Donnerstag, 29. November 2007

Die Zedern im Garten

Die Zeder ist ein schöner Nadelbaum, der in gemäßigtem Klima, wie z. B. in Japan und den größten Teilen von China, sehr gut gedeiht. Er hat ähnlich wie unsere Tannen und Kiefern immer grüne Nadeln, aber meist einen dickeren Stamm.


Zedern vor dem Kloster Tokein


Es gibt Zedern mit gewaltigem Stammdurchmesser, die sehr alt sind und ihre Umgebung weit überragen. Zedern wurden häufig in den Gärten und am Eingang der buddhistischen Klöster gepflanzt und hatten in der buddhistischen Ausbildung ähnlich wie der Bambus eine besondere Bedeutung für das ganz konkrete Hier und Jetzt, aber auch gleichnishaft für die Bedeutung der Buddha-Lehre.

In dem Kloster Tokein in Japan gibt es zum Beispiel vier gewaltige Zedern, die unten am Bach bei der kleinen Steinbrücke stehen, über die man einige Stufen hinauf auf den Vorplatz des Klosters gelangt. Auch in den Wäldern Japans findet sich ein größerer Bestand von Zedern. In Europa gibt es sie überall in südlichen Ländern, sie wachsen aber auch in geschützten Lagen in Deutschland. Weiterhin sind die Zedern in Marokko und im Libanon berühmt. Diese Wälder wurden allerdings stark abgeholzt, weil dieses Holz vielfach verwendet wurde und wird, da es eine besonders hohe Qualität besitzt. Bei alten Bäumen ist der gewaltige Stamm der Zedern unten besonders breit und verjüngt sich nach oben, sodass sich eine Form des ganzen Baumes ergibt, als ob es sich um eine Baum-Pyramide handelt, die im oberen Teil quer stehende Äste trägt, und diese auch im Winter begrünt sind. Beim Anblick alter Zedern hat man in der Tat den Eindruck von auf der Erde fest gewurzelter Kraft, Ruhe und der Dauerhaftigkeit, die natürlich besonders im Winter zu sehen sind, wenn andere Bäume kahl und entlaubt sind.

Die Koan-Geschichten über die Zeder waren im alten buddhistischen China und auch in Japan sehr berühmt und Meister Dôgen erläutert in diesem Kapitel "Die Zeder" (Kap. 35, Hakujûshi) sein Verständnis hierzu und zitiert einige Gespräche berühmter Meister. Er berichtet von dem außergewöhnlichen Meister Joshu, der bereits 61 Jahre alt war, als er sich mit ganzer Kraft entschloss, den Buddha-Weg zu gehen, sich dann dreißig Jahre mit ganzer Hingabe dem Lernen widmete und weitere dreißig Jahre als großer Meister und Lehrer tätig war und wie berichtet wird, zum Kern der Buddha-Lehre vorstieß. Er soll also 120 Jahre alt geworden sein. Von ihm wird berichtet, dass er zu Beginn seines Buddha-Weges und seiner Ausbildung sagte:

"Ich werde diejenigen befragen, die mehr wissen als ich, selbst wenn es sich um ein siebenjähriges Kind handelt. Ich werde diejenigen belehren, die weniger wissen als ich, selbst wenn es sich um einen alten Mann von hundert Jahren handelt."

Damit soll sicher zum Ausdruck gebracht werden, dass er überhaupt nicht nach äußeren Merkmalen oder nach Rang oder Ansehen in der Gesellschaft den Buddha-Weg studieren und lernen wollte, sondern dass er überall auf der Suche nach dem wahren Buddha-Dharma war. Er wollte jederzeit alles, was er wusste und erfahren hatte, an andere weitergeben, wenn dies sinnvoll und für die anderen nützlich war.

Dôgen lobt diesen Meister Joshu sehr, weil er ein großes Beispiel und Vorbild für die Klarheit und Konsequenz des Lernens auf dem Buddha-Weg sei und es auch viele Geschichten und Anekdoten über ihn gibt, die im Zen-Buddhismus große pädagogische Kraft entwickelt haben.
Als er selbst Leiter des Klosters war, verzichtete er auf viele Annehmlichkeiten, um sich in seiner kleinen Schar von Mönchen ganz dem Buddha-Dharma zu widmen. Es wird berichtet, dass es im Kloster manchmal an Nahrungsmitteln mangelte, sodass die Reissuppe immer dünner wurde und immer weniger Reiskörner enthielt. Es fehlte auch an Holzkohle und Feuerholz, sodass bequeme Mönche das Kloster bald wieder verließen, da es als Aufenthaltsort für ein leichtes angenehmes Leben völlig ungeeignet war. Es wird berichtet, dass getrockneter Kuhdung zum Heizen verwendet wurde, weil kein anderes Heizmaterial verfügbar war und dass sich dadurch im Winter ein Geruch von Kuhmist durch die Räume des Klosters zog. Dôgen sagt hierzu:

"Daraus könnt ihr die fleckenlose Reinheit eines Ordens erkennen. Die Spuren (dieser Überlieferung) solltet Ihr heute erforschen und erlernen. Es gab dort wenige Mönche, es heißt, dass dort nicht einmal zwanzig versammelt waren. Das Leben dort war schwer zu ertragen ..., nachts gab es kein Licht und im Winter kein Holzkohlenfeuer."

Da der Meister Joshu auch selbst ein sehr einfaches und bedürfnisloses Leben führte und mit großer Kraft und Klarheit den Buddha-Dharma lehrte, hielten es nur diejenigen Mönche bei ihm aus, die wirklich bis zum Kern der Buddha-Lehre und der Praxis gelangen wollte. Dieser Meister wurde später "Joshu der ewige Buddha" genannt. Ihm waren abstrakte Diskussionen und romantische Träumereien zum Buddhismus völlig fremd. Er versuchte seinen Schülern immer wieder den Weg zur konkreten Wirklichkeit im Hier und Jetzt zu zeigen und sie aus ihren abstrakten, festgefahrenen und „Nestern“ von verengten Denkwelten herauszuholen. Er warnte besonders vor süßlichen Erwartungen zur Erleuchtung und betonte, dass ein erwachter Mensch auch die ganze Breite des Lebens erfährt und daher auch Schwierigkeiten und Probleme zu meistern hat. Das folgende Koan-Gespräch ist besonders berühmt: Eines Tages wurde Meister Joshu von einem Mönch gefragt:

"Was war die Absicht unseres Vorfahren (Meister Bodhidharma), als er vom Westen kam?"
Der Meister antwortete: "Die Zeder im Garten."

Der Mönch war mit dieser Antwort unzufrieden, weil er sich eine schöne, spirituelle und erhebende Belehrung von seinem Meister erhofft hatte und sagte daher:

"Meister belehrt einen Menschen nicht mit einem (materiellen) Ding."
Der große Meister Joshu sagte darauf:
"Ich belehre einen Menschen nicht mit einem (materiellen) Ding."

Der Mönch wiederholte dann seine Frage:
"Was war die Absicht unseres Vorfahren, der vom Westen kam?"
und Meister Joshu antwortete so kurz und knapp wie vorher:
"Die Zeder im Garten."

Wie können wir dieses typische Koan entschlüsseln? Es wurde schon erwähnt, dass Meister Joshu besonders darauf aus war, die Schüler aus dem Bereich der unwirklichen Träume, Fantasien und Wunschbilder herauszuholen, um sie in die Wirklichkeit des Alltags und der Zazen-Praxis zu führen. Zweifellos bemerkte er, dass der Mönch eine hoch spirituelle oder geistige, zumindest aber poetische Belehrung von seinem Meister erwartete und erhoffte und genau dem hat der Meister nicht entsprochen, sondern ihn im Gegenteil auf den Boden der Wirklichkeit im Klostergarten zurückbringen wollen. Aus nur materieller Sicht hat die Zeder natürlich wenig mit den Absichten von Bodhidharma zu tun. Auf der anderen Seite ist bekannt, dass in China in dieser Zeit hoch spekulative und theoretische Diskussionen zur Buddha-Lehre vorherrschten, und dass Bodhidharma durch seine praxisbezogene konkrete Lehre erst den eigentlichen Beginn des Zen-Buddhismus in China markierte.

Danach entwickelte sich nicht zuletzt durch eine Vielzahl hervorragender Meister der Buddhismus sich zu einzigartiger Blüte. Wie es heißt, „gingen die fünf Blütenblätter des Dharma auf und trugen Früchte“. Meister Bodhidharma wollte also sehr wohl aus der spekulativen Theorie herauskommen und genau dies erklärte Meister Joshu seinem fragenden Mönch, aber er sagte damit auch, dass es nicht um die äußere Form und die materielle Sicht dieses Baumes ging, sondern dass die Natur selbst, wie es in einem anderen Kapitel des Shôbôgenzô heißt, den Dharma lehrt, weil alle nicht empfindenden Wesen ihn lehren. Wenn der Mönch die Zeder nur als Ding versteht zeigt dies, dass er in der Trennung von einem subjektiven Ich, das sieht und wahrnimmt und dem Objekt der Zeder, die wahrgenommen wird, verhaftet ist. Dôgen sagt dazu:

„(Bodhidharmas) Absicht vom Westen zu kommen und seine Absicht, Dinge zu benutzen, standen nicht im Gegensatz zueinander. Seine Absicht war auch nicht unbedingt der wunderbare Geist des Nirvanas, die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, denn seine Absicht war jenseits von (Begriffen wie) Geist, Buddha und Ding.“

Damit distanziert sich Dôgen sowohl von einer rein dinglichen Sicht der Welt als auch von einer Welt der Begriffe und Vorstellungen und seien sie noch so hochstehend wie „Geist und Buddha“. Dôgen erläutert dann weiter, dass es genau auf den Augenblick des Fragenden ankommt und was dabei mit geschieht und was er erfährt. Er warnt uns also davor, vorschnell den Mönch zu kritisieren sondern vielmehr seinen Beitrag zu schätzen, dass dieses Koan zustande kam und so viele Suchende gelehrt hat. So hat er zwar mit seiner Frage und seinem mangelnden Verständnis auf der einen Seite sicher einen Fehler gemacht, auf der anderen Seite ermöglichte er aber die pädagogische Kraft dieses Koans durch die Antworten des Meisters. Aus dieser Sicht kann man wirklich überhaupt keinen Mangel daran erkennen. Die ganze Koan-Geschichte muss in dem gegebenen Zusammenhang gesehen werden, und dabei ist nicht die Person des Mönchs maßgeblich, sondern welche Kraft aus dem Gespräch auf uns übergehen kann. Dôgen sagt hierzu:

"Weil der alles umfassende Geist frei von Ablehnung und Zuneigung ist, ist er (wie) die Zeder im Garten. Wenn die Zeder kein Ding wäre, könnte sie keine Zeder sein."

Damit ist klar gesagt, dass auch die materielle und dinghafte Sicht ein Teil der Wirklichkeit ist und dass sie unbedingt erforderlich ist, um überhaupt in der Wirklichkeit zu leben. Aber sie ist nur eine Teilwahrheit und und dies ist auch der Grund, warum eine materialistische Weltsicht den Menschen zwar Bequemlichkeit, aber eigentlich nichts Wesentliches geben kann. Materialistische Menschen veröden im Laufe ihres Lebens und Nishijima Roshi sieht im Materialismus auch nur eine von vier Lebensphilosophien und Lebensformen.
Dôgen zitiert dann eine weitere berühmte Koan-Geschichte wie folgt: Ein Mönch fragte:

"Hat die Zeder die Buddha-Natur oder nicht?"
Der Meister antwortete:
"Sie hat die Buddha-Natur."
Der Mönch fragte dann weiter:
"Wann wird die Zeder ein Buddha?"

Der große Meister Joshu antwortete darauf fast paradox:

"Sie wartet, wenn der Raum auf die Erde fällt."
Der Mönch konnte damit natürlich wenig anfangen und fragte weiter:
"Wann fällt der leere Raum auf die Erde?"
und der Meister antwortete darauf:
"In der Zeit, in der die Zeder Buddha wird."

Wie kann man nun an dieses Koan herangehen? Zweifellos geht es darum, die Bereiche der wirklichen Zeder, der Sein-Zeit und des Augenblicks in der Wirklichkeit miteinander zu verbinden. Dôgen sagt hierzu:

"Der große Meister spricht von dem Augenblick, wenn der Raum auf die Erde fällt und von dem Augenblick, wenn die Zeder ein Buddha wird. Aber er sagt damit nicht, dass die zwei (Augenblicke) aufeinander warten."

Wenn man auf ein großes Ereignis wartet, so sind dies zweifellos Gedanken, Hoffnungen oder Ängste, die sich im Geist und im Gehirn abspielen und dies bedeutet, dass man nicht im Hier und Jetzt, also im Augenblick, wirklich lebt. Dass der Himmel auf die Erde fällt könnte man so interpretieren, dass die materielle Sicht von oben und unten überwunden und dass die übliche Trennung von Himmel und Erde aufgehoben wird.

An anderer Stelle sagte Meister Joshu, dass es zweifelhaft ist, ob alles die Buddha-Natur hat, und er will damit einem bestimmten Mönch helfen, aus seinen spekulativen festgefahrenen Vorstellungen und Gedanken über die Buddha-Natur herauszukommen. In diesem Fall sagt er das Gegenteil, dass die Zeder die Buddha-Natur hat, dass man also die nur materielle Sichtweise erweitern muss, um die Wirklichkeit und die Lehre des Buddha-Dharma einzubeziehen. Erst wenn die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden wird, kann man also das, was mit dem Begriff und der Vorstellung „Buddha-Natur“ bezeichnet wird und was über den Begriff hinausgeht, erleben und erfahren.
An anderer Stelle bezeichnet Dôgen dies als "das Etwas", das sich ereignet und vom Denken nicht erfasst werden kann. Nishijima Roshi interpretiert die Aussage
"wenn der Raum auf die Erde fällt"
als Symbol für die Verwirklichung der Wahrheit und dass die Zeder in dem Augenblick Buddha werden kann, wenn der Mönch die Wahrheit selbst verwirklicht.
Dôgen fordert uns dann wie in vielen Kapiteln auf, uns selbst Fragen zu stellen und uns nicht einfach mit dem von ihm Gesagten zufriedenzugeben. Er erläutert zum Koan weiter:

"Joshus Aussage, dass die Zeder die Buddha-Natur hat (geht der Frage auf den Grund), ob eine Zeder wirklich ist oder nicht und ob die Buddha-Natur wirklich ist oder nicht."

Er will damit also sagen, dass die Zeder dann Buddha wird, wenn wir Menschen die Wahrheit verwirklicht haben und dann fällt der „Raum auf die Erde“, weil die üblichen physikalischen Dimensionen und die materielle Sicht der Welt verlassen werden. Die materielle Sicht der Zeder ist jedoch nicht grundlegend falsch, sondern sie ist nur eindimensional und kann die umfassende, alles einschließende Wirklichkeit nicht erkennen und schon gar nicht erfahren.

Dienstag, 27. November 2007

Der Geist der großen Meister, die ewige Buddhas sind

In dem Kapitel "Der Geist der ewigen Buddhas" (Kap. 44, Kobusshin) fasst Dôgen viele Bereiche der großen buddhistischen Lehre des Shôbôgenzô verhältnismäßig kurz aber sehr aussagekräftig zusammen.

Datong, großer Buddha


Seine hohe Verehrung für die alten großen Meister in Indien und in China, die er häufig die „ewigen Buddhas“ nennt, kommt hier besonders klar zum Ausdruck. Er erläutert eindeutig, dass der Begriff "Geist" nicht ohne den Körper und auch nicht ohne die vielen Dinge in der Welt verstanden werden darf. Sowohl in Deutsch als auch allgemein in westlichen Sprachen denkt man bei dem Wort „Geist“ schnell an etwas Unkörperliches und nicht Materielles, da wir die grundsätzliche Unterscheidung von Körper und Geist in unserer Kultur stark verinnerlicht haben. Auch der englische Begriff "mind" wird meist als Gegensatz zum Körperlichen und Dinglichen verstanden. Demgegenüber gibt es im Buddhismus eine solche grundsätzliche Trennung nicht, und Nishijima Roshi erklärt dies so, dass wir im Westen nur das Ideelle des Idealismus als Geist verstehen und von dem Körperlichen und Form-Gebundenen des Materialismus abgespalten haben und dass eine solche Spaltung nunmehr im 21. Jahrhundert wirkungsvoll überwunden werden kann und muss.
Der Geist der alten großen Meister und Vorfahren im Dharma ist ganzheitlich zu verstehen und umfasst mehr als nur das Denken und die Wahrnehmung durch unsere sinnesgebundenen Organe wie Augen, Ohren, und das Tasten, Schmecken usw.
Zunächst betont Dôgen die lebendige Ader der Übertragung im Buddhismus von einem großen Meister, den er als ewigen Buddha bezeichnet, zum anderen. Er sagt:

"Die Dharma-Weitergabe der alten Meister umfasst vierzig Vorfahren, wenn wir die sieben Buddhas einbeziehen, bis zu Meister Daikan Enô und umfasst auch vierzig Buddhas, wenn wir von Daikan Enô zurück bis zu den sieben Buddhas gehen."

Diese lebendige und authentische Weitergabe der Buddha-Lehre von einem Meister zum nächsten hat im Buddhismus eine ganz große Bedeutung. Es geht dabei um die Einheit des Meisters und des Schülers, der danach selbst Meister wird. Dies vollzieht sich in einem lebendigen, ganzheitlichen Vorgang und im gegenwärtigen Augenblick des Hier und Jetzt bei der Übertragung. Dabei hat jeder Meister selbstverständlich auch seine Besonderheiten, weil er eben auch ein wirklicher Mensch ist. Dôgen sagt hierzu:

"Da Daikan Enô dieselbe Tugend (wie die sieben Buddhas) hatte, hat er den authentischen Dharma von den sieben Buddhas empfangen und er hat ihn von sich selbst empfangen und an die späteren Buddhas weiter gegeben."

Dieser Augenblick des Empfangens und der Weitergabe des wahren Dharma ist nach Dôgen nicht mit den Vorstellungen der linearen Zeit des Vorher und Nachher sowie der Vergangenheit und der Zukunft zu erfassen. Vielmehr findet dies unmittelbar in der Sein-Zeit statt, die in Kapitel 11 (Uji) des Shôbôgenzô tiefgründig aufgezeigt und erläutert wird. Im Buddha-Dharma und im Zazen empfängt man das Selbst, das aber nicht mit dem abgegrenzten Ich verwechselt werden darf und benutzt es, indem man handelt und sich dadurch aktiv verwirklicht.
Es wird dann erläutert, wie die großen Meister sich aufeinander beziehen, sich als Einheit verstehen und die Anwesenheit der anderen Meister trotz der zeitlichen Trennung von manchmal vielen Jahrhunderten erleben. Obgleich die alten Meister „körperlich“ nicht mehr anwesend sind, gibt es eine lebendige, gegenwärtige und unverzichtbare Gemeinschaft.
Hierzu sind Aussprüche vieler großer Meister überliefert. Z. B. zitiert Dôgen seinen eigenen Lehrer Tendo Nyojô mit den Worten:

"Ich begegne Wanshi, dem ewigen Buddha."

Meister Wanshi lebte aber etwa einhundert Jahre vor Tendo Nyojô, ist also gar kein Zeitgenosse von ihm. Weiterhin wird die gegenseitige große Hochachtung der Meister und ewigen Buddhas füreinander mit klaren Worten betont. Besonders wenn sie in derselben Zeit lebten, gab es sehr enge Verbindungen zwischen ihnen und sie lernten voneinander in direktem Austausch oder auch über Mönche, die von einem zum anderen wanderten und von den anderen großen Meister berichteten. Eine solche fruchtbare Wechselwirkung kommt nach Dôgen dann zustande, wenn die Meister je am lebendigen Buddha-Dharma teilhaben und sich daher umfassend intuitiv verstehen können. Dôgen rät uns:

"Ihr solltet die Lebzeiten eines ewigen Buddhas erfahren und erforschen"
,
und er meint damit, dass wir uns nicht mit einem vordergründigen Verstehen zufrieden geben sollen und dass wir uns nicht nur in schöne romantische Stimmungen über die alten großen Meister versetzen sollten, sondern wirklich eine intuitive Einheit mit ihnen anstreben und verwirklichen. Ein von Dôgen hoch verehrter Meister, der Nachfolger von Daikan Enô war und Landesmeister genannt wurde, antwortete auf die Frage eines Mönchs, was der Geist der ewigen Buddhas sei:

"Die Zäune, Mauern, Ziegel und Kieselsteine."

Dieser berühmte Ausspruch beschreibt die umfassende Wirklichkeit der Dinge und Phänomene dieser Welt und soll klären, dass wir uns nicht den Geist der ewigen Buddhas als etwas Immaterielles und nur Ideelles vorstellen sollen. Dôgen vergleicht dies mit dem "Öffnen der Blumen", also der Entfaltung der buddhistischen Lehre in der Welt, die häufig durch diesen Ausdruck bezeichnet wird. Er sagt weiterhin:

"Ferner mag es noch den ewigen Geist geben, der Buddha praktiziert, den ewigen Geist, der Buddha erfährt, den ewigen Geist, der Buddha wird und es mag sein, dass das ewig Zeitlose eines Buddhas das Wirken dieses Geistes ist."

Der Begriff "Geist" ist hier wieder umfassend zu verstehen und schließt alles mit ein. Dies wird durch die Aufzählung der Praxis des Erfahrens und des Buddha-Werdens im obigen Zitat gekennzeichnet. Praktizieren und Erfahren sind nach westlicher Vorstellung häufig der Gegensatz zum denkenden Geist, der meist mit dem Denken und Bewusstsein gleichgesetzt wird. In diesem Kapitel wird ähnlich wie in der zentralen Aussage: "Geist hier und jetzt ist Buddha", die Einheit von Denken und Bewusstsein, Materiellem und Körperlichem, Handeln und Erfahren mit dem höchsten Zustand des Erwachens und der Erleuchtung herausgearbeitet. Dieser höchste Zustand geht vor allem über das Denken und die übliche Wahrnehmung hinaus. Dôgen zitiert dabei den berühmten Ausspruch:

"Es ist unmöglich einen Menschen zu finden, der den Buddha-Dharma versteht, selbst wenn wir ihn auf der ganzen Erde suchen."

Das Verstehen muss also zur Intuition im Sinne des Buddha-Dharma erweitert werden, das alles einschließt, um den hier gemeinten Geist zu bezeichnen.
Die Aufzählung von Zäunen, Mauern, Ziegeln und Kieselsteinen wird häufig nur in zwei Sichtweisen verstanden: Einerseits aus der subjektiven Sicht, zum Beispiel des Beobachtenden oder Denkenden und andererseits aus der objektiven Sicht, dass nämlich diese Zäune, Ziegel usw. materiell vorhanden sind. Dôgen macht noch einmal deutlich, dass weder die subjektive noch die objektive Sichtweise ausreichend ist, und dass auch deren Kombination die Wirklichkeit und Wahrheit der buddhistischen Lehre nicht erfassen kann.
Am Ende dieses Kapitels warnt uns Dôgen noch einmal, die Welt zu idealisieren und uns in einen paradiesischen Zustand hineinzuträumen. Er zitiert ein Gespräch eines Mönchs mit einem großen alten Meister wie folgt: Der Mönch fragte:

"Was ist der Geist der ewigen Buddha?" Der Meister antwortete darauf fast unverständlich:
"Die Welt ist zertrümmert." Der Mönch fragte weiter:
"Was geschieht, wenn die Welt zertrümmert ist?" und der Meister antwortete:
"Wie wäre es möglich, ohne meinen Körper zu sein?"

Dass die Welt zertrümmert ist oder zusammenbricht, soll sicher bedeuten, dass es nach wie vor auch für die großen Meister keine heile Welt oder das reine Paradies auf dieser Erde gibt, sondern dass es auch immer Zerstörung und teilweisen Untergang gibt. Durch den ewigen Geist der Buddhas bekommt eine solche Zerstörung jedoch eine neue heilende Qualität, sie wird so gesehen, wie sie ist, ohne dass die übliche Panik und die großen Ängste ausbrechen und uns in die Verzweiflung werfen. Dass in der Welt etwas zusammenbricht, wird von uns häufig mit dem Körperlichen und Materiellen in Zusammenhang gebracht. Wie schon in den anderen Zitaten ist der Körper und die Form aus Dôgens Sicht Teil des Geistes der ewigen Buddhas und kann daher keineswegs als minderwertig oder unwesentlich bewertet werden.

Bekanntlich neigen idealistische Menschen dazu, den Körper und die materiellen Gegebenheiten der Welt als weniger wichtig oder sogar als kaum existent einzustufen und sie träumen sich gern in eine ideale Welt ohne Probleme und ohne Zusammenbrüche hinein. Dies vergrößert aber nach der buddhistischen Lehre ihr Leiden, da sich die Spannung zwischen Wirklichkeit und Ideal immer mehr vergrößert und man unter der Wirklichkeit immer mehr leidet und dazu neigt, aus ihr zu entfliegen. Eine solche Flucht aus der Wirklichkeit schlägt dabei immer auf den Menschen selbst zurück und ist überhaupt keine dauerhafte Lösung, um mit den Problemen der Welt fertig zu werden. Der Körper sollte aber auch nicht egoistisch für die eigenen Vorteile verwendet werden, sondern zum Beispiel im Bodhisattva-Handeln und im Einklang mit Moral und Ethik verwirklicht werden. Dôgen sagt schließlich:

"So blühte der Geist der ewigen Buddhas und nach allen Buddhas trug er seine Früchte."

Dienstag, 20. November 2007

Goethes Faust und die vier Lebensphilosophien des Buddhismus

Tempelwächter in Datong

Bei einem kürzlichen Besuch in Tokyo erklärte mir Nishijima Roshi , dass er Goethes Faust außerordentlich schätzt und dass er in seiner ersten größeren Veröffentlichung im Jahr 1975 beschrieben hat, wie er die vier buddhistischen Lebensphilosophien aus dem großen Werk die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges (Shôbôgenzô) von Dôgen in Goethes Faust wieder entdeckte. Goethe ist in der Tat ein ganz außergewöhnlicher Mensch, Handelnder, Dichter und wenn man so will, auch Philosoph des Westens, der sich kaum in eine der Hauptströmungen des westlichen Geistes und insbesondere der Philosophie einordnen lässt. Es ist sicher bekannt, dass Goethe im Japan der heutigen Zeit eine ganz hohe Wertschätzung entgegen gebracht wird und dass vor allem der „Faust“ wohl zu den bekanntesten Werken der westlichen Dichtung zählt. Nishijima Roshi sagte mir auch, dass er mit seinen Deutsch-Kenntnissen den Faust in deutscher Sprache gelesen habe, und ich ihm daher eine CD besorgte, in die er regelmäßig hineinhört.
Goethe war zweifellos ein umtriebiger Mensch, Dichter und Denker, der auch in der praktischen Politik als Minister Verantwortung trug und sich außerordentlich für Naturwissenschaften interessierte und durch damals extreme Naturerlebnisse, wie zum Beispiel die Besteigung des Brockens im Harz, bekannt wurde. Er hat zeit seines Lebens am Faust gearbeitet und umformuliert und seine verschiedenen Lebensphasen dort eingebracht. Bevor wir auf die von Nishijima Roshi herausgearbeiteten vier Lebensphilosophien aus dem Shôbôgenzô eingehen, wollen wir uns noch einmal kurz den Inhalt des Faust vergegenwärtigen.

Ganz zu Anfang äußert Goethe seine Zurückhaltung gegenüber Worten, denn er verwirft den Satz: "Am Anfang war das Wort" und sagt stattdessen: "Am Anfang war die Tat." Er setzt sich damit ganz deutlich von der Wortgläubigkeit mancher Religionen ab, die den religiösen Inhalt z. T. zurückstellen und die Worte selbst als Heiligtum ansehen. Wenn man bedenkt, dass die aufgeschriebenen Texte meist zunächst mündlich überliefert wurden und dann von autorisierter Stelle oft nach mehrfachen Übersetzungen aus verschiedenen Sprachen in eine kanonisierte Form gebracht wurden, sind in der Tat erhebliche Zweifel anzumelden, ob die Worte allein den religiösen, spirituellen Inhalt übermitteln können.
In Goethes Faust kommt dann die berühmte Stelle:

"Habe nun, ach! Philosophie
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert mit heißem Bemühn.
Da steh´ ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor."


Damit erteilt Goethe dem theoretischen Wissen und auch der Theologie eine deutliche Absage und sagt im Kern, dass man durch Ideen und Gedanken nicht zur Wahrheit vorstoßen kann und dass selbst eifriges und unaufhörliches Studieren der Schriften und Theorien nicht viel weiter hilft. Er sagt damit im Klartext, dass man durch Denken, Philosophie und die Sprache allein die Wirklichkeit nicht erfassen kann, so nützlich diese Bereiche auch sein mögen. Goethes Faust beschäftigt sich dann auch nicht weiter mit Theorien und Philosophien, sondern will diesen staubigen Bereich der Studierstube verlassen, um ins volle Menschenleben ein zu treten.

Durch den Pakt mit dem Teufel lässt er sich dann bekanntlich verjüngen und begegnet bald der schönen und für ihn außerordentlich attraktiven jungen Frau, nämlich Gretchen. Damit beginnt eine leidenschaftliche und „wilde“ Liebesbeziehung zwischen zwei doch sehr verschiedenen Menschen. Faust mit seinem gewaltigen Fundus an Wissen und seiner Fähigkeit der schöpferischen Sprachgestaltung auf der einen Seite und Gretchen in ihrem täglichen Arbeitsablauf und der einfachen Lebendigkeit des Alltags. Diese Phase im Leben von Faust gehört also der sinnlichen Welt, der Freude an der Sexualität, der Liebe, des Schönen und überhaupt an der lebendigen Vielfalt des pulsierenden Lebens. Sie bewundert die geistige Kraft und das großartige Wissen von Faust, und er bewundert ihre einfache Klarheit und Schönheit des Lebens ohne äußeren Glanz und äußeren Reichtum und erkennt in der eigentlich ärmlichen Umgebung ihres Lebens so viel Fülle und Schönheit. Die sinnliche Welt wird also keineswegs nur durch Reichtum und äußeren Glanz in einer materialistischen Oberflächlichkeit gezeigt und dargestellt, sondern mit großer menschlicher Tiefe und Fülle.

Die Phase der Sinnlichkeit endet bei Faust bekanntlich damit, dass Gretchen das ihr anvertraute Kind versehentlich vergiftet, um sich der Liebe mit Faust hinzugeben und gemeinsam die Welt der Sinne zu genießen. Wir wissen, dass Goethe tief von einer solchen dramatischen Entwicklung mit schlimmem Ausgang durch einen damals laufenden Prozess gegen eine junge Frau ergriffen war und ihn dieses Schicksal außerordentlich bewegte. Faust versucht dann noch Gretchen mithilfe des Teufels aus dem Kerker zu befreien, aber Gretchen lehnt dies ab, weil ihr Faust unheimlich geworden ist und sie sagt, dass sie sich vor ihm graut. Ganz offensichtlich will Goethe mit dieser zweiten Phase im Leben des Faust sagen, dass auch die Sinnlichkeit des Lebens nicht zur Wahrheit und Wirklichkeit hinführt und dass es sehr leicht passieren kann, dass sich das Leben der Betroffenen auf Katastrophen zubewegt, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.

So kann man vielleicht das Gleichnis des getöteten Kindes auch als die vergebliche Hoffnung interpretieren, durch die Sinnlichkeit, also durch äußere Form und Schönheit zur Wahrheit vorzustoßen. Dieses Kind ist genau dadurch gestorben, dass vielleicht zu viel Raum für die Sinnlichkeit geschaffen werden musste, und es durch eine überhöhte Dosis von Schlafmitteln ruhig gestellt werden sollte.
Faust tritt dann in eine nächste Lebensphase ein und gewinnt durch aktives und schöpferisches Handeln große Macht und großen Reichtum. Damit ist er in die Phase des Tuns oder wie Goethe es am Anfang nennt, der „Tat“, eingetreten. Faust übernimmt damit Verantwortung für viele Menschen, die in seinem Herrschaftsbereich leben und schafft durch seine Tatkraft und sein schöpferisches Unternehmertum große Werte, die nicht nur für ihn, sondern auch für andere Menschen wichtig und notwendig sind und nicht zuletzt deren Lebensgrundlage bilden. Nach der Lebensphase des Denkens und der Sinnlichkeit zeigt uns Goethe also die Höhen und Tiefen, die Möglichkeiten und Abgründe und das ganze bunte Durcheinander des Handelns in der mittleren Lebensphase des Menschen. Faust wird in dieser Phase auch von großem Ehrgeiz erfasst und vergisst teilweise seine Menschlichkeit und Humanität, indem er zum Beispiel das friedliche alte Ehepaar Philemon und Baucis von ihrem kleinen Besitz vertreiben will, um diesen in sein großes Reich eingliedern zu können, weil es dort angeblich noch fehlen würde.
Am Ende wird Faust trotz oder wegen seines pulsierenden, turbulenten Lebens erlöst, denn er hört die Stimme:

"Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen."

Goethe will damit offensichtlich sagen, dass wir uns mit vorschneller Kritik zurückhalten müssen, selbst wenn in der Phase der Sinnlichkeit und der Schaffensperiode böse Fehler und Vergehen passieren und sich der Mensch nach landläufiger Vorstellung "schuldig macht."
Ich erinnere mich an meinen Deutschunterricht in der Schule, in dem wir den Faust "durchgenommen" haben und unser Deutschlehrer damals versuchte, uns den Inhalt klarzumachen oder besser gesagt, seine Interpretation des Faust vortrug.

Er war ein äußerlich eher zurückhaltender und bescheiden auftretender Lehrer, der allerdings bei uns Schülern leider kein hohes Ansehen genoss. Er gab grundsätzlich verhältnismäßig schlechte Zensuren, ließ sich aber zum Teil nach längeren Diskussionen mit den jeweils betroffenen Schülerinnen und Schülern darauf ein, die Zensuren zu verbessern. Dies hat natürlich nicht dazu beigetragen, sein Ansehen zu verbessern. Manche staunten dann allerdings, als sie ihre schlechten Abitur-Noten in Deutsch sahen, denn nun war nichts mehr zu machen. Ich gehörte übrigens auch dazu. Er war fest im protestantischen Christentum verwurzelt und hatte sicher die besten Absichten, Ideale und Vorstellungen vom Leben und seiner Tätigkeit als Lehrer.

Aber Schülerinnen und Schüler der Oberstufe in der Umbruchzeit nach dem zweiten Weltkrieg ließen sich nicht so leicht irgendwelche schönen Sprüche und Ansichten ohne Widerspruch vorlegen, denn sie hatten als Kinder noch die gewaltigen Propagandasprüche des Faschismus und Nationalsozialismus in den Ohren und trauten auch vielen Aussagen des Christentums nur in recht begrenztem Umfang. Viele von uns hatten noch mit den Resten der Munition aus dem zweiten Weltkrieg gespielt und waren ohne Vater aufgewachsen, weil diese im Krieg umgekommen oder verschollen waren. Wir hatten schon als Kinder Tod, Vertreibung und Katastrophen kennen gelernt.
Wir kommen nun zu dem berühmten Pakt des Fausts mit dem Teufel, in dem es heißt, dass der Teufel die Seele endgültig behält, wenn Faust folgendes sagt:


"Werd´ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!"


In unserem Deutschunterricht wurde dies so interpretiert, dass Faust in seinem ganzen vielfältigen pulsierenden Leben keinen einzigen Augenblick erlebt hatte, der so schön war, dass er ihn festhalten wollte und zu diesem Augenblick gesagt hätte: „verweile doch, du bist so schön“. Das Resümee wäre also, dass das ganze Leben wie es Faust exemplarisch für die Menschen gelebt hatte, keine schönen Augenblick aufweist. Sein Leben ging durch große Höhen und Tiefen, denn zunächst war er ein berühmter Wissenschaftler und Philosoph, dann hatte er eine tief gehende Liebesbeziehung und wurde ein mächtiger Politiker und Wirtschaftskapitän. Dass ein solches Leben keinen einzigen Augenblick hoher Qualität enthält, zu dem man sagen könnte, „Augenblick du bist so schön“, bleibe noch eine Zeit lang bestehen, ist sicher sehr unwahrscheinlich. Der Pakt könnte also bedeuten:

„Wenn ich nur einmal in meinem ganzen Leben einen solchen Augenblick genießen dürfte, dann bin ich bereit, meine Seele dem Teufel zu übergeben.“

Aber einen solchen Auzgenblick soll Faust angeblich niemals erlebt haben. Es wird deutlich, dass dies ein ausgesprochen pessimistisches, um nicht zu sagen depressives Weltbild ist, in dem Philosophie, Sinnlichkeit, Handeln und Tatkraft so gering geschätzt werden, dass sich kein einziger schöner Augenblick ergeben kann.
Am Schluss wird Faust dennoch durch den Engel mit den Worten:

"Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen"


aus den Fängen des Teufels befreit. Allerdings bin ich mir überhaupt nicht sicher, ob unser damaliger Deutschlehrer dem wirklich zugestimmt hätte. Aus seiner Sicht muss das Leben von Faust weitgehend fehl gelaufen sein. Er selbst würde vermutlich ein frommes Dasein und ein stilles und unauffälliges Leben abseits von den Pulsschlägen der Welt und des Lebens vorgezogen haben. Sicher hat ihn auch gestört, dass im ganzen Faust die christliche Religion nur eine geringe Rolle spielt und dass ganz am Anfang die Theologie sogar als inhaltsleer und letztlich sinnlos abgelehnt wird.

In dieser negativen Interpretation des Faust, in der es keinen einzigen schönen Augenblick gegeben haben soll, ist allerdings doch die „Lebensphilosophie“ des Augenblicks grundsätzlich anerkannt worden. Das verblüfft wirklich! Es ist also ein ganz besonderes Verständnis der Zeit erkennbar, denn es wird nicht auf eine Zeitstrecke, sondern eben auf einen Augenblick abgehoben. Schon wenn es einen einzigen schönen Augenblick gäbe, und dies müsste ja eigentlich in einem weit ausgreifenden, pulsierenden Leben möglich sein, bekommt der Teufel die Seele des Menschen. So wird zwar der Ansatz des wichtigen Augenblicks anerkannt, aber es soll keinen schönen Moment im Leben geben, der sich lohnen würde. Wenn man einmal von dem spezifischen Pakt zwischen Faust und dem Teufel absieht, kann es wohl kaum eine Weltanschauung geben, die einen größeren Pessimismus enthält, so düster ist und von einem wirklich freudlosen Dasein kündet. Dies kann aber nicht im Sinne von Goethe sein.

Im Faust ist es Tatsache, dass der Teufel die Seele nicht bekommt, obgleich man sicher feststellen kann, dass Faust in seinem vielfältigen Leben so manche moralisch bedenkliche Tat begangen hat und dass sein Handeln immer wieder für andere Menschen große Probleme und sogar Katastrophen herbeigeführt hatte. Wollte Goethe damit zum Ausdruck bringen, dass ein solches turbulentes Leben letztlich nicht moralisch verurteilt werden kann? Dachte er möglicherweise dabei auch an sein eigenes Leben, das ja durchaus ähnliche Bereiche durchlaufen hatte?
Wir wollen noch einmal den Satz genau untersuchen: "Augenblick verweile doch, du bist so schön". Wenn man ihn mit denselben Worten etwas anders gliedert, kann man sagen:

"Augenblick, du bist so schön, verweile doch."

Da aber ein Augenblick bekanntlich niemals verweilen kann, ist es also unmöglich, dass er überhaupt fortdauert. Denn dies ist genau sein typisches Kennzeichen, weil es sich nicht um eine Zeitstrecke, sondern eben nur um einen Augenblick in der Gegenwart handelt. Man kann also auch sagen, der Augenblick ist schön aber es liegt in seiner Natur, dass er nicht verweilen kann, denn sonst wäre es ja auch kein Augenblick sondern eine Zeitdauer. In diesem Fall hätte der Faust den Teufel ganz cool überlistet, denn er konnte viele schöne Augenblicke in seinem Leben haben und hat diese sicher auch genossen, aber der Teufel konnte seine Seele nicht erobern, weil diese Augenblicke von Natur aus gar nicht andauern konnten, also niemals verweilen würden. Faust hätte mit dieser Klugheit und tiefen Lebensweisheit das Böse also ausgetrickst, weil der Teufel an die Dauerhaftigkeit der Zeit glaubte und Faust wusste und erfahren hatte, dass das Leben immer nur aus Augenblicken besteht, und dass wir nur je im Augenblick die Wirklichkeit, Wahrheit und Schönheit des Lebens, der Welt und des Universums erleben und erfahren können.

Nishijima Roshi hat mir seine Interpretation genau so erläutert. Sie hat damit eine weitgehende Übereinstimmung mit Dôgens vier Phasen der menschlichen Entwicklung, die sich wie folgt gliedern:

1. Ideen, Glauben, Gedanken, Denken, Theorie aber auch Ideologien, Sekten, usw. In den Idealen sind zwar moralische Ziele enthalten, die jedoch kaum in die Wirklichkeit umgesetzt werden können, denn sie sind nur im Geist.

2. Wahrnehmung, Naturwissenschaft, sinnliche Genüsse, sich dem Genuss hingeben, Schönheit der äußeren Formen und Farben, materielle Vorteile, also materielles Genuss, aber auch Gier, Egoismus und Oberflächlichkeit.

3. Handeln, Aktivitäten, schöpferisches Schaffen, Aufbauen, Einheit von Körper und Geist im Handeln und Überwinden der gedachten Trennung von Subjekt und Objekt.

4. Höchster Lebenszustand, intuitive Weisheit, intuitive Entscheidungskraft und moralisch richtiges Handeln im Hier und Jetzt. Dies ist die Sein-Zeit des Augenblicks, die den Menschen die höchste Erfüllung und die größte Lebensfreude bringt. Im Buddhismus wird dies als Erwachen, Erleuchtung, Gleichgewicht oder Leerheit bezeichnet.

In der Tat sind die Ähnlichkeiten mit dem Lebensablauf in Goethes Faust verblüffend. Wir können annehmen, dass Goethe noch keine Kenntnis der buddhistischen Lehre hatte. Zwischen Europa und dem damals überwiegend buddhistischen Indien und Afghanistan war nach der Antike die Verbindung abgerissen und unterbrochen. Die Renaissance, die Goethe so viel bedeutete, bezog sich auf die griechische und römische Antike und hatte keinen erkennbaren Bezüge zum buddhistischen Indien. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in kleineren, oft esoterischen Kreisen, eine Renaissance der indischen Kultur und auch die ersten Übersetzungen der buddhistischen Lehre, zum Beispiel das großartige Werk von Karl Eugen Neumann „Die Reden Gotama Buddhos“. Diese Texte wurden gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Pali übersetzt und können zumindest im deutschen Sprachraum, als die ersten verlässlichen Basistexte des Buddhismus angesehen werden.

Wesentliche Fortschritte ergaben sich zum Beispiel durch den Philosophen Herrigel, der mit seinem Büchlein "Die Kunst des Bogenschießens" im 20. Jahrhundert eine große Breitenwirkung erreichte. Interessanterweise gibt Herrigel in seiner Literaturliste jedoch das große Werk „Die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges“ (Shôbôgenzô) von Dôgen nicht an und es scheint so, dass er dieses Werk überhaupt nicht kannte. Gleichwohl werden seine Beschreibungen des Zen-Buddhismus auch von den meisten Japanern sehr geschätzt. Dies nicht zuletzt, weil er in den verschiedenen Phasen, in denen er die Kunst des Bogenschießens erlernt, die typische Lebensform des japanischen Buddhismus schildert, und weil er diese auch selbst erfahren hat.

Selbst ein kritischer Geist tut sich meines Erachtens schwer, die Analogie von Goethes Faust und der im Buddhismus formulierten Wahrheit der vier Lebensphasen oder Lebensphilosophien einfach abzulehnen. Eine Falsifizierung ist daher kaum möglich. Umgekehrt sind die Parallelen und Ähnlichkeiten in der Tat verblüffend, vor allem weil wir davon ausgehen können, dass keine kulturellen und kommunikativen Brücken zwischen dem damaligen Europa und dem ostasiatischen Buddhismus bestanden. Daher bleibt uns nur der Schluss, dass Goethe als Geistes- und Lebensgenie zu einer ähnlichen Wahrheit vorgestoßen ist, die in Indien vor ca. 2500 von Gautama Buddha gefunden und formuliert wurde und die später nach Ostasien, also China, Japan und Korea, gekommen ist.

Montag, 19. November 2007

Der Alltag im Hier und Jetzt


Die Übereinstimmung von buddhistischer Lehre und buddhistischem Handeln ist im Shobogenzo von Meister Dôgen ein häufig wiederkehrendes und ganz zentrales Thema. Wenn sich religiöse und spirituelle Verkrustungen entwickelt haben, ist eine solche Übereinstimmung von Lehre und Handeln kaum noch möglich.

Auch der ostasiatische Buddhismus ist in der Tat nicht frei davon, dass äußerliche Zeremonien und bis ins Feinste festgelegte Handlungsabläufe sich verselbständigen und vom religiösen wirklichen Erleben abtrennen. Eine ähnliche Fehlentwicklung kann leicht entstehen, wenn asketische Bestrebungen überhandnehmen und extreme Beanspruchungen des Menschen eine scheinbare Dichte und Kraft des Erlebens und Erfahrens signalisieren, aber in Wirklichkeit keine lebendige innere Freude, Kraft und Klarheit vorhanden ist. Deshalb stellt Meister Dôgen die Bescheidenheit und Einfachheit auch so sehr in den Mittelpunkt und warnt uns immer wieder vor Ruhm und Selbstgerechtigkeit und aufgeblasenem Verhalten, und sei es durch perfektes Beherrschen von Ritualen.

In diesem kurzen, aber wichtigen Kapitel (Kap. 64, Kajo) erläutert Dôgen im Einklang mit seinem eigenen Lehrer Tendo Nyojô die Bedeutung des täglichen Handelns, die vom Buddha-Dharma durchdrungen ist und mit der großen Ruhe und Klarheit des buddhistischen Gleichgewichts vollzogen wird. Dieses Gleichgewicht wird bekanntlich bei der Zazen-Praxis im Hier und Jetzt besonders gut erlernt und strahlt dann auf unser ganzes Leben, also auch auf unseren Alltag, aus. In einem solchen freudigen und klaren Gleichgewicht bekommt jedes Handeln im Alltag gewissermaßen einen neuen Glanz und eine neue Tiefenschärfe und offenbart uns zugleich das Wunder der Menschen, Natur, der Welt und des Universums. Wir mögen es vielleicht zunächst seltsam finden, dass Dôgen hier sagt, der Buddha-Dharma sei die Verwirklichung beim „Teetrinken und Essen der Mahlzeiten“, also bei Handlungen des Alltags im Leben der Menschen. Er zitiert einen alten Meister:

"Der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ist wie der tägliche Tee und die Mahlzeiten. Gibt es außerdem noch etwas anderes, mit denen die Buddhas und Vorfahren die Menschen lehren oder nicht?"

Diese Lehren finden meist ohne Worte statt, aber sie werden über die alten Meister berichtet und in so fern ist die Sprache wiederum erforderlich, um solche Lehrinhalte überhaupt weiter zu geben. Dôgen sagt dazu wörtlich:

"Daher solltet Ihr darauf vertrauen, dass der Sinn der Worte der Buddhas und Vorfahren ihr täglicher Tee und ihre Mahlzeiten sind und Ihr solltet dies bewahren. Die Buddhas und Vorfahren bereiteten den Tee und die Mahlzeiten und der Tee und die Mahlzeiten tragen und erhalten die Buddhas und Vorfahren. "

Dôgen betont immer wieder, wie wichtig das Handeln selbst ist, sodass er auch hier hervorhebt, dass sich der Buddha-Dharma verwirklicht, wenn wir Tee trinken und Mahlzeiten essen. Indem er diese Aussage auch umgekehrt verwendet, sagt er, dass der Buddha-Dharma auch davon getragen wird, dass wir gemeinsam Tee trinken und gemeinsam essen und in eine Gesamtsituation der Klarheit und Lebensfreude eingebettet sind, die Dôgen an anderer Stelle als das "Etwas" bezeichnet. Wir können daher auch sagen, dass sich das Teetrinken ereignet und das "Etwas" dabei vorhanden ist, wenn wir unsere Mahlzeiten im Sinne der buddhistischen Lehre zu uns nehmen. Diese einfachen Handlungen strahlen Ruhe und Zufriedenheit aus, sind nicht von Gier, Ungeduld und Hektik gesteuert, sondern es ist einfaches Handeln je im Hier und Jetzt.
Er berichtet von seinem eigenen Meister Tendo Nyojô, der gefragt wurde:
"Was ist etwas Wunderbares? " und dieser antwortete:

"Es sind meine Essschalen aus (meinem früheren Kloster Joji), die ich jetzt in diesem (Kloster) Tendo zum Essen benutze.“

Dôgen sagt dazu:
"Es ist für jeden Menschen wunderbar, die Mahlzeiten zu essen. Allein auf dem großen und erhabenen Berg (eines Klosters) zu sitzen, ist also nichts anderes als eine Mahlzeit zu essen."

Man muss wissen, dass die Klöster im alten China meistens in besonders schönen Landschaften im Gebirge standen und man sicher leicht ins Schwärmen kommen konnte, dort auf einem erhabenen Gipfel des Berges zu sitzen, die Täler und Flüsse unter sich zu sehen und sich von romantischen Gefühlen forttragen zu lassen. Dies ist aber keineswegs ganz im Sinne von Meister Dôgen, der immer wieder auf das einfache Handeln im Hier und Jetzt zurückkommt und in diesem Kapitel über den Alltag herausarbeitet, dass der Buddha-Dharma Teetrinken und das Einnehmen von Mahlzeiten ist und darin eine tiefe Befriedigung liegt. In dem täglichen Handeln des Alltags, wenn wir uns waschen, wenn wir essen, wenn wir Tee trinken usw. kann eine ausgezeichnete Schulung zur Einfachheit und Ehrlichkeit enthalten sein. Dôgen zitiert hier wieder seinen eigenen Meister:

"Wenn der Hunger kommt, esse ich und wenn die Müdigkeit kommt, schlafe ich. Der Schmiedeofen (einer solchen Praxis) reicht bis zum Himmel."

Er beschreibt also die Übung im Alltag als einen Schmiedeofen, in dem das Metall so weit erhitzt wird, dass es geschmiedet werden kann und zu einem Gebrauchsgegenstand oder einem Kunstwerk umgeformt wird. An anderer Stelle wird das Beispiel des Metalls z. B. verwendet, um den ewigen Spiegel (intuitiver Geist) zu schmieden oder eine Statue Buddhas herzustellen. Damit werden bei Dôgen hier nicht die rituellen Handlungen, das Zitieren heiliger Verse oder die Konzentration auf ein religiöses Bild in den Mittelpunkt des Buddha-Dharma gerückt, sondern das Handeln des Alltags wird als Schmiedeofen auf dem Buddhaweg bezeichnet. Das ist in der Tat verblüffend einfach, zumindest auf den ersten Blick.
Dass man schläft, wenn man müde ist, sollten wir im obigen Zitat nicht so verstehen, dass man sich hängen lässt und schlapp ist, auch nicht, dass wir uns mit dem Geist in eine Müdigkeit hineindenken oder sie uns einreden, weil wir zu bequem sind, bestimmte Dinge des Alltags zu tun. Es geht vielmehr sicher um die Müdigkeit nach einem erfüllten Tag des "Handelns und Geschehen-Lassens." Die häufige Gier nach ausgewähltem Essen und Leckereien ist vermutlich auch nicht im obigen Zitat angesprochen, denn sie würde gerade den Geist verdunkeln und einengen und man könnte die "kraftvolle Energie des Essens der Mahlzeiten" nicht verwirklichen.
Die Handlungen des Alltags vollziehen sich immer im Hier und Jetzt. Dies klingt einfach und selbstverständlich, ist es aber in Wirklichkeit überhaupt nicht. So zitiert Dôgen am Ende dieses Kapitels einen berühmten Ausspruch:

"Hier ist der Ort, wo etwas (Unfassbares) existiert."

Das Hier und Jetzt können wir also nur richtig erleben und erfahren, wenn wir ein hohes Maß an Freiheit von vorgefassten Meinungen, von abstrakten Denkgebäuden und eingeprägten künstlichen Bildern haben, wenn wir genau das wahrnehmen, was direkt vor uns ist, aber gleichzeitig dieses große "Etwas" anwesend ist und mitschwingt. Dôgen beendet dieses Kapitel wie er angefangen hat:

"Kurz gesagt, ist der Alltag der Buddhas und Vorfahren nichts anderes als Tee zu trinken und Mahlzeiten zu essen. "

Freitag, 16. November 2007

Buddhas Wahrheit und die Ablehnung der abgespaltenen buddhistischen Schulen

Meister Dôgen war tief davon überzeugt, dass es nur eine einzige Wahrheit im Buddhismus gibt, die von dem Genie Gautama Buddha etwa 500 vor Christus gelehrt wurde. In diesem Kapitel "Buddhas Wahrheit" (Kap. 49, Butsudô) arbeitet er in ganz eindeutiger Weise heraus, dass es sinnlos und gefährlich ist, den Buddha-Dharma in einzelne Schulen aufzuspalten, diese zu benennen, sodass sich die jeweiligen Anhänger hinter dem Namen verschanzen, gegeneinander argumentieren und sich sogar bekämpfen. An anderer Stelle macht er deutlich, dass auch die Unterscheidung in Hinayana und Mahayana sinnlos sei, weil es sich immer nur um eine einzige große und umfassende buddhistische Lehre handelt. Er sagt im Shôbôgenzô auch, dass es nicht vertretbar ist, sich nur auf die wörtlich übermittelten alten Sûtra von Gautama Buddha zu berufen und alles andere als nicht authentisch abzulehnen.

Dôgen nennt die großen Meister in China wie Bodhidharma, Daikan Enô, Seppô, Gensa und nicht zuletzt seinen eigenen Lehrer Tendo Nyojô häufig die "ewigen Buddhas", sodass auch deren wörtliche Überlieferungen der authentische Buddha-Dharma sind. Die Übungspraxis des Zazen führt er direkt auf Gautama Buddha zurück und wir wissen heute, dass es sich dabei um Yoga-Haltungen handelt, die mit großer Wahrscheinlichkeit in der alten Indus-Kultur vor dem Eintreffen der Indo-Europäer in Indien entwickelt wurden und sich zur Zeit Buddhas bereits voll in die Kultur eingebracht und integriert hatten. Die Yoga-Haltungen wurden von den damaligen Lehrern und Heiligen den Suchenden sicher vielfach beigebracht. Gautama Buddha spricht in seinen Lehrreden auch immer davon, dass seine Schüler sich mit gekreuzten Beinen, also dem Lotussitz, an einem ruhigen und geschützten Ort, z. B. unter großen Bäumen, niederlassen sollten, um zu praktizieren. Es ist zweifellos richtig anzunehmen, dass im achtfachen Pfad zur Überwindung des Leidens die Zazenpraxis in Form des Samadhi an achter Stelle enthalten war.

Den Buddha-Dharma bezeichnet Dôgen als Schatzkammer des wahren Dharma-Auges, wobei der Begriff "Auge" unter anderem die Bedeutung hat, dass es der Kern, das Wesentliche oder die Essenz des Buddhismus ist. Dôgen betont immer wieder, dass der wahre Buddhismus von einem lebenden Meister auf den anderen übertragen worden ist, sodass es zum Beispiel von Gautama Buddha aus 33 Vorfahren im Dharma bis zu Daikan Enô gibt, und dieser als 33. Buddha bezeichnet wird. Er sagt wörtlich:

"Von Shakyamuni Buddha ausgehend bis zu Sokei (Daikan Enô) erhielten 34 Vorfahren im Dharma diese Übertragung. Jede einzelne dieser Übertragungen ist dasselbe wie die Begegnung zwischen Kashyapa und sie ist die vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Thathagata und Kashyapa. Deshalb wurde die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges immer unter vier Augen von einem rechtmäßigen Nachfolger zum nächsten weiter gegeben. Das wahre Leben des Buddha-Dharma ist nichts anderes als diese authentische Weitergabe. "

Nach dieser Feststellung ist es in der Tat widersinnig, irgendwelche buddhistischen Schulen nach früheren Meistern zu bezeichnen, die selbst überhaupt nicht daran gedacht haben, dass sich eine Schule des Buddhismus abtrennt und nach ihnen benannt wird. Dôgen rät sogar, den Begriff „Zen“ mit Vorsicht zu verwenden, damit nicht der Eindruck entsteht, es gäbe eine getrennte Zen-Schule, die sich vom authentischen Buddha-Dharma unterscheidet und eigenständig in China entwickelt worden sei. Er sagt in seiner drastischen Art:

"Menschen, die sich selbst zu einer der sogenannten Zen-Schulen zählen, sind Dämonen, die Buddhas Wahrheit herabsetzen". Er fügt hinzu, dass sie "ungebetene Feinde der Buddhas und Vorfahren" sind.

Dôgen fährt fort:
"Wer hat eigentlich die Bezeichnung Zen-Schule erfunden? Keiner der Buddhas und Vorfahren im Dharma hat diesen Namen jemals verwendet. Denkt daran, dass der Name Zen-Schule von Dämonen und Teufeln erfunden wurde. "

Er wirbt eindringlich dafür, dass man für die buddhistische Lehre den Begriff "Schatzkammer des wahren Dharma-Auges" verwendet und nichts anderes und vor allem nicht einzelne buddhistische Schulen benennt, wie dies leider auch heute häufig geschieht. Nach der ostasiatischen Formulierung wurde die authentische Weitergabe von Gautama Buddha auf den ersten Nachfolger Mahakashyapa dadurch verwirklicht, dass er eine Udumbara-Blume hochhielt und in seinen Händen drehte. Mahakashyapa erkannte als einziger diese symbolische Handlung und lächelte. Diese erste Übertragung vollzog sich also ohne Worte durch Handeln vom Lehrer auf den Schüler und Gautama Buddha sagte nach dem Lotus-Sûtra dann:

"Ich besitze die Schatzkammer des wahren Dharma-Auges und gebe sie an den Mahakashyapa weiter."

Die Übertragung ereigenete sich also im Hier und Jetzt, von Angesicht zu Angesicht und durch ein Zeichen von Gautam Buddha und wurde "mit dem Körper, mit dem Geist, mit den Knochen und dem Mark empfangen und wurde mit dem Körper, mit dem Geist, mit den Knochen und dem Mark weiter gegeben."

Es ist in der Tat einleuchtend, dass abgrenzende Bezeichnungen für verschiedene buddhistische Schulen schnell eine negative Eigendynamik entwickeln und Abgrenzungen zu anderen Schulen erzeugen. Es bilden sich dann kommunikative soziale Gruppen, die sich nicht zuletzt durch die Bezeichnung gegen über anderen Gruppen identifizieren und sich meist dadurch auch über die anderen erheben wollen. Sie behaupten dann schnell, dass sie selbst den wahren Buddhismus besäßen und versuchen zu beweisen, dass die anderen buddhistischen Schulen diese nicht haben, nicht verstehen und auf dem Holzwege seien. Es werden dann künstlich und z. T. absichtsvoll verbale Unterscheidungen heraus entwickelt, definiert und präzisiert, die oft mit der Wirklichkeit im Handeln und Denken wenig zu tun haben.

Um der jeweils eigenen buddhistischen Schule die große Bedeutung und den überlegenen Glanz der Wahrheit anzuheften, wird dann der Name eines großen Meisters aus der Geschichte des Buddhismus bemüht, um Zweifel in der eigenen Schule zu zerstreuen und die argumentative Schlagkraft gegenüber anderen Schulen zu erhöhen. Es muss hier angemerkt werden, dass derartige Entwicklungen sicher bei allen Religionen zu beobachten sind und dass dadurch schon sehr viel Unrecht, Unheil und auch Mord und Totschlag geschehen sind und begründet wurden. Wir möchten nur an manche sinnlosen Taten von Katholiken, Protestanten, griechisch-orthodoxen Christen und von Sunniten und Schiiten erinnern. Auch die Auseinandersetzungen von Juden, Christen und Moslems sind eigentlich überhaupt nicht zu begründen, weil sie sich alle auf den einen Gott und auf Moses beziehen.

Dôgen legt großen Wert auf die Folge der buddhistischen Meister in den verschiedenen Übertragungslinien, aber lehnt die Unterscheidung in die verschiedenen buddhistischen Schulen mit Nachdruck ab. Er beschreibt dabei die angeblichen vier Schulen Rinzai, Unmon, Hôgen und Sôtô und bezieht sich dabei auf seinen eigenen Meister, der die Unterschiede in den Bräuchen dieser sogenannten Schulen grundweg ablehnte. Die Namen solcher Schulen gab es in der großen Song-Zeit des Buddhismus überhaupt noch nicht, sie wurden erst später geprägt und haben zu erheblicher Verwirrung beigetragen. Auch Dôgen selbst fühlte sich keiner speziellen buddhistischen Schule, auch nicht dem Sôtô, zugehörig und hat nicht zuletzt deswegen sein Hauptwerk Shôbôgenzô als Schatzkammer des wahren Dharma-Auges bezeichnet. Er hat außerdem eine Sammlung von 301 der damals bekanntesten Koan-Geschichten zusammengestellt, die er immer wieder im Shôbôgenzô tiefgründig und oft geistig recht anspruchsvoll erläutert und an die Nachwelt weiter gibt. Diese Sammlung von 301 Koans ist in dem Werk „Shinji Shôbôgenzô“ von Nishijima Roshi im Einzelnen und recht gut verständlich kommentiert worden, und ich habe sie auch immer wieder zu den einzelnen Kapiteln herangezogen, soweit auf sie verwiesen wurde.
Meister Rinzai Gigen lebte etwa von 815 bis 867. Es gibt verschiedene Geschichten, dass es sich in der Tat um einen sehr eigenwilligen Schüler und Meister handelte und es wird berichtet, dass er von seinem eigenen Meister insgesamt sechzig Stockschläge erhielt, weil er oft in abstrakte Theorien verstrickt war, aus denen er durch Worte und Zureden nicht herausfand. Es wird berichtet, dass er auf dem Sterbelager seinem Nachfolger ans Herz legte, den wahren Buddhismus nicht zu zerstören, wenn er selbst gestorben sei und es ist völlig ausgeschlossen, dass er selbst die Rinzai-Schule des Zen-Buddhismus begründen wollte. Dôgen unterstreicht in aller Klarheit, dass wir daher auch den Begriff der „Rinzai-Schule“ nicht verwenden sollten.

Der große Meister Unmon lebte von 864 bis 949 und war ein Nachfolger des berühmten Meisters Seppô. Dôgen hält es für ausgeschlossen, dass Meister Unmon die Absicht hatte, eine eigene Schule mit seinem Namen zu gründen und sagt:
"In diesem Fall könnte man kaum sagen, dass er den Körper und Geist des Buddha-Dharma gehabt hätte. "

Meister Hôgen war ein Dharma-Enkel von Meister Gensa und lebte von 885 bis 958 und wollte ebenfalls überhaupt keine eigene Schule mit der Bezeichnung „Hôgen-Schule“ gründen. Dôgen macht deutlich, dass die Anhänger dieser beiden sogenannten Schulen Unmon und Hôgen die Nachkommen der großen Meister sind und nicht gegeneinander abgegrenzt werden können.

Die Sôtô-Linie führt Dôgen auf den großen Meister Tôzan (807 bis 869) zurück und zählt die einzelnen überragenden Meister dieser Linie bis zu Tendo Nyojô und sich selbst auf. Der Begriff „Sôtô-Schule“ wird von den Namen der großen Meister Sôzan und Tôzan abgeleitet. Er sagt wörtlich:

"Was den Namen „Sôtô“ betrifft, solltet ihr endlich klar erkennen, dass irgendein stinkender Hautsack, der einer Seitenlinie angehörte, sich selbst auf eine Stufe mit (Tôzan) stellen wollte und sich diesen Namen ausgedacht hat. Selbst wenn es wahr ist, dass die helle Sonne weithin strahlt, scheint es, als ob tiefer ziehende Wolken sie verdunkelten."

Am Ende des Kapitels kritisiert er einen Zeitgenossen mit dem Namen Chiso, der einzelne Aussagen der alten Meister aus dem Zusammenhang gerissen und sie stolz in einer besonderen Dokumentation zusammengestellt hat. Dôgen hält ein solches Vorgehen für sinnlos und gefährlich, da dadurch die Inhalte verzerrt oder unkenntlich gemacht werden und den buddhistischen Schülern damit "Steine statt Brot" gegeben wird. Auch heute gibt es zotige und flotte, angeblich authentische Aussprüche großer Meister, und ich bin sicher, dass Dôgen auch diese abgelehnt hätte. Dôgen sagt wörtlich, dass der Urheber dieses Buches nicht „Chiso“ heißen sollte, denn dies heißt „weise und klar“, sondern man sollte ihn „Gumo“ nennen, denn dies heißt „dumm und blind“.

Schließlich weist Dôgen darauf hin, dass die Bezeichnung der sogenannten buddhistischen Schulen dazu verführen kann, dass deren Anhänger meinen, dass es sich um ihren eigenen privaten Besitz handelt, so wie ein unweiser König glaubt, dass ihm das ganze Land selbst und persönlich gehört. Das Land gehört aber nicht dem König, sondern den Menschen, die darin leben, und Dôgen vermutete, dass die jeweiligen Führer nur ihre eigenen Interessen, nämlich ihre Macht und ihren Ruhm, im Auge hatten und nicht den wahren Buddha-Dharma vertreten und lehren wollen. Dôgen sagt zum Abschluss dieses Kapitels:

"Ihr solltet die Namen von Schulen weder sehen noch hören, wenn ihr das Handeln auf dem Wege eines (wahren) Schülers von Buddha wirklich authentisch empfangen und weiter geben wollt.“