konnte er sich auch nicht mit seinen Füssen auf den Baum abstützen. Dies war jedoch vorher möglich, als er von unten auf den Baum nach oben gestiegen war. Aus einer solchen konkreten Sichtweise kann ein Mensch natürlich auch nicht im „leeren Raum“ hängen, sondern nur an einem Ast, in den er hinein beißt. Alle Vorstellungen des leeren Raumes oder der Leerheit sind im Buddhismus ohnehin in Gefahr, immer in Phantasiewelten zu verschwimmen.

Dann taucht in der Geschichte ein anderer Mensch unter dem Baum auf und stellt die Frage nach dem Sinn des Buddha-Dharma. Dies führt aus der materiellen Sicht und Denkweise heraus. Die beiden genannten Menschen treten dabei in eine Wechselwirkung ein und bilden so eine geistige Einheit, obgleich sie sich in der Tat in sehr unterschiedlichen Situationen befinden. So wird die Einheit im Biss von Mensch und Baum durch einen weiteren Menschen erweitert, der eine wichtige Frage stellt und unbedingt eine Antwort haben möchte. Da wir uns die beiden Menschen dabei nicht mehr getrennt vorstellen sollten, sagt Dôgen:

Beim Fragen beißt (auch) der Fragende mit dem Mund in den Ast des Baumes.“

Was will Dôgen uns mit dieser eigenartigen Aussage vermitteln? Sie soll sicher auch bedeuten, dass der Fragende sich ganz wirklich in die Situation des Befragten eindenken und einfühlen sollte und nicht einfach daherkommen darf und ohne Einfühlungsvermögen und Bewusstheit für die gesamte Lage seine fordernden Fragen loslässt. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass die Frage nach Bodhidharmas Kommen den Kern des Zen-Buddhismus in China trifft. Dann bedeutet diese Frage nichts anderes „als dass er direkt in diesen Sinn (des Buddha-Dharma) beißt“: ein wirklich durchschlagendes Gleichnis!

Dôgen untersucht dann weiter, ob es überhaupt immer erforderlich ist, mit Worten zu antworten, und dass gerade die Antworten des Buddha-Dharma oft über Sprache und Worte hinausgehen. Dann wäre es gar nicht notwendig, dass der Befragte, der an dem Ast hängt, seinen Mund öffnet und deswegen herunterfällt und dabei stirbt. Dies soll symbolhaft heißen, dass man wirklich „in die Wahrheit beißen“ soll, wenn man jemandem auf wichtige Fragen antwortet. So sagt Dôgen:

„Es ist daher etwas Alltägliches, dass der ganze Mund in den Ast beißt und dies hindert euch nicht daran, euren Mund zu öffnen oder zu schließen“.

Wenn man in die Wahrheit beißt und wirklich ehrlich antwortet, dann empfängt man also eigentlich erst seinen wahren Körper-Geist und verliert gerade nicht Leib und Leben. Wenn man jedoch tot ist und nicht mehr lebt, kann man natürlich auch nicht mehr antworten und kann dem Fragenden überhaupt nicht mehr helfen. Man muss also das vorherige gewöhnliche Leben über Bord werfen und abstoßen, um zu einem neuen kraftvollen Leben auf dem Buddha-Weg zu erwachen. Der Mund, der die Wahrheit sagt, beißt in den Ast und bildet eine feste unzerstörbare Einheit zwischen Subjekt, Objekt und dem Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen. Damit wird die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden. Daher kommt es nicht zuletzt darauf an, dass wir uns selbst die wichtigen Fragen stellen, wenn wir „in die Wahrheit beißen“. Dôgen sagt schließlich, dass die Buddhas und Vorfahren im Dharma, die nach dem Sinn von Bodhidharmas Kommen aus dem Westen fragten, alle den Augenblick erfahren haben, in dem sie am Baum hingen und mit dem Mund in den Ast gebissen haben. Und sie hören nach Dôgen nicht auf zu fragen.

So kommt es darauf an, in einer extremen Situation wie sie in dieser alten Zen-Geschichte geschildert wird, nach der großen Wahrheit zu suchen, aber es kommt auch darauf an, im Alltag und in einer normalen Situation nach der Wahrheit zu streben und nach der Absicht von Bodhidharma zu forschen. Welche Absicht hatte dieser große Meister, als er nach China kam und welchen Buddhismus brachte er dort hin? Der Zen-Buddhismus blühte dann auf und entwickelte sich in großartiger Weise. Es ist damit ganz klar, dass wir die in diesem Kapitel behandelte Frage überhaupt nicht einfach beantworten können. Aber wir sollen uns in sie hinein beißen und nicht so schnell wieder loslassen. So haben alle großen Meister gehandelt!

Sonntag, 14. Oktober 2007

Wie begrenzen unsere Sprache und unser Denken das Leben?

Meister Dôgen sagt uns häufig, dass wir die Grenzen der Sprache und des intellektuellen Denkens überschreiten müssen, um zur buddhistischen Wirklichkeit und Wahrheit vorzudringen.

Schulkinder in Kamakura


Dabei empfiehlt er uns, Zazen zu praktizieren, um zum Gleichgewicht zu kommen und auf dieser Grundlage zu einem intuitiven Bewusstsein zu gelangen. Nishijima Roshi betont häufig die große Bedeutung der buddhistischen Intuition, die sich im Zustand des Gleichgewichts ereignet und eine größere Weisheit umfasst als das verstandesmäßige Denken. Diese Intuition sei auch die Voraussetzung für richtige Entscheidungen auf unserem Lebensweg und ergibt erst die wirkliche Chance, das vielfältige Leiden zu überwinden und zu Frieden und Glück zu gelangen. Nach meinem Verständnis handelt es sich dabei um ein besonderes erweitertes Bewusstsein, das vor allem durch die Praxis des Zazen entwickelt wird und bis in wirklichkeitsnahe Träume reicht, die das oft eingeengte Tagesbewusstsein überschreiten. Dies erläutert Dôgen tiefgründig z. B. im Kapitel „Einen Traum in einem Traum lehren“ (Kap. 38, Muchu-setsumu). Ein solcher Zustand des intuitiven erweiterten Bewusstseins wird im Westen sicher zu wenig beachtet, da unser Lebensverständnis wesentlich durch die intellektuellen Philosophien nicht zuletzt aus der antiken griechischen Tradition geprägt ist. Es ist das große Verdienst von Freud in der modernen Zeit den oft höheren Wahrheitsgehalt von Träumen herausgearbeitet und für die Heilung von psychischen Krankheiten nutzbar gemacht zu haben.

Wir wissen heute, dass unser Denken eng mit unserer Sprache gekoppelt ist und sich häufig sogar in Form der Sprache selbst vollzieht. Dabei sollen auch die abstrakten Sprachen der Naturwissenschaft (z. B. Chemie) und der Mathematik ausdrücklich einbezogen werden.
Damit kommen wir zu der zentralen Frage, wie unsere westlichen Sprachen eigentlich aufgebaut sind und welche weltanschaulichen Grundannahmen in ihnen wirksam sind, die wir selbst kaum erkennen können. Durch diese Sprache sind damit Möglichkeiten und Grenzen unseres Denkens und Kommunizierens wesentlich vorgeprägt.

Fast alle westlichen Sprachen haben indo-europäische Wurzeln, dazu gehören neben Griechisch, Latein, Englisch, Deutsch auch die indischen Sprachen wie Sanskrit und Pali. Gautama Buddha kannte also die Sprach- und Denkbarrieren dieser Sprachfamilie genau, aber seinem Genie ist es gelungen, diese z. T. engen Grenzen zu überwinden und damit den Weg für eine neue Freiheit zu eröffnen, um die wesentlichen Ursachen für so vieles Leiden in unserem Leben auszuschalten. Wie Nishijima Roshi eindrucksvoll belegt, führt uns der Weg dieser Befreiung von Gautama Buddha über Nagarjuna direkt zu Meister Dôgen und dem ostasiatischen Zen-Buddhismus.
Wo liegen nun die Begrenzungen unserer westlichen Sprachen und unseres Denkens für die wichtigen Fragen der Existenz? Wie werden dadurch die wesentlichen Entscheidungen unseres Lebens vorgeprägt, z. B. die Wahl unseres Partners und des Berufes? Und was raten uns Gautama Buddha und Dôgen, wie wir uns aus dieser Sprach- und Denkfalle befreien können, um das Leiden zu überwinden?

Die folgenden Aussagen hierzu beruhen wesentlich auf mehreren Gesprächen mit Peter Gäng, dem ich hier ausdrücklich dafür danken möchte.
Die westliche Welt benutzt wie erwähnt Sprachen, die aus der indo-europäischen Sprachfamilie hervorgegangen sind: z.B. Deutsch, Englisch, Griechisch, Latein und die daraus sich entwickelnden modernen Sprachen sowie die slawischen Sprachen. Zu dieser Gruppe gehören auch die Sprachen von Gautama Buddha, die im alten Indien gesprochen wurden, denn er war ein Nachkomme der indo-europäischen Einwanderer.
Diese Sprachen sind so aufgebaut, dass sie grundsätzlich ein Subjekt, ein Objekt und ein Verb als Verbindung zwischen Subjekt und Objekt haben.


Beispiel: „Ich halte eine Tasse“.
Ich als Subjekt tue etwas (halten) mit einem Gegenstand (Tasse)oder einer Sache.
Dies ist etwas vereinfacht die Grundstruktur unserer Sprache und unseres Denkens.
Es ist einleuchtend, dass wir damit in der Welt der Dinge und des Materiellen gut arbeiten können: Subjekt-Prädikat-Objekt. Im Überlebenskampf der Menschen in früheren Zeitaltern, in der die Sprachen entstanden sind, war eine solche Grundstruktur der Kommunikation und des Denkens unbedingt notwendig und auch sinnvoll. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist in der materiellen Welt und Weltanschauung also durchaus angemessen. Aber können wir mit einem solchen Weltmodell auch existentielle Fragen wie Liebe, Partnerschaft, Vertrauen, Leiden und Glück usw. richtig d.h. angemessen „denken“? Sicher nur zum Teil oder oft mit schlimmen Folgen.

In diesen Sprachen werden die Subjekte und Objekte dann noch weiter gekennzeichnet durch bestimmte Merkmale, wie z.B. Alter, Geschlecht, Größe, Augenfarbe, aber auch durch bestimmte Charaktereigenschaften wie z.B. Sanftmut, Hilfsbereitschaft, Selbstlosigkeit, Spiritualität, Egoismus, Rücksichtslosigkeit, Aggressivität usw. Dass diese Merkmale durchaus nicht immer eindeutig und verlässlich sind und dass Subjekt und Objekt ungenau oder falsch kennzeichnen, muss dabei sicher kaum erwähnt werden. Wenn die Objekte Gegenstände oder Sachen sind, lassen sich bestimmte Eigenschaften wie Farbe, Größe, Gewicht usw. sicher ganz gut festlegen.
Die Grundlage unserer Sprache besteht also aus einem Weltbild, dass es dauerhafte Subjekte wie z.B. Menschen und dauerhafte Objekte wie z.B. Dinge oder Ideen gibt, die von einander getrennt sind. Diese haben jeweils bestimme Eigenschaften, die meist ebenfalls als dauerhaft angenommen werden und handeln dann irgendwie miteinander.
Wie gesagt sind unser Denkvermögen und unser Verständnis der Welt ganz wesentlich mit einer solchen Sprache verbunden und auch durch die Sprache begrenzt. Das heißt, unsere Denkmöglichkeiten in dieser Welt werden maßgeblich dadurch vorgeprägt, welche Strukturen in unserer Sprache vorhanden sind. Für die indo-europäischen Sprachen bedeutet dies, dass wir von den genannten dauerhaften Subjekten und Objekten mit bestimmten Eigenschaften und Merkmalen ausgehen und dass es bestimmte Beziehungen zwischen ihnen gibt. Wir müssen davon ausgehen, dass auch die alten Inder zu Buddhas Zeiten ähnlich wie die heutigen westlichen Kulturen, also Griechenland und Rom mit diesen Sprach- und Denkstrukturen groß geworden sind und innerhalb dieser Strukturen gedacht und die Welt verstanden haben. Eine solche derartig vereinfachte Interpretation vollzieht sich aus buddhistischer Sicht trotz der Unfassbarkeit und unendlichen Komplexität der Welt, kann also immer nur Teilaspekte dieser Wirklichkeit erfassen, beleuchten, strukturieren und kommunizierbar machen.
Auch unser Denken im Idealismus hat diese Grundstruktur. Die Objekte sind dann die Ideen, Worte und Gedanken, aber auch Vorstellungen, Erinnerungen usw. Auch hier gibt es die Trennung von Subjekt und Objekt als Grundverständnis der Welt und des Lebens.

Wir müssen also davon ausgehen, dass durch den Aufbau unserer Sprache eine grundsätzliche Vor-Interpretation der Welt geleistet wird, die uns meist nicht bewusst ist und der wir uns ohne besondere Schulung kaum entziehen können. Sie stammt aus der Welt der Dinge, Organisationen und des Materiellen und wurde auf die Welt der Ideen und Gedanken übertragen. Dies sind in der Lehre von Nishijima Roshi die Lebensphilosophien des Materialismus und Idealismus, die niemals die ganze Wahrheit erfassen können.
Ob es also wirklich immer derartige Subjekte und Objekte in der Art und Weise unserer Sprache und nach unserem sog. gesunden Menschenverstand gibt, ist höchst unsicher und besonders kennzeichnend für die indo-europäische Sprachfamilie und deren Kulturen. Es ist sehr zweifelhaft, ob wichtige psychische, existenzielle und spirituelle Bereiche, bei denen es um unsere Zufriedenheit, unser Lebensglück und den Sinn des Lebens geht, mit diesem Grundansatz unserer Sprache sinnvoll bewältigt werden können. Gautma Buddha hat dies verneint und Meister Dôgen fügt die Lebensphilosophie des Handelns und der Moral hinzu. Sie beschreiben in vielen Koan-Geschichten, wie man aus der Scheinwelt der fest gefügten Ideen in das Hier und Jetzt jenseits von Sprache und Denken zur Wirklichkeit zurückfindet. Vermutlich sind die ostasiatischen Sprachen sogar weniger an Subjekten und Objekten orientiert als wir, sodass wir noch größere Probleme haben, die Bereiche der Worte und des Denkens zu überschreiten.

Dôgen beschreibt z. B., dass wir die Frage der Buddha-Natur mit einem solchen Denkansatz von Subjekt und Objekt überhaupt nicht behandeln können und kommt zu dem Schluss, dass wir weder sagen können, dass wir die Buddhanatur haben, noch dass wir sie sind aber dass auch das Gegenteil nicht richtig ist. Das ganze verwendete Denkmodell wird der Buddhanatur überhaupt nicht gerecht. Am besten man schaltet das Denken regelmäßig einmal aus: in der Zazen-Praxis!

Weitere Informationen:

Das Geheimnis der Buddha-Natur

Die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Der Mensch Gautama Buddha

Was ist das „Etwas“, das uns jäh begegnet, jenseits von Denken und Wahrnehmung?